Entscheidungsdatum
05.03.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W254 2225519-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr.in Tatjana CARDONA als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Syrien gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.10.2019, Zl. 1245204704-190917178, zu Recht:
A)
Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird gemäß § 3 AsylG stattgeben und XXXX der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 leg.cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin (in Folge: BF) stellte am 09.09.2019 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab sie an, dass sie Kurdin sei und dass der IS und die türkische Armee in Afrin einmarschiert sei; junge Mädchen seien verschwunden und verschleppt worden, weshalb sie Angst bekommen habe und geflüchtet sei. Am 14.10.2019 wurde sie vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen, wobei sie angab, aus Afrin zu stammen und dass sie vor dem Krieg ein normales Leben gehabt habe. Sie habe Syrien wegen der terroristischen Organisationen und dem türkischen Militär, das Afrin besetzt habe, verlassen. Mädchen seien vergewaltigt worden und Männer verhaftet. In einem leerstehenden Nachbarhaus hätten sich terroristische Gruppierungen niedergelassen, die sie belästigten und um ihre Hand angehalten hätten. Ihr Vater habe daher beschlossen sie außer Landes zu bringen.
Mit dem im Spruch genannten Bescheid wurde der Antrag der BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.), der BF jedoch der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15.10.2020 (Spruchpunkt III.) erteilt.
Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob die BF fristgerecht am 14.11.2020 Beschwerde und brachte insbesondere vor, dass die BF als Angehörige der sozialen Gruppe der jungen, unverheirateten Frauen bzw. als Kurdin nicht mehr weiter in Afrin oder einem anderen Landesteil Syriens leben könne. Sie lebe unter der ständigen Angst zwangsverheiratet zu werden und sei in ihrer Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt gewesen. Die belangte Behörde habe sich nicht mit der Situation der Kurd*innen in Afrin auseinandergesetzt.
Es werde befürchtet, dass der Truppenabzug der USA Syrien weiter destabilisiere. Die türkische Armee habe mit verbündeten syrischen Rebellen auch die mehrheitlich kurdische Region Afrin im Frühjahr erobert. Bewaffnete oppositionelle Gruppen hätten mit der Unterstützung der Türkei Übergriffe auf Zivilisten in Afrin durchgeführt. Darunter fielen Konfiszierungen und Plünderungen von Liegenschaften, willkürliche Festnahmen, Folter und andere Misshandlungen. Diese bewaffneten Gruppen hätten Afrin, ein überwiegend kurdisches Gebiet, eingenommen.
Am 18.11.2019 wurde die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, ohne von der Möglichkeit der Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die BF ist eine volljährige syrische Staatsangehörige, die der Volksgruppe der Kurdinnen angehört. Die BF ist in Österreich unbescholten. Die BF stammt auf Afrin und hat bis zu ihrer Flucht aus Syrien in Afrin gelebt. Sie hat in der zweiten Hälfte des Jahres 2019 Afrin verlassen.
Zur Situation im Herkunftsgebiet der BF (nachfolgende Feststellungen sind den von der belangten Behörde erstellten Länderinformationen der Plattform https://coi-cms.staatendokumentation.at/ (abgerufen am 04.03.2021) und der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, „Syrien Dorf Ashrafiah bei Aleppo, Afrin, Vorgehen gegen die kurdische Bevölkerung“ vom 20.12.2019 entnommen):
Afrin ist eine Stadt, sowie ein gleichnamiger Bezirk, im Gouvernement Aleppo. Am 20.1.2018 begann eine Offensive der Türkei gegen die kurdisch kontrollierte Stadt Afrin (DS 20.1.2018; vgl. DZO 23.1.2018, HRW 17.1.2019). Die Operation „Olivenzweig“ begann mit Artillerie- und Luftangriffen auf Stellungen der YPG in der Region Afrin, denen eine Bodenoffensive folgte (Presse 24.1.2018). Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) Afrin ein (Bellingcat 1.3.2019). Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.1.2019). Seit der Offensive regiert in Afrin ein Mosaik von türkisch-unterstützten zivilen Institutionen und unterschiedlichsten Rebelleneinheiten, die anfällig für innere Machtkämpfe sind (Bellingcat 1.3.2019). Von der Unabhängigen Untersuchungskommission für Syrien des UN-Menschenrechtsrates wird die Sicherheitslage in der Gegend von Afrin als prekär bezeichnet (UNHRC 31.1.2019).
Den Länderberichten ist zu entnehmen, dass bei der Eroberung Afrins im März 2018 durch türkische Truppen und ihre Verbündeten der Freien Syrischen Armee viele KurdInnen aus dem Distrikt Afrin vertrieben wurden. Ihre Häuser, Geschäfte und Grundstücke wurden geplündert und beschlagnahmt. Syrische Araber u.a. aus Ghouta zogen in die Häuser der geflohenen Kurden ein. Vielen Kurden wurde eine Rückkehr nach Afrin nicht erlaubt. Die Türkei wird laut Quellen beschuldigt, Kurden in ehemals kurdischen Mehrheitsstädten wie u.a. Afrin zu marginalisieren. Kurden werden daran gehindert, Führungspositionen zu übernehmen, die kurdische Sprache wird aus dem Lehrplan gestrichen und aus den lokalen Regierungsinstitutionen entfernt. Die Kurden stellen nicht mehr die Mehrheit in den von der Türkei besetzten Gebieten dar; die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung ist aus Angst vor Unterdrückung geflohen. Diejenigen, die geblieben sind, erlebten Plünderungen und Unterdrückung. Menschenrechtsorganisationen meldeten systematische Zerstörung der Lebensgrundlagen wie das Abbrennen von Olivenhainen, Bauernhöfen oder Lederfabriken. Lokale Aktivisten berichten über Hunderte von Vorfällen von Misshandlungen durch von der Türkei unterstützte Gruppierungen, darunter unrechtmäßige Verhaftungen, Folter und Verschwindenlassen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtet von der schwierigen humanitären Lage in Afrin sowie von Sicherheitschaos, Entführungen, Morden und bewaffneten Raubüberfällen im von türkischen Kräften und ihren Verbündeten kontrollierten Umland von Aleppo. Die UN-Untersuchungskommission für Syrien stellte fest, dass willkürliche Verhaftungen, Inhaftierungen und Plünderungen in ganz Afrin weit verbreitet sind.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen gründen auf den bereits von der belangten Behörde festgestellten Sachverhalt insbesondere zur Herkunftsregion, Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit sowie auf den von der belangten Behörde erstellten Länderinformationen zu Syrien und der Anfragebeantwortung zur Situation in Afrin (vgl. die Quellenangabe in den Feststellungen).
Nach einer am 04.03.2021 durchgeführten Nachschau auf https://syria.liveuamap.com/ befindet sich Afrin nach wie vor in der Hand der Türkei bzw. der mit dieser verbündeten Milizen. Die Feststellung der strafgerichtlichen Unbescholtenheit stützt sich auf eine Nachschau im Strafregisterauszug vom 05.03.2021.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Gemäß § 3 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 29/2020 (in Folge: AsylG), ist Asylwerbern auf Antrag der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft gemacht wurde, dass diesen im Herkunftsstaat – das ist hier im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG zweifellos Syrien – Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955 in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (in Folge: GFK), droht und dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG gesetzt hat.
Auf Grund der rechtskräftigen Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer mangels hinreichender Sachverhaltsänderung eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zur Verfügung steht (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016).
Es ist entscheidend, ob glaubhaft ist, dass dem Fremden in seinem Herkunftsstaat, mangels eines rechtlich nicht möglichen Verweises auf eine innerstaatliche Fluchtalternative, im Herkunftsgebiet Verfolgung droht. Dies ist dann der Fall, wenn sich eine mit Vernunft begabte Person in der konkreten Situation der Asylwerber unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat fürchten würde (VwGH 24.06.2010, 2007/01/1199), wobei es reicht, dass die Verhältnisse im Heimatland des Asylwerbers dergestalt sind, dass die Angst vor der vorgebrachten, drohenden Verfolgung objektiv nachvollziehbar ist (siehe VwGH 25.01.1996, 95/19/0008, wenn auch zum Asylgesetz 1991, BGBl. Nr. 8/1992 aufgehoben durch BGBl. I Nr. 76/1997, jedoch unter Bezugnahme auf den Flüchtlingsbegriff der GFK).
Es ist im Lichte der Feststellungen zur Herkunftsregion der BF glaubhaft, dass sich eine Person, die der kurdischen Ethnie angehört, fürchtet, in ein in der Hand der Türkei und mit dieser verbündeten Milizen kontrolliertes Gebiet zurückzukehren, da die Feststellungen zur Lage in diesen Gebieten nur den Schluss zulassen, dass die Türkei und mit dieser verbündeten Milizen versuchen, die Kurden in diesen Gebieten unter Einsatz von Gewalt und anderen extralegalen Mitteln zu marginalisieren, um Wohn- und Lebensraum für arabische Sympathisanten zu gewinnen. Daher liegt eine glaubhafte Verfolgungsangst aus Gründen der Zugehörigkeit zur – in der Sprache der GFK – „Rasse“ (Ethnie) der Kurden in von der Türkei und mit dieser verbündeten Milizen besetzten Ballungszentren im Nordwesten Syrien, jedenfalls in Afrin, vor.
Da keine Asylausschluss- oder -endigungsgründe vorliegen, ist der Beschwerde stattzugeben und der BF der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG kommt der BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigte für die Dauer von drei Jahren zu.
3.2. Zum Absehen von der mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Gemäß § 24 Abs 4 VwGVG kann - soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist - das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art 6 EMRK, dessen Garantien nach Art 47 Abs 2 GRC auch im vorliegenden Fall Anwendung finden, kann eine mündliche Verhandlung unter bestimmten Voraussetzungen unterbleiben, etwa wenn der Fall auf Grundlage der Akten und der schriftlichen Äußerungen der Parteien angemessen entschieden werden kann (EGMR 12.11.2002, 28.394/95, Döry vs. Schweden; 08.02.2005, 55.853/00, Miller vs. Schweden).
Der Verfassungsgerichtshof hat ausgesprochen, dass das Absehen von einer mündlichen Verhandlung - sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde - jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art 47 Abs 2 GRC steht, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (zuletzt VfGH 09.10.2018, E2449/2018).
Fallbezogen hat die belangte Behörde den vorliegenden Sachverhalt hinreichend ermittelt. Es wurden eine Erstbefragung und eine niederschriftliche Einvernahme durchgeführt. Unter Zugrundelegung weiterer Erhebungsergebnisse zum Herkunftsort der BF durch die der belangten Behörde zuzurechnende Staatendokumentation im Rahmen einer individuellen Anfragebeantwortung vom 20.12.2019 ist der Sachverhalt hinreichend geklärt, wobei die festgestellten Verhältnisse am Herkunftsort – selbst wenn konkrete gegen die BF gerichtete Verfolgungshandlungen nicht festgestellt werden konnten – entgegen der Beurteilung belangten Behörde – im Bezug auf die BF als asylrelevant zu qualifizieren waren.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; es liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren begründete Furcht vor Verfolgung ethnische Verfolgung ethnische Zugehörigkeit Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung Volksgruppenzugehörigkeit wohlbegründete FurchtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W254.2225519.1.00Im RIS seit
24.06.2021Zuletzt aktualisiert am
24.06.2021