Entscheidungsdatum
08.03.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W272 2162249-1/45E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleitungen gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien vom XXXX , Zahl XXXX , zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I., II., III. und VI. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird Maßgabe stattgegeben, dass sie zu lauten hat:
„Gem. § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung“.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 19.11.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG).
2. Am Tag der Antragstellung wurde der Beschwerdeführer einer Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes unterzogen, wobei er zunächst zu seinen persönlichen Verhältnissen angab, dass er in Afghanistan, geboren sei und XXXX heiße. Er sei am XXXX geboren und spreche Paschtu, Dari und etwas Englisch. Er sei Paschtune und sunnitischer Moslem. Er habe von 2007 bis 2014 die Schule in Kabul, im Zabiullah Esmati Lycee besucht und sei ledig. Sein Vater sei vor drei Monaten verstorben. Seine Mutter XXXX und seine beiden Brüder XXXX und XXXX sowie seine Schwestern XXXX und XXXX würden nach wie vor im Herkunftsland leben. Als Fluchtgrund gab er an, dass sein Vater vor drei Monaten von den Taliban umgebracht worden sei. Auch der Beschwerdeführer sei von den Taliban bedroht worden. Sie haben sich gezwungen gefühlt nach Kabul zu gehen. Er habe sich zuerst bei seinem Onkel versteckt, der ihm weitergeholfen habe.
3. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 17.01.2017, gab der Beschwerdeführer zunächst an, dass er Paschtune und sunnitischer Moslem sei. Er sei gesund, immer gesund gewesen und nehme keine Medikamente. Er stamme aus Afghanistan, Provinz Baghlan. Vor seiner Ausreise habe er sechs Monate in Kabul, im Stadtteil XXXX gelebt. Er habe sechs Jahre lang die Schule in Baghlan und danach sechs Monate die Schule in Kabul besucht. In Kabul sei er sechs Monate gewesen, als sein Vater verstorben sei. Als Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass sein Vater für die Amerikaner gearbeitet habe. Er habe mit einem LKW Lasten transportiert. Die Taliban hätten seinen Vater aufgefordert, die Arbeit dort zu unterlassen. Sein Vater sei der Aufforderung jedoch nicht gefolgt. Sein Vater sei in der Nähe von Kandahar, als er mit dem Auto unterwegs gewesen sei, von den Taliban entführt worden. Die Taliban wären auch zu ihnen nach Hause gekommen und hätten den Beschwerdeführer töten wollen. Ein Taliban sei zu ihnen gekommen, habe seine Mutter massiv beschimpft und gesagt, dass sie ihren Ehemann umgebracht hätten und ihren Sohn auch umbringen würden. Währenddessen habe sich der Beschwerdeführer in einem Zimmer befunden, seine Mutter habe ihm nicht erlaubt herauszukommen. Das genaue Monat, den Tag wisse er leider nicht. Sie hätten sich gezwungen gefühlt, nach Kabul zu flüchten. Als sie in Kabul gewesen seien, habe ihm seine Mutter die Grundbuchunterlagen der ihrer Grundstücke gegeben und ihn nach Kartesachy, einem Stadtteil von Kabul, geschickt. Er habe die Unterlagen abgegeben und habe die Person, zu der er geschickt worden sei, zu ihm gesagt, dass er ihn zu einem Ort bringen würde, wo er in Sicherheit sei und ihn keiner töten könne. Ob er in Kabul sicher gewesen sei wisse er nicht, seine Mutter habe ihm gesagt, dass er in Gefahr sei. Der Beschwerdeführer sei mit einigen anderen Personen zusammen in einem PKW nach Pakistan gebracht worden, von wo aus er nach Österreich geflohen sei. Ein Kontakt zu seiner Familie bestehe nicht, er wisse nicht wo sie sich befinden.
Mitvorgelegt wurde:
· Entwicklungsbericht eines Sozialarbeiters vom 02.01.2017, bemerkenswert ist, dass der Bericht darlegt, dass der BF seit der U-Haft (Entlassung 06.07.2016) nichts mehr von seiner Familie gehört habe.
· Deutsch Beratung und Einstufung vom 26.07.2016
4. Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.01.2017 wurde die gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers über den Verlust des Aufenthaltsrechtes des Beschwerdeführers gemäß § 13 Abs. 2 AsylG wegen einer eingebrachten Anklage einer gerichtlich strafbaren Handlung, die nur vorsätzlich begangen werden könne und die Verhängung der Untersuchungshaft vom 28.02.2016 bis 06.07.2016 informiert.
5. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX , GZ. 162 HV 132/2016v, vom 22.02.2017 wurde wegen des Verbrechen des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Gemäß § 43 Abs. 1 StGB wurde eine Probezeit von drei Jahren festgesetzt.
6. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.05.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde der Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde dem Beschwerdeführer unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Sowie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist. Unter Spruchpunkt IV. wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht. Unter Spruchpunkt V. wurde einer Beschwerde gegen die Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 24.01.2017 verlor (Spruchpunkt VI.).
In der Bescheidbegründung folgerte die belangte Behörde, dass nicht habe festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre bzw. eine solche zukünftig zu befürchten habe. Der Beschwerdeführer sei nie einer konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt gewesen. Es sei nicht glaubhaft, dass er die Provinz Baghlan, Distrikt Babasaheb, XXXX in Afghanistan wegen einer drohenden Verfolgung aus den Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen habe, noch, dass er derartige Verfolgung zukünftig zu befürchten hätte. Zur Situation einer Rückkehr wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan nach wie vor über familiäre Beziehungen verfüge, zumal seine Mutter, seine zwei Brüder und seine beiden Schwestern, sowie auch sein Onkel in Afghanistan leben würden. Er befinde sich im arbeitsfähigen Alter, sei arbeitswillig und beruflich flexibel, er haben in Afghanistan eine Schulausbildung genossen und sei dort dementsprechend sozialisiert. Neben seiner Muttersprache Paschtu spreche der Beschwerdeführer auch Dari. Aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit sei es ihm weiters möglich durch das Pashtunwali, dem ungeschriebenen Verhaltenskodex der Paschtunen, in Afghanistan, Anschluss zu finden. Beweiswürdigend führte die Behörde zusammengefasst aus, dass der Beschwerdeführer bloß inhaltsleere und abstrakte Behauptungen aufgestellt und keinerlei Einzelheiten und Details zu seinem Vorbringen bekannt gegeben habe. Eine aktuell drohende individuelle Gefahr einer asylrechtlich relevanten Verfolgung in Afghanistan habe er vor dem BFA somit nicht glaubhaft gemacht. In Österreich habe der Beschwerdeführer keine privaten Bindungen und habe er sein Aufenthaltsrecht seit 17.01.2017 verloren. Da im Fall des Beschwerdeführers schwerwiegende Gründe im Sinne des § 18 Abs. 1 Z 2 BFA vorliegen würden, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstelle, habe das Bundesamt die aufschiebende Wirkung aberkannt. Dabei wurde auf die rechtskräftige Verurteilung zu einer fünf monatigen Freiheitsstrafe wegen schweren Raubes und die Begehung des vorliegenden Suchtmitteldeliktes hingewiesen. Demnach bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise. Der Beschwerdeführer habe aufgrund der rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung gemäß § 13 Abs. 1 AsylG sein Aufenthaltsrecht ex lege verloren. Der Verlust des Aufenthaltsrechts sei dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung vom 14.02.2017 mitgeteilt worden. Er verfüge über kein sonstiges Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylverfahrens.
7. Gegen diesen Bescheid brachte der Beschwerdeführer im Wege seiner gesetzlichen Rechtsberatung fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, in Folge einer mangelhaften Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung, ein. Dabei wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer und auch die übrigen Familienmitglieder wegen der beruflichen Tätigkeit des Vaters in das Blickfeld der Taliban geraten seien. Weiters sei daraufhinzuweisen, dass der BF bei der Einvernahme minderjährig war und unter psychischer Belastung gestanden sei. Der Sozialbericht von 22.05.2017 zeige, dass der BF eine positive Entwicklung erfahre. Insbesondere aufgrund seiner psychotherapeutischen Behandlung und der entsprechenden Medikation.
Mitvorgelegt wurde:
· Schreiben von Betreutes Wohnen Wien vom 22.05.2017
8. Mit Beschluss des BVwG vom 23.06.2017, W247 2162249-1/3E wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
9. Mit Eingaben vom 19.12.2017, vom 20.02.2018, vom 29.03.2018, vom 10.04.2018, wurde die Verständigung der Behörde von der Verhängung der Untersuchungshaft vom 12.02.2018 sowie die gekürzten Urteilsausfertigungen und Beschlüsse des Landesgerichtes XXXX vom 22.06.2017, vom 13.03.2018, vom 22.08.2018 nachgereicht.
10. Mit Beschluss des Landesgerichtes Krems an der Donau vom 22.08.2018, AZ 25 BE 131/18 g, wurde der BF bedingt aus dem Vollzug entlassen. Die mit Urteilen des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, 1) 141 Hv 11/18, rechtskräftig mit 13.03.2018, 2) 154 Hv 53/17y, rechtskräftig mit 22.11.2017 und 3) 162 Hv 132/16v, rechtskräftig mit 27.02.2017 verhängten Freiheitsstrafen im Ausmaß von ad 1) 10 Monaten, ad 2) 5 Monaten und ad 3) 5 Monaten somit im Gesamtausmaß von 20 Monaten wurde nach Vollzug von 9 Monaten und 30 Tagen gem. § 46 Abs. 1 StGB der Rest von ad 1) 2 Monaten und 8 Tagen, ad 2) 2 Monaten und 22 Tagen und von ad 3) 5 Monaten bedingt nachgesehen und der BF daher am 01.10.2018 bedingt entlassen.
11. Am 08.08.2019 wurde seitens des Bundesamtes die Verständigung, dass gegen den Beschwerdeführer durch die Staatsanwaltschaft Wien vom 02.08.2019, wegen vorsätzlich begangener strafbaren Handlungen Anklage wegen §§ 27 (1) Z 1 1.Fall, 27 (1) Z 1 2. Fall SMG erhoben wurde, an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.
12. Am 12.03.2020 wurde eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG durchgeführt. Im Rahmen der Verhandlung wurde vorgelegt:
Mitvorgelegt wurde:
· Teilnahmebestätigung A1 Prüfungsvorbereitung
· Anmeldebestätigung Deutschkurs B1
· Teilnahmebestätigung Deutsch vom 22.10.2018 – 30.6.2019
· Kursbestätigung Stadt Wien; Integration ab Tag 1, vom 19.10.2017
· Pflichtabschlusskurs Bestätigung vom 14.12.2017
· Psychiatrischer Befund vom 5.3.2019
· Psychiatrischer Befund vom 8.7.2019
· Psychiatrischer Befund vom 2.3.2020
· Erfahrungsbericht vom 4.3.2020
· Mitteilung Bewährungshilfe vom 6.3.2020
13. Mit Schreiben vom 20.03.2020 wurde mitgeteilt, dass der BF sich beim Verein Dialog um einen Betreuungsplatz beworben hat und aktuell eine Betreuung nur telefonisch stattfinde. Aufgrund der Coronapandemie werden keine Harntests durchgeführt.
14. Mit Schreiben vom 17.08.2020 wurde die Therapiebestätigung durch „Grüner Kreis“ für den BF aufgrund des Beschlusses des BG Leopoldstadt nach § 39 SMG vorgelegt. Der BF unterzieht sich einer gesundheitsbezogenen Maßnahme nach § 11 SMG.
15. Mit Schreiben vom 02.10.2020 wurde vorgelegt:
· Stellungnahme des Grünen Kreises bezüglich der ambulanten Behandlung nach § 11 SMG
· Stellungnahme des psychosozialen Zentrums vom 29.09.2020 mit psychiatrischen Befundbericht (Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode ohne psychotische Symptome, verordnete Medikation Sertralin 100 mg. 1-0-0, Quetiapin 25 mg 0-0-0-1)
16. Mit Schreiben vom 07.10.2020 wurde mitgeteilt, dass der BF mit Urteil vom Bezirksgericht Leopoldstadt 39 U 52/19 i, vom 06.03.2020, rechtskräftig 10.03.2020, wegen § 27 Abs. 1 Z1 1. und 2. Fall (2) SMG zu einer Freiheitstrafe von drei Monaten verurteilt wurde. Der BF hat vorschriftswidrig Suchtgift am 19.07.2019, nämlich 28 Baggies Cannabiskraut erworben und besessen, wobei er die Straftat nicht ausschließlich zum persönlichen Gebrauch beging. Strafbemessungsgründe waren erschwerend drei einschlägige Vorstrafen und mildernd das teilweise Geständnis zu zwei Baggies und die Tatbegehung unter 21 Jahren.
17. Mit Schreiben vom 13.11.2020 wurde ein Zeugnis des ÖIF Deutsch Sprachniveau B1 sowie den Werte- und Orientierungskurs vorgelegt.
18. Mit Eingabe vom 15.02.2021 wurde wiederum eine Bestätigung vorgelegt, dass der BF beim Grünen Kreis seit 17.08.2020 in ambulanter Behandlung ist. Der BF unterziehe sich aufgrund des Beschlusses, AZ 39 U 52/19i, nach § 29 SMG vom Landesgericht Wien einer gesundheitsbezogenen Maßnahme nach § 11 SMG. Weiters wurde vorgelegt, ein psychiatrischer Befund, in welchem bestätigt wird, dass der BF seit 04.03.2019 im Rahmen des ESRA-AK-Projektes in ambulanter psychiatrischer Behandlung ist. Der BF leide an depressive Stimmungsschwankungen und Schlafstörungen. Er lebe zurückgezogen und habe Angst auf der Straße vor der Polizei wieder kontrolliert zu werden, was bei ihm Angstzustände hervorrufe. Eine fachärztlich-medikamentöse Weiterbehandlung sei indiziert. Es werden folgende Diagnosen gestellt: F33.1 Rezidivierende depressive Störungen, gegenwärtig mittelgradige Episode, F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung, F51.0 Nichtorganische Insomnie. Der BF erhält folgende Medikamente: Sertralin 1A Pharma 100 mg – Filmtabletten 1.0 – 0.0 – 0.0 – 0.0 und Quetiapin 1 A Pharma 25 mg – Filmtabletten 0.0 – 0.0 – 0.0 – 1.0.
19. Weiters wurde vorgelegt ein Bericht von NEUSTART vom 06.03.2020, in welchem dem BF bescheinigt wird, dass er einen Deutschkurs (B1) besuche, er kooperativ und offen sei. Zentrale Themen seien die schulischen und beruflichen Ziele, sowie der Umgang mit der Unsicherheit hinsichtlich seines Aufenthaltsstatus. Der BF zeige sich hinsichtlich seiner Delikte einsichtig. Er möchte einen Schulabschluss absolvieren, eine Lehre beginnen und ein eigenständiges, deliktfreies Leben führen.
20. Am 02.03.2021 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG, in welcher der BF ein Empfehlungsschreiben von XXXX vorlegte.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Der Beschwerdeführer wurde spätestens am XXXX geboren. Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan, in der Provinz Baghlan, im Distrikt Baba Saheb, im Dorf XXXX geboren, wo er bis auf sechs Monate vor seiner Ausreise, wo er in Kabul aufhältig war, durchgehend gelebt hat. Der BF kennt und lebte die afghanische Kultur. Er ist in Afghanistan geboren, aufgewachsen und hat dort sieben Jahre die Schule besucht. Der Beschwerdeführer beherrscht die Sprache Paschtu und Dari. In seinem Herkunftsland verfügt der Beschwerdeführer über mehrere Verwandte. So leben seine Mutter und seine Geschwister, zwei Schwestern und zwei Brüder, und ein Onkel, der die Familie finanziell unterstützt, in Afghanistan. Darüber hinaus verfügt der Beschwerdeführer über weitere Verwandte in Afghanistan, zu denen jedoch kein Kontakt besteht. Der Beschwerdeführer lebte gemeinsam mit seiner Familie in Baghlan. Die letzten sechs Monate vor seiner Ausreise lebte er mit seinen Angehörigen in einer Mietwohnung in Kabul. Die wirtschaftliche Situation war gut.
Der BF ist grundsätzlich seinem Alter entsprechend entwickelt und arbeitsfähig.
Er leidet nicht an einer schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankung.
Der Beschwerdeführer nimmt Suchtmittel und leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, rezidivierenden Störung und Schlafstörungen und nichtorganische Insomnie, er steht in psychiatrischer Behandlung und nimmt Medikamente - morgens Setralin und abends Quetiapin. Der BF ist in keinem Drogensubstitutionsprogramm. Der Beschwerdeführer leidet an keiner schwerwiegenden oder gar lebensbedrohenden gesundheitlichen Beeinträchtigung. Der BF besucht die psychotherapeutische Einrichtung beim Verein Grünen Kreis, aufgrund des gerichtlichen Beschlusses nach § 39 SMG vom BG Leopoldstadt, AZ 39 U52/19i, und unterzieht sich einer gesundheitsbezogenen Maßnahme nach § 11 SMG und steht seit 17.08.2020 in ambulanter Therapie und Kontrolle.
Der BF ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, er hat sich nicht politisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsland.
Der Beschwerdeführer wurde in Österreich fünfmal rechtskräftig verurteilt:
Landesgericht XXXX , GZ. 162 HV 132/2016v, vom 22.02.2017, rechtskräftig am 27.02.2017 wegen dem Verbrechen des Raubes nach § 142 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren (Jugendstrafhaft). Zudem wurde eine Bewährungshilfe angeordnet. Der BF hat mit fünf anderen Personen, mit Gewalt gegen eine Person durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben (§ 89 StGB), einem anderen eine Geldbörse samt Bargeld in der Höhe von rund EUR 210,-- und eine Halskette im Wert von rund EUR 400,-- sowie sein Mobiltelefon der Marke SAMSUNG im Wert von rund EUR 40,--, indem einer ihm eine Getränkedose mit nicht mehr feststellbaren Füllstand in den Nackenbereich schlug, einer der unbekannten Täter dem Opfer mit der Faust auf den Kopf schlug und ihn gegen die Wand stieß, drei Täter und später auch der BF das Opfer zu Boden drückte und das Opfer weiter geschlagen wurde, wobei ein Täter auch eine vermeintliche Schusswaffe, tatsächlich eine Spielzeugpistole, zeigte, um das Opfer weiter einzuschüchtern, während einer der unbekannten Täter dem Opfer die Geldbörse und ein Täter ihm das Mobiltelefon wegnahm und daraufhin alle flüchteten. Mildernd waren das Geständnis und die Unbescholtenheit, erschwerend kein Umstand.
Landesgericht XXXX , GZ. 163 HV 39/2017a, vom 24.05.2017, rechtskräftig am 25.05.2017 wegen § 27 (2a) SMG zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren (Jugendstrafhaft).
Landesgericht XXXX , GZ. 154 HV 43/2017y, vom 07.11.2017, rechtskräftig am 22.11.2017 wegen § 12 3.Fall StGB, § 27 (2a) 2.Fall SMG, § 15 StGB SMG zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren (Jugendstrafhaft). Der BF hat einer anderen Person beim Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 2a 2. Fall SMG, 15 StGB beigetragen, indem er Aufpasserdienste leistete, indem er sich mehrmals hinkniete und dabei die Umgebung beobachtete. Erschwerend war der rasche Rückfall, die Begehung innerhalb offener Probezeit, mildernd, dass es teilweise Versuch blieb.
Landesgericht XXXX , GZ 141 Hv 11/18y, vom 13.03.2018, rechtskräftig am 13.03.2018, wegen § 27 Abs. 2a SMG zu einer Freiheitstrafe von zehn Monaten verurteilt. Der BF hat vorschriftswidrig Suchtgift und zwar Marihuana (beinhaltend die Wirkstoffe Delta-9-THC und THCA) anderen an einem allgemein zugänglichen Ort, im Wahrnehmungsbereich von zumindest zehn Personen öffentlich gegen Entgelt überlassen. Strafbemessungsgründe mildernd; reumütiges Geständnis, das Alter unter 21 Jahren zur Tatzeit, die Sicherstellung des tatverfangenen Suchtgiftes, erschwerend; die einschlägige Vorstrafenbelastung, der neuerliche rasche Rückfall, die Begehung während eines offenen Strafaufschubes.
Mit Beschluss des Landesgerichtes Krems an der Donau 25 BE 131/18g vom 22.08.2018 wurden zu den Urteilen vom Landesgericht für Strafsachen Wien 141 Hv 11/18 Rk 13.03.2018, 154 Hv 53/17y RK 22.11.2017 und 162 Hv 132/16 v RK 27.02.2017 verhängten Strafen im Ausmaß von insgesamt 20 Monaten nach der Verbüßung eines Teils der verhängten Freiheitsstrafen, der Rest der Strafe im Gesamtausmaß von 9 Monaten und 30 Tagen am 01.10.2018 bedingt nachgesehen. Die Probezeit wurde mit drei Jahren bestimmt. Dem Entlassenen wurde die Weisung erteilt, den Schulbesuch in der Bildungsdrehscheibe Graumanngasse oder einer vergleichbaren Einrichtung fortzusetzen und dies dem Gericht zum 20.10.2018 und sodann 20.12.2018, 20.02.2019, 20.04.2019, 20.06.2019, 20.09.2019 und sodann halbjährlich nachzuweisen.
Bezirksgericht Leopoldstadt 39 U 52/19 i, vom 06.03.2020, rechtskräftig 10.03.2020, wegen § 27 Abs. 1 Z1 1. und 2. Fall (2) SMG zu einer Freiheitstrafe von drei Monaten verurteilt. Der BF hat vorschriftswidrig Suchtgift am 19.07.2019, nämlich 28 Baggies Cannabiskraut erworben und besessen, wobei er die Straftat nicht ausschließlich zum persönlichen Gebrauch beging. Strafbemessungsgründe waren erschwerend drei einschlägige Vorstrafen und mildernd das teilweise Geständnis zu zwei Baggies und die Tatbegehung unter 21 Jahren. Die mit Urteil zur AZ 163 HV 39/17a LG für Strafsachen Wien gewährte bedingte Nachsicht der Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten wurde widerrufen. Von dem Widerruf der mit Beschluss des Landesgerichtes Krems an der Donau zu 25 BE 131/2018g (nunmehr 185 BE 233/2018i des LG für Strafsachen Wien) gewährte bedingte Entlassung wurde abgesehen, allerdings die Probezeit zu dieser bedingten Entlassung, mittlerweile geführt vom LG für Strafsachen Wien zu 185 BE 233/18 i auf 5 Jahre verlängert. Dem BF wurde ein Strafaufschub gem. § 39 SMG genehmigt.
Der BF war vom 10.02.2018 bis 01.10.2018 in U- bzw. Strafhaft.
Der BF hat in Österreich keine Familienangehörigen und hat wenig Kontakte mit anderen Österreichern und Türken. Er hat in Österreich einzelne Kurse darunter Deutschkurse besucht. Der Beschwerdeführer besuchte einen Pflichtschulabschlusskurs bei „PROSA-Projekt Schule für ALLE!“ im Jahr 2017. Von 22.10.2018 bis 30.06.2019 besuchte er das Jugendcollege mit dem Kursinhalt Deutsch als Zeitsprache, Mathematik, kritische Partizipation, Berufsorientierung, Kreativität und Gestaltung. Der BF geht in Österreich keinen kulturellen oder sozialen Aktivitäten nach. Der BF organisiert seinen Alltag selbst und betreibt Sport. Er lebt von der Grundversorgung. Der BF will sich in Österreich weiter integrieren und weitere Ausbildungen, als Elektriker, absolvieren. Der BF hat die Deutschprüfung B1 positiv absolviert und will den B2-Kurs besuchen.
Der Beschwerdeführer reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 19.11.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF wird nicht wegen Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht oder verfolgt. Insbesondere wird nicht festgestellt, dass der Beschwerdeführer einer konkreten Verfolgung bzw. Bedrohung von Seiten der Taliban als auch durch den afghanischen Staat bzw. aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie ausgesetzt war. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Vater von den Taliban entführt wurde.
Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan aufgrund der Tatsache, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung und den weiteren psychischen Beeinträchtigungen leidet, keiner psychischen oder physischen Gewalt ausgesetzt.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:
Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wird der BF aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter nicht bedroht.
Weiters kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer auf Grund der Tatsache, dass er sich in Europa aufgehalten hat bzw., dass er als afghanischer Staatsangehöriger, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, deshalb in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre.
Bezüglich der Rückkehr nach Afghanistan in die Provinz Baghlan wird festgestellt, dass der Distrikt volatil ist, zumal es vermehrt Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Aufständischen gibt. Aufständische der Taliban sind in gewissen unruhigen Distrikten aktiv, in denen sie oftmals terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitsinstitutionen durchführen Dem BF ist es daher mit der dementsprechenden Wahrscheinlichkeit nicht möglich ohne Gefahr einen ernstlichen Schaden zu erleiden dort anzusiedeln.
Es ist es ihm möglich in anderen Städten wie Mazar-e Sharif oder Herat zurückzukehren bzw. als innerstaatliche Fluchtalternative wahrzunehmen.
Dem BF steht eine Rückkehr in diese beiden Städte Mazar-e-Sharif oder Herat zur Verfügung, obwohl in diesen beiden Städten eine angespannte Situation vorherrschen. Es ist ihm möglich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können, bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF würde bei seiner Rückkehr in eine dieser Städte kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und zumindest vorrübergehend verschiedene Hilfsprogramme in Anspruch nehmen, die ihn bei der Ansiedlung in Mazar- e Sharif oder Herat unterstützen. Die Notwendigkeit des Vorhandenseins eines persönlichen Ausweises/Dokumentes ist nicht gegeben.
Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Weiters werden ihn auch die Hilfen durch die afghanische Regierung und internationale Organisationen bei der Ansiedelung unterstützen. Da der BF keine physischen gesundheitlichen Einschränkungen hat und keine Vorerkrankungen ist nicht davon auszugehen, dass der BF durch eine etwaige Erkrankung an das COVID-19 Virus eine schwere Erkrankung oder gar den Tod erleiden würde. Das Gesundheitssystem ist intakt. Der BF kann eine psychologische und psychiatrische Betreuung im Heimatstaat erlangen.
Kabul ist sicher über den internationalen Flughafen zu erreichen. Die Städte Mazar-e-Sharif und Herat sind von Österreich aus sicher über Kabul mit dem Flugzeug zu erreichen. Die Städte sind über die jeweiligen Flughäfen sicher zu erreichen. Die Rückführung nach Afghanistan wird von Österreich organisiert
1.4. Zum Herkunftsstaat:
Das BVwG trifft folgende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat unter Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019 und Teilaktualisierung am 16.12.2020:
„Länderspezifische Anmerkungen
Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (12.2020) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.
Letzte Änderung: 14.12.2020
Covid-19
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: // www.who.int/ emergencies/ diseases/nov el-coronav irus-2019/ situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https:// gisanddata.maps.arcgis.com/apps/ opsdashboard/index.html#/ bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (AfghanMoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban:
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt.
Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien,Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten.
Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).
4 Politische Lage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelte Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60????000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).
5 Sicherheitslage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020). Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020).
Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu(SIGAR 30.7.2020).
Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).
Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020)
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Solda