Entscheidungsdatum
10.03.2021Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22Spruch
W102 2196020-1/14E
W102 2196005-1/13E
W102 2196019-1/17E
W102 2196007-1/13E
W102 2196012-1/13E
W102 2196015-1/12E
W102 2225615-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner ANDRÄ als Einzelrichter über die Beschwerde von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX , 4. XXXX , geb. XXXX , 5. XXXX , geb. XXXX , 6. XXXX , geb. XXXX , und 7. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, alle vertreten durch Mag. Dr. Helmut BLUM LL.M., Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, vom 17.04.2018, 1. Zl. XXXX , 2. Zl. XXXX , 3. Zl. XXXX und 4. Zl. XXXX , 5. Zl. XXXX , 6. Zl. XXXX sowie vom 05.11.2019, 7. Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.02.2021 zu Recht erkannt:
A) I. Der Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan wird stattgegeben und dieser gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , geb. XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
II. Den Beschwerden von XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX und XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan wird stattgegeben und diesen gemäß §§ 3 und 34 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX und XXXX , kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Zweitbeschwerdeführerin reiste mit ihrem Ehemann (dem Erstbeschwerdeführer) und drei ihrer minderjährigen Kinder (Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer), alle afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Hazara (Sayed), unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein. In der Folge stellte die Familie am 02.12.2015 erstmals im Bundesgebiet Anträge auf internationalen Schutz. Die minderjährigen Sechst- und Siebtbeschwerdeführer wurden in Österreich geboren und in Folge Anträge auf internationalen Schutz für sie gestellt.
Im Rahmen der Erstbefragung am 03.12.2015 gaben der Erstbeschwerdeführer sowie die Zweitbeschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen befragt an, dass sie Afghanistan vor drei Jahren verlassen hätten, weil die Taliban ihre landwirtschaftlichen Gründe weggenommen hätten. Sie hätten dann illegal im Iran gelebt. Die Kinder hätten die Schule nicht besuchen können und der Erstbeschwerdeführer habe keiner ordentlichen Arbeit nachgehen können.
In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 24.01.2018 führten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass der Erstbeschwerdeführer von zwei Männern auf Motorrädern angehalten worden sei. Diese hätten ihn gefragt, wer bzw. wo seine Ehefrau sei, weil die Zweitbeschwerdeführerin Angehörige der Sayed sei. Das Ziel der unbekannten Männer sei gewesen, die Sayeds - denen die Beschwerdeführer angehören - zu vernichten. Sie hätten den Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin zusammengeschlagen, bis dieser bewusstlos gewesen sei.
2. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 17.04.2018 sowie vom 05.11.2019 wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführer hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, dass eine Gefährdung aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit der Beschwerdeführer nicht vorliege.
3. Gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.05.2018 richtet sich die am selben Tag bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde.
Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 12.10.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache der bis dahin zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und in der Folge der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.
Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 16.02.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführer, ihr bevollmächtigte Rechtsvertreterin und eine Dolmetscherin für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde nahm nicht teil.
Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurden die Beschwerdeführer zu ihrem Leben in Österreich befragt.
Mit Schreiben vom 19.02.2021 legten die Beschwerdeführer Unterlagen hinsichtlich ihrer Integration in Österreich vor.
Die Beschwerdeführer legten im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
BF1:
? Tazkira
? ÖSD Zertifikat A1 und A2
? Diverse Deutschkursbestätigung B1, A2 und A1
? Bestätigung ehrenamtliche Tätigkeiten des XXXX vom 11.01.2018 und vom 09.02.2021
? Bestätigung gemeinnützige Tätigkeit XXXX
? Empfehlungsschreiben XXXX vom 22.01.2018
? Empfehlungsschreiben XXXX vom 17.01.2018
? Empfehlungsschreiben XXXX vom 11.11.2018 und vom 12.02.2021
? Unterstützungsschreiben Volksschuldirektorin XXXX der XXXX vom 12.02.2021
? Unterstützungsschreiben XXXX , Gemeindeamtsleiter der Gemeinde XXXX in Pension, vom 04.02.2021
? Empfehlungsschreiben XXXX vom Februar 2021
? Empfehlungsschreiben XXXX und XXXX
? Empfehlungsschreiben XXXX vom 03.02.2021
? Empfehlungsschreiben XXXX . vom 12.02.2021
BF2:
? ÖSD Zertifikat A1 mündliche Prüfung (sehr gut bestanden) vom 07.05.2019
? Diverse Deutschkursbestätigungen A1
? Bestätigung gemeinnützige Tätigkeit XXXX
? Empfehlungsschreiben XXXX vom 22.01.2018
? Empfehlungsschreiben XXXX vom 17.01.2018
? Empfehlungsschreiben XXXX vom 11.11.2018 und vom 12.02.2021
? Unterstützungsschreiben Volksschuldirektorin XXXX der XXXX vom 12.02.2021
? Unterstützungsschreiben XXXX , Gemeindeamtsleiter der Gemeinde XXXX in Pension, vom 04.02.2021
? Empfehlungsschreiben XXXX vom Februar 2021
? Empfehlungsschreiben XXXX und XXXX ? Empfehlungsschreiben XXXX vom 03.02.2021
BF3:
? Unterstützungsschreiben Direktorin XXXX der Polytechnischen Schule XXXX vom 15.02.2021
? Zeitungsausschnitt betreffend Taekwando ( XXXX Meisterschaft)
? Bewerbungsschreiben um Lehrstelle als KFZ-Techniker bei XXXX vom 15.02.2021
? Schnupperzeugnis Berufspraktische Tage XXXX
? Schnupperzeugnis Berufspraktische Tage XXXX vom 12.02.2021
? Lebenslauf
? Stellungnahme Streetwork XXXX über ehrenamtliche Arbeit vom 11.02.2020
? Bestätigung Mitgliedschaft XXXX Sektion Fußball, vom 11.02.2020
BF4:
? Unterstützungsschreiben Direktroin XXXX und XXXX des XXXX vom 04.02.2021
? Schulnachricht des XXXX vom 05.02.2021
? Bestätigung Training Taekwando Verein XXXX vom 04.02.2021
? Zeitungsausschnitt betreffend Taekwando ( XXXX Meisterschaft)
? Bestätigung Mitgliedschaft Jugend-Feuerwehrmitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr XXXX vom 12.02.2021
? Bestätigung Mitgliedschaft Spielerkader der XXXX vom 11.02.2021
BF5:
? Schulbesuchsbestätigung XXXX vom 04.02.2021
? Unterstützungsschreiben Volksschuldirektorin XXXX der XXXX vom 12.02.2021
? Schulnachricht XXXX vom 05.02.2021
? Bestätigung Mitgliedschaft Spielerkader der XXXX vom 08.02.2021
BF6:
? Geburtsurkunde
BF7:
? Geburtsurkunde
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu Person und Lebensumständen im Herkunftsstaat
Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan und Angehörige der Volksgruppe der Hazara (Sayed). Sie bekennen sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Ihre Muttersprache ist Dari.
Der Erstbeschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX in der Provinz Daikundi geboren.
Die Zweitbeschwerdeführerin trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX im Dorf XXXX in der Provinz Daikundi geboren, wo sie bis zu ihrer Hochzeit lebte. Die Zweitbeschwerdeführerin hat bis zu ihrer Einreise ins Bundesgebiet keine Schule besucht und ist Analphabetin. Sie war bis dahin im Haushalt und mit der Kindererziehung beschäftigt.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und haben fünf gemeinsame Kinder (Dritt- bis Siebtbeschwerdeführer). Die Familie lebte bis ca. XXXX in Afghanistan und von XXXX bis XXXX im Iran.
Der Drittbeschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX in Afghanistan geboren.
Der Viertbeschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX in Afghanistan geboren.
Der Fünftbeschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX im Iran geboren.
Der Sechstbeschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX in Österreich geboren.
Die Siebtbeschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX in Österreich geboren.
Die ganze Familie lebt in einem gemeinsamen Haushalt und bezieht Grundversorgung.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Lebensumständen der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich
Seit ihrer Einreise hat die Zweitbeschwerdeführerin mehrere Deutschkurse auf Niveau A1 besucht und die mündliche Prüfung des A1-ÖSD Zertifikat mit „Sehr gut“ bestanden.
Die Zweitbeschwerdeführerin bringt sich aktiv in das öffentliche Leben in ihrer Wohnsitzgemeinde ein. So ist sie beispielweise ehrenamtlich in ihrer Wohnsitzgemeinde tätig und half unter anderem bei diversen Kulturveranstaltungen im Rahmen der Vorbereitung und Abwicklung mit. Sie engagiert sich im Elternverein in der Schule ihrer Kinder und arbeitete wöchentlich in einem Team mit anderen Eltern am Pausen-Buffet mit.
Sie nimmt zudem an den Elternsprechtagen in den Schulen ihrer Kinder teil, begleitet ihre Kinder zu den Trainingseinheiten in verschiedenen Sportvereinen (Fußball, Taekwando) und steht in regelmäßigen Kontakt mit den Lehrern und Eltern der Schulfreunde ihrer Kinder.
Die Einkäufe für Kleidung erledigt die Zweitbeschwerdeführerin alleine oder in Begleitung ihrer Kinder. Über die Angelegenheiten ihrer Familie weiß die Zweitbeschwerdeführerin bestens Bescheid. Die Zweitbeschwerdeführerin hat klare Vorstellungen über die Zukunft ihrer Familie und möchte, dass ihre Kinder ihre Lebensentscheidungen selbst treffen.
Für die Zukunft hat die Zweitbeschwerdeführerin den Wunsch – sobald ihre Tochter den Kindergarten besucht – ihre Deutschkenntnisse zu verbessern und als Altenpflegerin oder in der Gastronomie zu arbeiten.
Dass ihre einzige Tochter die Schule besuchen, einen Beruf ergreifen, ihre Lebensentscheidungen selbst treffen und sich frei bewegen kann, ist der Zweitbeschwerdeführerin sehr wichtig.
Die Zweitbeschwerdeführerin hat während ihres Aufenthaltes in Österreich eine auf ein selbstbestimmtes Leben hin orientierte Lebensführung angenommen, lebt ihr Leben nicht nach afghanisch-konservativer Tradition und kann sich eine am afghanischen Frauenbild ausgerichtete Lebensführung auch nicht vorstellen. Ihre Lebensweise ist Bestandteil der Identität der Zweitbeschwerdeführerin, die sie im Fall der Rückkehr nicht aufrechterhalten könnte.
Im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat würde sie aufgrund ihrer persönlichen und gelebten Werthaltung vom dortigen konservativen Umfeld als Frau angesehen, die ihren Lebensstil am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert und soziale und religiöse Normen überschreitet. Aus diesem Grund drohen der Zweitbeschwerdeführerin im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Übergriffe durch private bzw. auch staatliche Akteure.
Dass die afghanischen Behörden die Zweitbeschwerdeführerin vor diesen Übergriffen schützen wollen bzw. können, ist nicht zu erwarten.
Auch durch Niederlassung in einem anderen Landesteil kann sich die Zweitbeschwerdeführerin den zu erwartenden Übergriffen nicht entziehen.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu Person und Lebensumständen der Beschwerdeführer
Die Feststellungen zu Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit und Muttersprache der Beschwerdeführer ergeben sich aus deren gleichbleibenden und plausiblen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Auch die belangte Behörde ging vom Zutreffen der diesbezüglichen Angaben aus.
Die Feststellungen zu Identität, Geburtsdaten und Geburtsorten sämtlicher Beschwerdeführer basieren auf deren gleichbleibenden Angaben im Verfahren. Auch die Feststellung, dass die Zweitbeschwerdeführerin Analphabetin ist, hat sie durchgehend angegeben. Die Feststellung, dass die Zweitbeschwerdeführerin keine Schule besucht hat und Analphabetin war, beruht auf ihren Angaben. In der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 24.01.2018 zu Erwerbstätigkeit und Schulbesuch befragt, gab die Zweitbeschwerdeführerin an, sie habe keine Schule besucht und sei immer Hausfrau gewesen (Einvernahmeprotokoll der Zweitbeschwerdeführerin vom 24.01.2018, S. 6). Auf diesen plausiblen Angaben beruht auch die entsprechende Feststellung.
Die Feststellung, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin verheiratet sind und fünf gemeinsame Kinder (Dritt- bis Siebtbeschwerdeführer) haben, beruht auf den durchgehend gleichbleibenden und plausiblen Angaben aller Familienmitglieder. Auch die belangte Behörde erachtete diese Angaben für glaubhaft und legte sie ihrer Entscheidung zugrunde. Die Feststellung, dass die Familie bis ca. XXXX in Afghanistan und anschließend drei Jahre im Iran gelebt habe, bevor sie nach Österreich ausgereist sei, beruht auf den gleichbleibenden Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin (Einvernahmeprotokoll der Zweitbeschwerdeführerin vom 24.01.2018, S. 6).
Die Feststellung zum gemeinsamen Haushalt ergibt sich aus den gleichbleibenden Angaben der Beschwerdeführer sowie den diese Angaben bestätigenden aktuellen, im jeweiligen Akt einliegenden Auszügen aus dem zentralen Melderegister.
Die Feststellungen zur Unbescholtenheit der erwachsenen Beschwerdeführer ergibt sich aus den in den jeweiligen Akten einliegenden Strafregisterauszügen.
2.2. Zu den Lebensumständen der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich
Die Feststellung zum von der Zweitbeschwerdeführerin besuchten Kursangebot sowie der absolvierten mündlichen Prüfung ergibt sich aus den von ihr vorgelegten Teilnahmebestätigungen. Nach den Angaben des Erstbeschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung lernt sie aktuell Deutsch über Youtube, weil coronabedingt derzeit keine Deutschkurse abgehalten werden (Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 16.02.2021, S. 5 und S. 8). Hervorzuheben ist, dass die Zweitbeschwerdeführerin noch nie eine Schule besucht hat, Analphabetin ist und fünf minderjährige Kinder hat, wovon die beiden jüngsten Kinder im Alter von eineinhalb bzw. viereinhalb sind. Dass sie dennoch, teilweise mit Kleinkind, die Deutschkurse besucht hat, und nach wie vor versucht, sich weiterzubilden, zeigt den starken Willen der Zweitbeschwerdeführerin, dass sie trotz aller Hürden und im Rahmen ihrer Möglichkeiten um Bildung bemüht ist, am öffentlichen Leben teilnehmen möchte und hierbei den Spracherwerb als grundlegende Voraussetzung erkennt. Dies betonte die Zweitbeschwerdeführerin auch selbst in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, dass sie – sobald ihr jüngstes Kind den Kindergarten besuchen kann – zunächst wieder Deutschkurse besuchen möchte (Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 16.02.2021, S. 6).
Die Feststellung zur Mitarbeit an diversen Veranstaltungen sowie in den Schulen ergibt sich aus den vorgelegten Empfehlungsschreiben (Dokumentenvorlage vom 19.02.2021). Auch der pensionierte Gemeindeamtsleiter berichtet in seinem Empfehlungsschreiben von der Teilnahme aller Familienmitglieder an den lokalen Veranstaltungen und am öffentlichen Leben.
Die Teilnahme am öffentlichen Leben aller Beschwerdeführer ergibt sich ebenfalls aus den zahlreichen vorgelegten Empfehlungsschreiben sowie den Bestätigungen der diversen Sportvereine, der Freiwilligen Feuerwehr sowie den Unterstützungsschreiben der Schulleiterinnen der minderjährigen Beschwerdeführer (Dokumentenvorlage vom 19.02.2021).
Insgesamt ergibt sich daraus, dass die Zweitbeschwerdeführerin sich engagiert und stark in das lokale öffentliche Leben einbringt und ihren Aktionsradius damit bereits deutlich über den für Frauen im Herkunftsstaat üblichen Rahmen hinaus ausgedehnt hat, auch wenn sie bedingt dadurch, dass ihr im Herkunftsstaat grundlegende Bildung verwehrt wurde, was heute noch zu Barrieren - etwa beim Spracherwerb - führt, die ihr grundsätzlich offen stehenden Möglichkeiten im Bundesgebiet noch nicht voll ausschöpfen kann.
Zur Feststellung, dass die Zweitbeschwerdeführerin sich allein oder in Begleitung ihrer Kinder um die Einkäufe der Familie kümmert, ist auszuführen, dass die Zweitbeschwerdeführerin dies in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht angab (Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 16.02.2021, S. 5) und dabei einen souveränen und selbstständigen Eindruck machte in dem sich insbesondere ausdrückte, dass es in ihrer Lebensführung selbstverständlich ist, dass sie sich (auch ohne ihren Mann oder ihre Kinder) in einem größeren Radius bis in die nächste Stadt bewegt, um etwa Lebensmittel oder Mode einzukaufen.
Die Berufsvorstellungen der Zweitbeschwerdeführerin (Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 16.02.2021, S. 6) zeigen deutlich, dass sich die Zweitbeschwerdeführerin mit ihren beruflichen Chancen bereits intensiv auseinandergesetzt hat und vor dem Hintergrund ihrer Fähigkeiten und des Bedarfs am Arbeitsmarkt eine Entscheidung getroffen hat. Diesbezüglich ist zudem auszuführen, dass sie im Zuge der mündlichen Verhandlung den persönlichen Eindruck deutlich vermitteln konnte, dass ihr ihre eigene Berufstätigkeit sehr am Herzen läge, dass ihr jedoch auch ins Bewusstsein eingeschrieben ist, dass ihre fehlende Schuldbildung und ihre dadurch bedingten Schwierigkeiten beim Erwerbs der deutschen Sprache dem zumindest im Wege stehen, weswegen sie sich einerseits - wie bereits oben ausgeführt - um ihren eigenen Spracherwerb bemüht ist und andererseits den Schulbesuch all ihrer Kinder unterstützt. Vom Schulbesuch ihrer Kinder sprach die Zweitbeschwerdeführerin dagegen mit Stolz und betonte auch glaubhaft, sie wolle sich in die Lebensorganisation ihrer Kinder, insbesondere ihrer Tochter, nicht einmischen und sollen diese ihre eigenen Entscheidungen treffen (Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 16.02.2021, S. 6). Besonders die eigene und ungefährdete Bewegungsfreiheit für sich und ihre Tochter liegen der Zweitbeschwerdeführerin am Herzen, was sich in der mündlichen Verhandlung darin ausdrückte, dass sie angab, in Afghanistan nie das Haus habe verlassen können (Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 16.02.2021, S. 6).
Die Feststellung dazu, dass die Zweitbeschwerdeführerin klare Vorstellungen über die Zukunft ihrer Familie hat, speist sich aus dem gesamten Eindruck, den die Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht machte, wo sie dem erkennenden Richter ohne Scheu begegnete und selbstverständlich und selbstbewusst aus dem Leben der Familie berichtete, ohne etwa den Blick ihres Mannes zu suchen. Auch über die schulischen Aktivitäten ihrer Kinder wusste die Zweitbeschwerdeführerin bestens Bescheid (Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 16.02.2021, S. 6).
Zur Feststellung, dass die Zweitbeschwerdeführerin während ihres Aufenthaltes in Österreich eine auf ein selbstbestimmtes Leben hin orientierte Lebensführung angenommen hat, dass dies Teil ihrer Identität geworden ist und dass sie sich eine am afghanischen Frauenbild ausgerichtete Lebensführung nicht vorstellen kann, ist auf die Ausführungen zu den obigen Feststellungen sowie die Feststellungen selbst zu verweisen.
Zur Feststellung, dass sie die Zweitbeschwerdeführerin diese Lebensweise im Fall der Rückkehr nicht aufrechterhalten könnte, ist zunächst ein Vergleich mit den Möglichkeiten für Frauen im Herkunftsstaat anzustellen:
Das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (in der Folge: Länderinformationsblatt), berichtet zwar von einer Verbesserung der Lage afghanischer Frauen in den letzten 15 Jahren sowie von Bemühungen der Regierung, diese Errungenschaften zu verfestigen. Gleichzeitig wird jedoch berichtet, dass Afghanistan weiterhin als eines der gefährlichsten Länder für Frauen gilt. Insbesondere eine unnachgiebige konservative Einstellung gegenüber Frauen bestehe fort. Die theoretischen Rechte (die afghanische Verfassung verbietet etwa jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung und garantiert Gleiche Rechte und Pflichten aller Bürger - Männer wie Frauen - vor dem Gesetzt) würden in der Praxis jedoch kaum umgesetzt. So wird von einer Vielzahl von Hindernissen in Bezug auf die Berufstätigkeit von Frauen berichtet, sie seien Belästigung, Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt und würden auch von praktischen Hürden (z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und [Aus]Bildung) behindert (Länderinformationsblatt, Kapitel 19.1. Frauen, Abschnitt Berufstätigkeit von Frauen). Viele Frauen vor allem im ländlichen Bereich würden aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen und werde ein Arbeitsplatz häufig als schlechtes Umfeld für Frauen angesehen. Eine Position in der Öffentlichkeit sei für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit. Traditionelle Praktiken würden die Teilnahme von Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin einschränken und sei der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis weiterhin gängig (Abschnitt Politische Partizipation und Öffentlichkeit). Auch von einer weitgehenden Beschränkung der Reisefreiheit von Frauen, insbesondere wegen Sicherheitsbedenken, wird berichtet (Abschnitt Reisefreiheit von Frauen). Die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (in der Folge UNHCR-Richtlinien) berichten von eingeschränktem Zugang zu Bildung- und Gesundheitswesen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 7. Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben, S. 77). Sexuelle Belästigung und tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen seien endemisch (S. 78).
Aus dieser Berichtslage ergibt sich bereits, dass die Zweitbeschwerdeführerin die Lebensweise, die sie nunmehr im Bundesgebiet pflegt, nicht weiterführen könnte, so wäre die eigenständige Teilnahme am öffentliche Leben, wie sie sie durch ihre Mitarbeit an Veranstaltungen und Aktivitäten in ihrer Wohnsitzgemeinde lebt, im Herkunftsstaat den oben zitierten Berichten zufolge nicht möglich. Auch der Bewegungsradius, wie ihn die Zweitbeschwerdeführerin aktuell lebt, indem sie etwa in die nächste größere Stadt zum Einkaufen fährt, würde im Rückkehrfall nicht aufrechterhalten werden können. Weiter könnte es zur Verwirklichung ihres Wunsches nach Berufstätigkeit kaum kommen und ich ihre Alphabetisierungsbestrebungen müsste die Zweitbeschwerdeführerin angesichts des schlechten Zugangs zu Bildung für Frauen voraussichtlich aufgeben.
Für Frauen, die sich an die oben beschriebenen Beschränkungen (Einschränkung der Bewegungsfreiheit, in Erscheinung treten in der Öffentlichkeit nur in männlicher Begleitung) nicht halten, berichten die UNHCR-Richtlinien von gesellschaftlicher Stigmatisierung und Diskriminierung sowie von einer Gefährdung ihrer Sicherheit (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 8. Frauen und Männer, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen, S. 87). So kommt es auch zu Bestrafungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia, etwa wegen dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung etc. (S. 88-89). Einem Großteil der in Afghanistan inhaftierter Frauen wurden den UNHCR-Richtlinien zufolge derartige Verstöße gegen die Sittlichkeit zur Last gelegt. Die Inhaftierten sind sodann häufig wieder Tätlichkeiten sowie sexueller Belästigung und Missbrauch ausgesetzt (S. 89-90).
Aus dieser Berichtslage ergibt sich klar, dass der Zweitbeschwerdeführerin im Fall der Rückkehr Übergriffe durch private bzw. staatliche Akteure drohen, wenn sie ihre (neue) Lebensweise im Rückkehrfall beibehält. Daher wurde die entsprechende Feststellung getroffen.
Die Feststellung, dass die Zweitbeschwerdeführerin mit Schutz vor den ihr für den Fall der Rückkehr drohenden Übergriffen durch die afghanischen Behörden nicht rechnen kann, speist sich insbesondere aus den UNHCR-Richtlinien (Kapitel III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 7. Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben S. 78), wo berichtet wird, das Gewaltakte gegen Frauen sehr oft straflose blieben sowie von der mangelhaften Umsetzung von Gesetzen zum Schutz von Frauen und der von der Verfassung garantierten Gleichberechtigung. Frauen hätten nur in geringem Maße Zugang zur Justiz (S. 79-80; siehe auch S. 84 und Länderinformationsblatt, Kapitel 19.1. Frauen).
Die Feststellung, dass die Zweitbeschwerdeführerin sich dem nicht durch Niederlassung in einem anderen Landesteil entziehen kann, basiert etwa auf den UNHCR-Richtlinien (Kapitel III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 7. Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben, S. 80), wo berichtet wird, dass die beschriebenen Menschenrechtsprobleme (siehe oben) für Frauen und Mädchen das gesamte Land betreffen).
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zur Stattgebung der Beschwerde der Zweitbeschwerdeführerin gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides (Asyl)
Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht, dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG gesetzt hat.
Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht einer Person, wenn sie sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
"Verfolgung" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs als ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt "Verfolgung" als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie, worunter - unter anderem - Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 MRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 MRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 MRK niedergelegte Verbot der Folter (zuletzt VwGH 31.07.2018 mwN).
Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierung ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010 mwN).
3.1.1. Zur westlichen Orientierung der Zweitbeschwerdeführerin
Nach § 3 Abs. 2 AsylG kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).
§ 3 Abs. 2 AsylG 2005 ist Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes Abl L 337/9 vom 20.12.2011 (Statusrichtlinie), nachgebildet. Nach Art. 5 Abs. 2 Statusrichtlinie kann die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen seines Herkunftslandes beruhen, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.
Der VfGH hat ausgesprochen, dass asylrelevante Verfolgung gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 auch auf Aktivitäten beruhen kann, die der Fremde seit dem Verlassen des Herkunftsstaats gesetzt hat (VfGH 12.12.2013, U 2272/2012).
Auch der VwGH hat bereits erkannt, dass diese neuen - in Österreich eingetretenen - Umstände, mit denen ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung nunmehr begründet, grundsätzlich zur Asylgewährung führen können. Sie sind daher zu überprüfen, wenn sie geeignet sind, die Annahme "wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung" zu rechtfertigen (VwGH 18.09.1997, 96/20/0323).
Die Zweitbeschwerdeführerin macht mit ihrem Vorbringen einer Verfolgungsgefahr wegen "westlicher" Orientierung einen subjektiven Nachfluchtgrund geltend.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden (vgl. etwa VwGH vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017-0018, mwN). Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen (zuletzt VwGH 28.06.2018, Ra 2017/19/0579). Dabei führt nicht jede Änderung in der Lebensführung während ihres Aufenthaltes in Österreich, die im Fall der Rückkehr nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, dazu, dass der Asylwerberin internationaler Schutz gewährt werden muss, sondern nur eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung, in der die Inanspruchnahme oder Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt und die im Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (zuletzt VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0315).
Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt, konnte die Zweitbeschwerdeführerin glaubhaft machen, dass sie eine Lebensweise angenommen hat, in der sie Bewegungsfreiheit, Teilnahme am öffentlichen Leben, Bildung und Berufstätigkeit und damit die Ausübung ihrer Grundrechte für sich beansprucht und diesen Anspruch in ihrer Lebensführung umsetzt. Weiter lässt sich den Feststellungen entnehmen, dass die Zweitbeschwerdeführerin im Rückkehrfall mit Übergriffen von staatlicher und privater Seite zu rechnen hat, was sich wie beweiswürdigend ausgeführt, aus der allgemeinen, Frauen, die als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen werden, betreffenden Lage im Herkunftsstaat ergibt. Die Zweitbeschwerdeführerin hat diese Art der Lebensführung seit ihrer Einreise im Bundesgebiet aufgebaut und in diesem Zeitraum von etwa fünf Jahren zweifellos so weit verfestigt, dass von einer nachhaltigen Änderung der Lebensführung auszugehen ist. Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt geht die Übergriffsgefahr nicht nur von privaten sondern auch von staatlichen Akteuren aus und hat die Zweitbeschwerdeführerin mit staatlichem Schutz vor diesen Übergriffen nicht zu rechnen. Damit konnte die Zweitbeschwerdeführerin für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat im Sinne der oben zitierten Judikatur eine asylrelevante Verfolgungsgefahr wegen ihres "westlich" orientierten Lebensstils glaubhaft machen.
3.1.2. Zum Nichtvorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative
Nach § 3 Abs. 3 Z 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht.
Gemäß § 11 Abs. 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann.
Wie festgestellt bezieht sich die Verfolgungsgefahr auf das gesamte Staatsgebiet des Herkunftsstaates, weswegen der Zweitbeschwerdeführerin eine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG nicht zur Verfügung steht.
Der Beschwerde der Zweitbeschwerdeführerin gegen den angefochtenen Bescheid war damit stattzugeben, ihr spruchgemäß der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG festzustellen, dass ihr damit Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.2. Zur Asylgewährung an die Zweit- bis Siebtbeschwerdeführer
Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 ist unter anderem Familienangehöriger wer Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers ist, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise bestanden hat.
Der Erstbeschwerdeführer ist daher als Ehegatte, wobei die Ehe bereits vor der Einreise bestand und die Dritt- und Siebtbeschwerdeführer als im Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige Kinder der Zweitbeschwerdeführerin Familienangehörige iSd § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005.
Gemäß § 34 Abs. 4 iVm Abs. 5 AsylG 2005 hat das Bundesverwaltungsgericht Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen. Die Verfahren sind unter einem zu führen. Unter den Voraussetzungen des § 34 Abs. 2 AsylG 2005 erhalten alle Familienangehörigen den Status des oder der Asylberechtigten.
Gemäß § 34 Abs. 2 iVm Abs. 5 AsylG hat das Bundesverwaltungsgericht aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn, dieser nicht straffällig geworden ist (Z 1) und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (Z 3).
Nachdem gegenteilige Anhaltspunkte im Verfahren nicht hervorgekommen sind, war den Beschwerden der Zweit- bis Siebtbeschwerdeführer daher stattzugeben, ihnen spruchgemäß im Familienverfahren Asyl zu gewähren und festzustellen, dass ihnen somit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.3. Zum Fluchtvorbringen der Zweit- bis Siebtbeschwerdeführer
Nach der Rechtsprechung des VwGH besteht kein "Recht auf originäre Zuerkennung des Status des Asylberechtigen." Weder kennt das Gesetz einen "originären" Status des Asylberechtigten, noch spricht das Gesetz in § 34 Abs. 4 AsylG davon, dass im Familienverfahren ein anderer, nur "abgeleiteter" Status zuzuerkennen ist. Im Gegenteil spricht der zweite Satz des § 34 Abs. 4 AsylG ausdrücklich davon, dass "der" Status des Asylberechtigten zuzuerkennen ist, was nur bedeuten kann, dass der Status des Asylberechtigten an sich (ohne weitere Differenzierung) zuzuerkennen ist. Auch der Status-Richtlinie 2011/95/EU lässt sich eine solche Differenzierung bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entnehmen. Daher erübrigt sich in diesem Fall auch die Prüfung eigener Fluchtgründe, wenn einem Familienangehörigen ohnedies der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen ist (VwGH 30.04.2018, Ra 2017/01/0418).
Nachdem der Zweitbeschwerdeführerin als Ehefrau des Erstbeschwerdeführers und Mutter der minderjährigen Dritt- und Siebtbeschwerdeführer mit gegenständlichem Erkenntnis der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde und damit auch (wie unter 3.2. ausgeführt) den Zweit- bis Siebtbeschwerdeführer im Familienverfahren der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen war, ist nach der oben zitierten Judikatur eine Auseinandersetzung mit deren eigenem Fluchtvorbringen nicht erforderlich und erfolgt eine solche auch nicht.
Insbesondere auf das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers wurde daher nicht eingegangen.
4. Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG vorliegt. In seiner rechtlichen Beurteilung der Asylrelevanz einer möglichen "westlichen" Orientierung folgt das Bundesverwaltungsgericht der unter 3.1.1. zitierten eindeutigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017-0018, mwN; VwGH 28.06.2018, Ra 2017/19/0579; VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0315) mit der dieser die rechtlich relevanten Merkmale der "westlichen" Orientierung Schritt für Schritt konkretisiert hat. Für die Feststellung des erforderlichen Tatsachensubstrates waren dagegen beweiswürdigende Erwägungen maßgeblich. Auch das eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Fluchtvorbringen der Zweit- bis Siebtbeschwerdeführer angesichts des ihnen im Familienverfahren zu gewährenden Status des Asylberechtigten nicht erforderlich war, ergibt sich klar aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, der zu Folge es ein "originäres" Recht auf Asyl nicht gibt (VwGH 30.04.2018, Ra 2017/01/0418).
Schlagworte
Asylgewährung von Familienangehörigen Asylverfahren Familienangehöriger Familienverfahren Flüchtlingseigenschaft mündliche VerhandlungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W102.2196007.1.00Im RIS seit
30.06.2021Zuletzt aktualisiert am
30.06.2021