Entscheidungsdatum
11.03.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W159 2214011-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.01.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.02.2021 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig, ursprünglich sunnitischen moslemischen Glaubens, gelangte (spätestens) am 21.10.2016 irregulär nach Österreich und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Am nächsten Tag erfolgte die Erstbefragung durch das Stadtpolizeikommando XXXX . Dabei gab der Beschwerdeführer an, dass er Afghanistan wegen der schlechten Sicherheitslage verlassen habe. Seine Mutter habe beschlossen ihn nach Europa zu schicken, denn sie hätte nicht gewollt, dass er wie sein Vater getötet werde. Sein Vater sei verstorben, als der Beschwerdeführer in Kleinkind gewesen sei. Den Grund wisse er nicht, obwohl er die Mutter mehrmals gefragt hätte. Der Beschwerdeführer brachte eine Tazkira in Vorlage.
Mit der „Sachverständigen Volljährigkeitsbeurteilung“ der Medizinischen Universität Wien von 11.12.2016 wurde aufgrund der durchgeführten Untersuchungen ein fiktives Geburtsdatum am XXXX festgelegt.
In der niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl EAST Ost am 19.07.2018 legte der Beschwerdeführer folgende Schriftstücke vor: Ein Deutschprüfung-Zertifikat A2, Teilnahmebestätigungen Deutschkurse, Teilnahmebestätigung am Projekt „MyKey-Leben und Arbeiten in Tirol an, Teilnahmebestätigung an den Ausbildungsmodulen „Deutsch, Mathematik, Englisch“ (MyKey) sowie diverse Empfehlungsschreiben.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab der Beschwerdeführer an, im Jahr 2006, als der Beschwerdeführer die erste Klasse besucht hätte, sei der Vater, ein Stadtbeamter von Herat, auf dem Weg nach Herat von Unbekannten getötet worden. Der Onkel habe den Beschwerdeführer zu sich genommen, ihn inoffiziell adoptiert. Der Onkel sei Kommandant gewesen und mächtig, er habe am JIHAD teilgenommen. Bis 2015 habe der Beschwerdeführer bei seinem Onkel in XXXX gelebt und sei dort auch in die Schule gegangen. Die ersten zwei bis drei Jahre habe der Onkel den Beschwerdeführer gut behandelt. Die Söhne des Onkels seien im Krieg getötet worden. Der Onkel ein sehr strenggläubiger Moslem habe begonnen den Beschwerdeführer schlecht zu behandeln. Er habe den Beschwerdeführer brutal gezwungen in die Moschee statt in die Schule zu gehen. Der Onkel habe den Beschwerdeführer gezwungen den Islam zu praktizieren und im Alter von elf Jahren den Rahmadan einzuhalten. Der Beschwerdeführer habe sich ausgehandelt halbtags zur Schule und halbtags zur Moschee zu gehen. Der Onkel habe mit Gewalt einen gläubigen Menschen aus dem Beschwerdeführer machen wollen. Nachdem der Beschwerdeführer die neunte Schulklasse abgeschlossen und sein Schulzeugnis erhalten hätte, habe der Schwager des Onkels gemeint, es sei an der Zeit, dass der Beschwerdeführer, in Vertretung seines alten Onkels, eine Waffe in die Hand nehmen und an Kampfhandlungen teilnehmen würde. Der Beschwerdeführer habe nachdem Opferfest seine Mutter kontaktiert und über das Vorhaben seines Onkels erzählt. Die Mutter sei mit dem jüngeren Bruder des Beschwerdeführers zum Haus des Onkels gekommen und habe ihm mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer zwischenzeitlich erwachsen geworden sei und sie wolle ihn als Familienoberhaupt mitnehmen. Der Onkel habe die Mutter erniedrigt und aus dem Haus geworfen. Der Beschwerdeführer habe die Mutter verteidigt und dem Onkel gesagt, er sei ein Mörder und er wolle sehr gerne mit seiner Mutter mitgehen. Daraufhin habe der Onkel den Beschwerdeführer unter anderem mit seiner eigenen Waffe geschlagen. Der Onkel habe den Beschwerdeführer nicht erlaubt mit der Mutter mitzugehen.
Zwei Tage nach diesem Vorfall sei der Beschwerdeführer aus dem Haus des Onkels durch das Fenster gestiegen und mit dem Bus und einem öffentlichen Taxi nach Herat zu seiner Mutter geflohen. Die Mutter habe sich mit dem Ehemann ihrer Schwester beraten und beschlossen, dass der Beschwerdeführer Afghanistan zu verlassen habe. Der Ehemann der Tante des Beschwerdeführers habe die Ausreise über einen Schlepper organisiert. Die Mutter habe gemeint, sie wolle ihren Sohn nicht so verlieren, wie sie ihren Ehemann verloren habe.
Befragt gab der Beschwerdeführer an, es habe persönlich keine Übergriffe des Onkels auf ihn gegeben. Er sei in seiner Heimat oder einem anderen Land nicht vorbestraft und habe keine Strafrechtsdelikte begangen. Er werde in seiner Heimat weder von der Polizei, der Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde gesucht. Er sei in seiner Heimat nicht von den Behörden angehalten, festgenommen oder verhaftet worden. Er habe in seiner Heimat keine Probleme mit den Behörden gehabt, sei kein Mitglied einer politischen Gruppierung oder Partei gewesen und habe niemals an Kampfhandlungen teilgenommen. Er sei in seiner Heimat von staatlicher Seite weder wegen seiner politischen Gesinnung, seiner Rasse, seiner Religion, wegen seiner Nationalität bzw. der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tadschiken oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden.
Hier in Österreich würde sich sein Onkel mütterlicherseits aufhalten, sie würden nicht im gemeinsamen Haushalt leben und es bestünde keine finanzielle Abhängigkeit. Der Beschwerdeführer habe bereits Deutschkurse besucht und die Prüfung ÖSD A2 erfolgreich abgeschlossen.
Mit Bescheid des BFA vom 11.12.2018, Zl. XXXX unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchpunkt II. dieser Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen, unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt IV. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt V. die Abschiebung nach Afghanistan für zulässig erklärt und unter Spruchpunkt VI. die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgelegt.
In der Begründung des Bescheides wurden die oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt sowie Feststellungen zu Afghanistan getroffen. In der Beweiswürdigung wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer keine konkrete individuelle und asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen hätte können. Die vor dem BFA angegebene Geschichte sei im Vergleich zu den Angaben bei der polizeilichen Einvernahme eine völlig neue Geschichte. Das BFA wertete es als gesteigertes Vorbringen. Außerdem habe sich der Beschwerdeführer bei den Kernaussagen des Vorbringens widersprochen.
Rechtlich begründend wurde zu Spruchteil I. insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller keine glaubhaften asylrelevanten Gründe im Sinne der GFK darlegen hätte können und daher begründete Furcht als Voraussetzung für die Asylgewährung ausgeschlossen werden könne. Hinsichtlich Spruchteil II. wurde auf eine mögliche inländische Fluchtalternative in Kabul oder einer anderen afghanischen Großstadt hingewiesen. Es könnten daher aus den individuellen persönlichen Verhältnissen keine Gefährdung im Sinne des § 8 AsylG abgeleitet werden. Es sei davon auszugehen, dass der Antragsteller im Falle der Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sei, seine dringendsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG lägen nicht vor (Spruchpunkt III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer über keine Familienangehörigen im Bundesgebiet verfüge. Er lebe erst seit relativ kurzer Zeit bei einer Gastfamilie und zeige durchaus Integrationsbemühungen. Unter Berücksichtigung des erst ca. zweieinhalbjährigen Aufenthaltes sei jedoch in Anbetracht des Verstoßes gegen die Einreisevorschriften auch nicht von einem schützenswerten Privatleben auszugehen und sei daher ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht zu erteilen gewesen und eine Rückkehrentscheidung für zulässig zu erachten. Zu Spruchpunkt V. wurde insbesondere dargelegt, dass keine Gefährdung im Sinne des § 50 FPG vorliege und einer Abschiebung nach Afghanistan auch keine Empfehlung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entgegenstehe, sodass diese als zulässig zu bezeichnen sei; Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise wären ebenfalls nicht hervorgekommen (Spruchpunkt VI.).
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer vertreten durch die XXXX fristgerecht, wegen mangelhaften Ermittlungsverfahren sowie mangelhaften Länderfeststellungen, gegen alle Spruchteile Beschwerde, in der zunächst der bisherige Verfahrensgang und das Vorbringen (gerafft) wiedergegeben wurde.
Die Behörde habe in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben vervollständigt werden. Diese Pflicht habe die Behörde verletzt und das Verfahren mit Mangelhaftigkeit belastet. Die Behörde habe es unterlassen sich mit der tatsächlichen Sicherheitslage in der als IFA angeführten Städte Mazar-e Sharif und Herat auseinanderzusetzen. Die Behörde habe pauschal eine Fluchtalternative für zumutbar erklärt.
Am 03.12.2020 wurde ein Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau B1, eine Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs, ein Teilprüfungszeugnis, ein Zeugnis über die Pflichtschulabschlussprüfung, je ein Zeugnis für die Teilprüfung aus Gesundheit und Soziales, Natur und Technik, Mathematik sowie Deutsch-Kommunikation und Gesellschaft vorgelegt.
Am 04.02.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung einberaumt, an welcher der Beschwerdeführer, seine Rechtsvertretung, eine Vertrauensperson und eine Dolmetscherin teilnahmen. Ein Vertreter des BFA, Regionaldirektion Tirol war entschuldigt nicht erschienen.
Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers brachte eine Betätigung des Vereines XXXX über ehrenamtliche Arbeit, eine Integrationsbestätigung der Marktgemeine XXXX , eine Arbeitsbestätigung der Gemeinde XXXX samt einem Empfehlungsschreiben, eine Heimbestätigung der XXXX samt einem Unterstützungsschreiben und weitere Empfehlungsschreiben sowie einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag mit der Firma XXXX . In Vorlage.
Die Rechtsvertretung brachte vor, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner negativen Erfahrungen mit dem Islam in Afghanistan mittlerweile zur Gänze vom islamischen Glauben abgefallen sei. Er lebe nicht mehr nach islamischen Grundsätzen, insbesondere würde er nicht mehr beten und fasten. Der Beschwerdeführer habe diese religiöse Einstellung soweit verinnerlicht, dass es ihm für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan unmöglich wäre, wieder nach den islamischen Glaubensvorschriften zu leben. Dem Beschwerdeführer drohe daher für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan asylrelevante Verfolgung aus religiösen Gründen. Der Beschwerdeführer werde in den nächsten Tagen auch gegenüber der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde seinen Austritt aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft erklären und ersuche um Einräumung einer angemessenen Frist zur Vorlage einer Austrittsbescheinigung.
Der Beschwerdeführer hielt seine Beschwerde und sein bisheriges Vorbringen aufrecht. Er gab an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, sei Tadschike und habe zurzeit keinen Glauben. Er habe sich gänzlich vom Islam losgesagt. In Afghanistan sei er gezwungen worden, zu fasten und zu beten. Seit er sich in Österreich aufhalte, würde er weder beten noch fasten. Auf die Frage des Richters ob er dabei sei zu einer anderen Religion zu konvertieren oder ob er sich als Atheist oder Agnostiker bezeichnen würde, antwortete der Beschwerdeführer er würde an gar nichts glauben.
Er gab an, er sei in der Provinz Herat, in der Stadt Herat geboren worden, stamme jedoch eigentlich aus dem Distrikt XXXX . Laut seiner Tazkira sei er am XXXX , das würde dem XXXX entsprechen, geboren worden. In Österreich sei das Geburtsdatum XXXX festgestellt worden. Er sei 21 Jahre alt.
Er habe bis zu seinem siebenten Lebensjahr in der Stadt Herat gelebt. Danach habe ihn sein Onkel vs. nach XXXX gebracht, der für seinen Lebensunterhalt gesorgt habe. Das sei der Heimatdistrikt. Bis zu seiner Ausreise habe er in XXXX gelebt. Vor der Ausreise habe er sich lediglich zwei Stunden in der Stadt Herat aufgehalten.
Befragt gab der Beschwerdeführer weiters an, dass sein Vater getötet worden sei und seine Mutter noch am Leben sei. Zurzeit wisse der Beschwerdeführer nichts von ihr. Zum Tod seines Vaters befragt, erzählte der Beschwerdeführer: „Ich war ungefähr in der ersten Klasse. Mein Vater hatte für die Behörden gearbeitet. Er war kein hochrangiger Beamter. Er hat für die Unterrichtsdirektion gearbeitet. Er war von XXXX Richtung Stadt unterwegs, als er von bewaffneten Personen angehalten und später getötet wurde.“ Er wisse nichts Genaueres über die bewaffneten Personen. Er weder von der Mutter noch von seinem Onkel vs. erfahren, von welcher Gruppierung der Vater getötet worden sei.
Befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe zwei jüngere Brüder, welche bei der Mutter leben würden. Er hätte bis vor etwa sieben Monaten Kontakt zu seiner Familie, welche in Herat aufhältig gewesen sei, gehabt. Der Onkel vs. und auch sein Schwager hätten erfahren, dass die Familie des Beschwerdeführers, Kontakt zum Beschwerdeführer habe. Die Familie des Beschwerdeführers sei deshalb von diesen Personen, auch mit dem Tode, bedroht worden, weswegen sie den Kontakt abgebrochen hätten.
Der Beschwerdeführer erzählte, etwa zwei Monate nach dem Tod seines Vaters, er sei etwa in der ersten Klasse gewesen, habe er beim Onkel vs. gelebt. Sein Onkel sei ungerecht, unmenschlich, sehr strenggläubig und Jihadist gewesen.
Der Beschwerdeführer erzählte weiter: „Er war sehr grausam. Er hat schon früher mit XXXX gearbeitet. Dann hat er sich von ihm getrennt. Er hatte immer Waffen bei sich und war bewaffnet und mir hat er auch ständig gesagt, dass ich auch zur Waffe greifen muss, um mein Heimatland zu verteidigen. ….. Er war früher bei der Jihadistischen Gruppierung Afghanistans. Er hat auch seine Waffe nicht abgegeben. Als die neue Regierung an die Macht gekommen ist, hat er seine Waffen nicht hergegeben. …… Ja, er war ein Kommandant.“
Der Onkel vs. habe manchmal bis zu zehn Personen unter sich gehabt. Nun müsste er zwischen 55 und 60 Jahre alt sein. „Ein kräftiger Mann. Als ich noch klein war, war er in kräftiger starker Mann. Als ich herangewachsen bin, war er dann nicht mehr so kräftig. Er hat einen langen Bart getragen. Alle Jihadisten tragen einen langen Bart, so wie der XXXX . Sie tragen ihre Bärte bis zum Bauchnabel.“
Auf die Frage des Richters, wie der Onkel den Beschwerdeführer behandelt habe, erzählte der Beschwerdeführer weiter: „Er hat mich unmenschlich behandelt. Er hat mich ständig geschlagen. Ich ging zur Schule und er sagte, dass ich auch in die Koranschule gehen muss. Ich ging nicht in die Moschee. Dann hat er von mir verlangt, dass ich nicht mehr zur Schule gehen soll, sondern nur in die Moschee. Er hat mich geschlagen. Dann habe ich ihn überredet, dass ich halbtags zur Schule gehen werde und am Nachmittag in die Moschee. Er hat mich kontrolliert. Wenn ich nicht in die Moschee gegangen bin, hat er mich geschlagen. Dann hat er von mir verlangt, dass ich eine Waffe nehme und gemeinsam mit seinem Schwager in den Krieg ziehe.“ Zu diesem Zeitpunkt sei der Beschwerdeführer in der neunten Klasse gewesen und kurz vor den Prüfungen gestanden.
Der Beschwerdeführer erzählte weiter: „Ich sagte ihm, dass ich nicht mitgehen möchte und dass ich kein schlechter Mensch werden möchte und auch niemanden töten will. Es hat zwei bis drei Monate gedauert, als wir ständig Schwierigkeiten über dieses Thema hatten. Nachdem ich mein Schulzeugnis bekommen habe, habe ich mich auf den Weg nach Hause gemacht. Zuhause waren die Schwager meines Onkels. Sie haben mich gesehen und haben zu meinem Onkel gesagt, dass ich schon groß genug sei, um mit ihnen gemeinsam in den Krieg zu ziehen. Ich sei schon bereit, dass er mich in den Krieg schickt. Ich musste an diesem Tag noch in die Moschee geben. Ich habe die Zeit nicht gefunden, um mit meiner Mutter darüber zu sprechen. Am nächsten Tag habe ich dann mit meiner Mutter darüber gesprochen und ihr das erzählt, dass mein Onkel mich mit seinem Schwager in den Krieg schicken möchte. Am selben Tag ist meine Mutter gemeinsam mit meinem Bruder ins Dorf zu meinem Onkel gekommen. Sie sagte meinem Onkel, dass ich nun alt genug bin, um wieder nach Hause zu kommen. Sie möchte, dass wir alle zusammen in der Stadt leben. Mein Onkel hat sich geärgert. Er war sehre verärgert, hat mit meiner Mutter geschimpft und sie bedroht, mit dem Kolben seines Gewehrs hat er meinen Bruder und mich geschlagen. Er hat mich geschlagen, weil ich meine Mutter verteidigt habe. Er hat meine Mutter und meinen Bruder aus dem Haus geworfen. Zwei Tage nach diesem Vorfall, es war 06.00 Uhr, als ich den Entschluss gefasst habe, zu flüchten. ….. Mein Onkel hat in einem anderen Zimmer geschlafen. Er hat sein Morgengebet verrichtet und ist dann wieder in sein Zimmer gegangen. Ich bin nicht durch die Türe hinausgegangen, sondern bin ich aus dem Fenster hinausgesprungen. Wenn ich die Türe benutzt hätte, dann hätte er etwas bemerkt. Ich bin zur Busstation gegangen und habe den Bus genommen und fuhr damit in die Stadt. Als ich aus dem Fenster gesprungen bin, hatte ich mich dabei auch verletzt. Ich bin dann in die Stadt gekommen und ging dann zu meiner Mutter. Als meine Mutter mich gesehen hat, hat sie viel geweint und sie war verängstigt. Sie hat meine Tante ms. angerufen. Sie ist dann gemeinsam mit ihrem Ehemann zu uns gekommen. Meine Mutter hat ihnen alles erzählt. Dann haben wir alle den Entschluss gefasst, dass ich nicht länger in Afghanistan bleiben kann. Meine Mutter sagte mir, dass ich die Stadt verlassen muss, ich muss ganz Afghanistan verlassen, denn wenn mein Onkel vs. mich finden sollte, dann wird er mich töten. Sie sagte, dass sie mich nicht verlieren möchte, so wie sie meinen Vater verloren hat. Mein Vater wurde auch getötet.“
Der Onkel vs. habe den Beschwerdeführer unter Zwang in den Krieg schicken, er hätte ihn gezwungen zu beten und ein gläubiger Mensch zu werden. Dies sei der unmittelbare Anlass der Ausreise gewesen.
Der Richter erkundigte sich, ob der Beschwerdeführer schon in Afghanistan nicht so gläubig gewesen sei. Der Beschwerdeführer antwortete, dass er bereit in der siebenten/achten Klasse nicht mehr so strenggläubig gewesen sei, denn die Lehrer in der Schule hätten etwas ganz Anderes erzählt als der Mullah in der Moschee. In der Schule hätten einige Lehrer gesagt, dass man mit elf Jahren aus medizinischen Gründen nicht fasten solle. Der Mullah in der Moschee meinte jedoch, dass man schon ab dem 7. Lebensjahr fasten solle.
Der Beschwerdeführer sei dann Ende 1394, das würde 2015 entsprechen, ausgereist. Der Mann seiner Tante hätte eine Person gefunden, welcher den Beschwerdeführer nach XXXX und dann weiter in den Iran gebracht hätte. Der Beschwerdeführer hätte auch im Autobus Richtung XXXX nichts über sich erzählen dürfen. Später habe der Beschwerdeführer erfahren, dass sein Onkel ihn schon damals gesucht hätte.
Der Richter erkundigte sich, ob es einen bestimmten Grund gegeben hätte, warum sich der Beschwerdeführer immer mehr vom Islam entfernt hätte. Der Beschwerdeführer antwortete: „Ja, wegen der Ungerechtigkeit, wegen der Grausamkeit. Ich hatte keine Freiheiten. Es wurde immer das Umgekehrte gemeint. ….. Das Leben in Österreich ist ganz anders als das Leben in einem islamischen Land wie Afghanistan. Das beginnt schon bei den Frauen und Kindern.“
Der Beschwerdeführer antwortete auf die Fragen seiner Rechtsvertretung, sein Onkel heiße XXXX und sei ein bekannter Kommandant in Dorf des Beschwerdeführers gewesen. Er wisse nicht, ob der Onkel sich mittlerweile im Ruhestand sich befinden würde. Auch wenn der Onkel nicht mehr aktiv sei, hätte er Leute um sich herum, die für ihn aktiv seien. Der Onkel habe im Dorf und in seiner Umgebung viele Anhänger und auch seine Schwager seien bei bewaffneten Gruppierungen. Es könne durchaus sein, dass sie in ganz Afghanistan ihre Kontakte hätten. Der Onkel habe den Beschwerdeführer in den Krieg gegen die ausländischen Truppen oder auch innerhalb der Gruppierungen schicken wollen. Bei manchen Sachen, wenn es um die Regierung gegangen sei, hätten sie zusammengehalten, jedoch seien sie manchmal auch unterschiedlicher Meinung gewesen und hätten sich dann gegenseitig bekämpft.
Der Richter erkundigte sich, seit wann der Beschwerdeführer sich nicht mehr an die Regeln des Islam halte. Der Beschwerdeführer antwortete: „In Afghanistan musste ich wegen den Schwierigkeiten mit meinem Onkel alles unter Zwang machen. Seit ich in Österreich bin, halte ich mich nicht mehr daran.“ Der Beschwerdeführer gab an, er würde auch Alkohol trinken und Schweinefleisch essen. Früher habe er viel Alkohol getrunken, jetzt würde er Sport betreiben und nur gelegentlich Alkohol mit seinen Freunden trinken.
Befragt gab er an, er würde an keinen Gott glauben. Nach dem Tod, wenn die Seele sterbe, dann bliebe nur mehr der Körper und die Knochen würden sich auch auflösen. Wenn man stirbt, dann sei man tot und es bleibe nichts mehr am Leben erhalten. Wenn die Seele stirbe, dann habe der Körper überhaupt keine Bedeutung, denn unter der Erde lösen sich die Körperteile auf. Es könne schwer möglich sein, dass die Seele aus einem toten Körper herauswandern würde.
Auf die Frage, was er über Frauenrechte denken würde, erklärte der Beschwerdeführer: „Frauen haben auch ihre eigenen Rechte und sie haben auch das Recht auf ein freies Leben. Es gibt kein Gesetz zwischen einer Frau und einem Mann, beide sind gleich.“
Befragt zur Homosexualität, gab der Beschwerdeführer an, es sei die Angelegenheit der betroffenen Person. Er könne es sich aussuchen, ob er mit einem Mann zusammen sein möchte und auch eine Frau könne sich das aussuchen, ob sie vielleicht mit einer Frau zusammen sein möchte.
Seit sich der Beschwerdeführer hier in Österreich aufhalten würde, würde er auch über seine Abwendung vom Islam offen reden. Schon seit seinem ersten Tag hier in Österreich habe er gesagt, wenn er gefragt worden sei, dass er kein Gläubiger sei. Einige Personen, die aus Afghanistan stammen würden, wissen von seiner Abwendung vom Glauben, aber einige wüssten nichts. Mit seiner Mutter habe der Beschwerdeführer noch nicht darüber gesprochen, denn in Afghanistan könne man über solche Sachen nicht offen sprechen. Auf die Frage des Richters, ob sein Onkel und andere Verwandte schon von seinem Abfall vom Glauben erfahren haben könnten, antwortete der Beschwerdeführer: „Als ich damals nicht in die Moschee gegangen bin, hat mein Onkel mich oft geschlagen und auch wenn ich nicht gefastet habe, schlug er mich. Er sagte, dass ich ungläubig geworden bin, weil ich mich nicht daran halte.“
Er habe zurzeit keine gesundheitlichen oder psychischen Probleme. Hier in Österreich habe er den Pflichtschulabschluss gemacht. Er würde für die Gemeinde und für das XXXX arbeiten. Er habe die B1-Prüfung absolviert und bereits eine Arbeit gefunden. Er habe auch eine Mitgliedskarte vom XXXX . Der Beschwerdeführer brachte seinen Dienstausweis vom XXXX in Vorlage. Er habe für die Gemeinde XXXX , für das XXXX sowie für den Verein „ XXXX “ ehrenamtlich gearbeitet. Er habe seine vielen österreichischen Freunde bekocht. Das Kochen habe er von den anderen Afghanen gelernt und habe so auf Festen afghanisch kochen können. Sie seien vier bis fünf Personen und würden zusammen helfen zusammen und kochen. Sie würden auch auf Geburtstage, viele Veranstaltungen und Feste eingeladen werden. Zu diesen Anlässen nehme er auch immer irgendwelche Kleinigkeiten mit.
Der Richter erkundigte sich, wie der Beschwerdeführer mit der Firma XXXX in Kontakt gekommen sei. Der Beschwerdeführer antwortete in deutscher Sprache: „Ich habe den Präsidenten dieser Firma durch einen Freund kennengelernt. Ich habe bei ihm angefragt und er sagte mir, sobald ich eine positive Antwort vom Gericht bekommen habe, könnte ich schon bei ihm beginne zu arbeiten. Ich würde als Bauarbeiter arbeiten.“
Auf die Frage, ob der Beschwerdeführer Mitglied bei irgendwelchen Vereinen oder Institutionen sei, antwortete er, er würde Fitness betreiben und sei beim Fitnessstudio Cleverfit gewesen. Beim XXXX sei er Mitglied. Jeden Samstag würden sie zu den Lebensgeschäften wie XXXX . fahren und Lebensmittel sammeln und später verteilen. Es sei kostenlos. Alle Personen, die einen speziellen Ausweis hätten und die in XXXX leben würden, könnten sich da bedienen.
Die Rechtsvertretung brachte eine Bestätigung über die freiwillige Tätigkeit beim XXXX in Vorlage.
Der Beschwerdeführer gab an, er habe auch viele österreichische Freunde. Er habe diese im Fitnesscenter, bei der Arbeit, im Jugendzentrum und in XXXX kennengelernt. Er habe auch an Veranstaltungen in XXXX teilgenommen und dort Freunde kennengelernt. Er habe auch eine Freundin gehabt, jedoch hätten sie sich mittlerweile getrennt. Der Beschwerdeführer schilderte in deutscher Sprache seinen Alltag: „Manchmal ich um 06.00 Uhr aufstehen. Danach mache ich Frühstück, um halbsieben, halbacht fange ich bei der Gemeinde an, manchmal beginnen wir schon um sechs, wenn es geschneit hat. Zum Beispiel habe ich vor der Volksschule Schnee geschaufelt.“ Der Beschwerdeführer zeigte diverse Fotos vor. „Nach der Arbeit komme ich nach Hause, esse zu Mittag. Manchmal gehe ich laufen, weil derzeit das Fitnesscenter geschlossen ist. Früher bin ich oft nach der Arbeit ins Fitnesscenter gegangen. Ich besuche auch einen Deutschkurs, B2.“
Der Beschwerdeführer gab an, er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, denn sein Onkel würde ihn töten lassen. Gezwungenermaßen müsste er nach außen den islamischen Glauben veranschaulichen, da er Angst vor der Gesellschaft habe würde. Die Gesellschaft lasse einen Ungläubigen dort nicht am Leben, aber innerlich habe er keinen Glauben. Er glaube auch nicht, dass er sich so in Afghanistan verstellen könnte, dass man nicht merken würde, dass er kein gläubiger Mensch mehr sei. Afghanistan sei ein islamischer Staat. Er könne nicht fasten und in die Moschee gehen. Wenn man keinen Glauben hätte, könne man das alles nicht tun. Unter Zwang könne man das dann nicht mehr. Seine Mutter und seine Brüder würden sich von ihm abwenden und würden eine Gefahr für ihn sein.
Der Beschwerdeführer würde in Österreich einer normalen Arbeit nachgehen und die Arbeiten, die er bis jetzt gemacht hätte fortsetzen. Er würde sich eine Freundin suchen und später vielleicht heiraten. Er würde mit seiner Freundin, zumindest eine Zeit lang auch ohne Trauschein zusammenleben, denn wenn er keinen Glauben habe, dann glaube er auch nicht daran, dass man heiraten müsse, um zusammenzuleben. Mit seiner letzten Freundin, einer Österreicherin, sei er etwa sechs Monate zusammen gewesen und habe auch eine Beziehung zu dieser Frau gehabt.
Gemäß § 45 Abs.3 AVG wurden den Verfahrensparteien das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020 soweit verfahrensrelevant zur Kenntnis gebracht und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme von drei Wochen eingeräumt:
Es wurde der aktuelle Strafregisterauszug des Beschwerdeführers verlesen in dem keine Verurteilung aufschien.
In der Stellungnahme vom 22.02.2021 verwies die Rechtsvertretung in allgemeinen auf die Länderberichte, welche nicht geeignet seien die Fluchtgründe des Beschwerdeführers zu entkräften.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und wurde am XXXX in Afghanistan, in Herat geboren und führt den Namen XXXX . Er lebte bis zu seiner Ausreise in der Nähe von Herat bei seinem Onkel väterlicherseits, einem strenggläubigen Moslem und Jihadisten. Der Vater des Beschwerdeführers wurde getötet, als der Beschwerdeführer ungefähr sieben Jahre alt war und sein Onkel „adoptierte“ den Beschwerdeführer.
Der Onkel erzog den Beschwerdeführer, nach seiner „Adopition“ streng nach den sunnitisch moslemischen Vorschriften. Bei Missachtung von religiösen Vorschriften wurde der Beschwerdeführer geschlagen und misshandelt und als Ungläubiger beschimpft. Der Beschwerdeführer war mehr an einer Ausbildung in einer „normalen Schule“ als an der Koranschule und den kämpferischen Handlungen seines Onkels interessiert. Er bezeichnete seinen Onkel wegen seiner Taten als Mörder. Durch den religiösen Zwang seines Onkels, den Ungereimtheiten der Lehre in der Schule und in der Moschee sowie dem Missfallen an den kriegerischen Handlungen seines Onkels begann der Beschwerdeführer bereits in Afghanistan sich vom Glauben abzuwenden. Hier in Österreich glaubt er an keinen Gott mehr. Er ist Atheist. Der Beschwerdeführer hat sich gänzlich vom Islam abgewandt. Er kann aus der Religionsgemeinschaft formell nicht ausgetreten, da er in keine islamische Religion eingeschrieben ist. Der Beschwerdeführer distanziert sich von allen Religionen.
Der Onkel würde den Beschwerdeführer töten, wenn er erfahren würde, dass sein „Ziehkind“ vom islamischen Glauben abgefallen ist. Auch seine Mutter und seine Brüder würden sich von ihm abwenden, wenn er mit ihnen in Kontakt stehen würde. Der Beschwerdeführer würde bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan seinen Abfall vom Glauben nicht verstecken können, denn er würde nicht fasten, nicht beten und nicht zur Moschee gehen. Er kann seine persönlichen Glaubensgrundsätze nicht leugnen.
In Österreich hat der Beschwerdeführer den Pflichtschulabschluss absolviert. Er hat Deutschprüfungen auf B1 Level erworben. Der Beschwerdeführer hat freiwilligen Arbeit bei der XXXX Gemeinden und beim XXXX gemacht. Er hat einen Mitgliedsausweis des XXXX erworben. Er hat auch bereits eine Einstellungszusage, die er durch Privatinitiative erhalten hat.
Der Beschwerdeführer lebt einen „sehr westlichen Lebensstil.“ Er isst Schweinefleisch und trinkt gerne Alkohol. Er liebt seine in Österreich gewonnene religiöse Freiheit und möchte diese leben. Er achtet die Frauenrechte und möchte mit einer Freundin, auch ohne Trauschein zusammenleben. Auch dem Thema Homosexualität begegnet er sehr offen und sieht diese Art der Sexualität als persönliche Freiheit jedes Menschen.
Zu Afghanistan wird Folgendes verfahrensbezogen festgestellt:
1. Politische Lage
Letzte Änderung: 18.5.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).
Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).
Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).
Das Abkommen mit den US-Amerikanern
Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).
Quellen:
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• AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (15.4.2019): Afghanistan: Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/-/204718, Zugriff 7.6.2019
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• USDOS – United States Department of State (29.5.2018): International Religious Freedom Report for 2017 – Afghanistan, https://www.ecoi.net/de/dokument/1436774.html, Zugriff 11.6.2019
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2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 22.4.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
(UNAMA 2.2020)
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien