TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/16 W248 2194593-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.03.2021
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Entscheidungsdatum

16.03.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W248 2194593-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 01.03.2018, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.02.2021 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

III. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides aufgehoben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

IV. XXXX wird der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1        Verfahrensgang:

1. XXXX , geb. XXXX , (im Folgenden: Beschwerdeführer), ein afghanischer Staatsbürger, stellte am 22.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, XXXX , am 24.12.2015, gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen, am XXXX in Nangarhar geboren zu sein und zuletzt in Kabul gelebt zu haben. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei afghanischer Staatsbürger. Der Beschwerdeführer sei gemeinsam mit seinem älteren Bruder XXXX , geb. XXXX nach Europa gereist, ein weiterer Bruder XXXX lebe bereits in Wien. Die einzige Schwester des Beschwerdeführers lebe in Deutschland. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei ledig und habe keine Kinder. Der Beschwerdeführer habe etwa sieben Jahre lang eine Grundschule in Afghanistan besucht. Seine Familie besitze ein Grundstück in Afghanistan, und die finanzielle Situation sei gut. Vor etwa einem Monat habe der Beschwerdeführer Afghanistan gemeinsam mit seinem Bruder XXXX verlassen. Die Reise nach Europa habe etwa USD 7.000,- gekostet.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Vater Schwierigkeiten mit einem Geschäftspartner gehabt habe. Sein Vater sei aus diesem Grund entführt worden und seither verschwunden. Weiters gebe es Probleme mit dem Onkel aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten. Der Beschwerdeführer und sein Bruder würden von unbekannten Personen gesucht werden. Vier Personen hätten bereits versucht, den Beschwerdeführer zu entführen. Auch betreffend seinen Bruder habe es Entführungsversuche gegeben. Die Mutter habe ihre Wertgegenstände und Grundstücke verkauft, um die Flucht zu finanzieren.

3. Am 18.08.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt.

Der Beschwerdeführer gab an, etwas Pashto, wenig Englisch und Deutsch zu sprechen. Er führte aus, dass der Name seines älteren Bruders in der Erstbefragung falsch angeführt worden sei, richtigerweise heiße sein Bruder XXXX . Sein Bruder habe den Status eines subsidiär Schutzberechtigten und lebe seit sieben oder acht Jahren in Österreich. Der Vater des Beschwerdeführers sei Geschirrhändler gewesen und habe gemeinsam mit einem Geschäftspartner Waren von Kabul nach Herat gehandelt. Eines Tages, als der Beschwerdeführer etwa zwei Jahre alt gewesen sei, sei sein Vater nicht mehr nach Hause gekommen. Was mit dem Vater geschehen sei, wisse der Beschwerdeführer nicht. Er habe einen Onkel und eine Tante, die verheiratet seien. Die Familie besitze Grundstücke in Nangarhar sowie ein Wohnhaus und eine vermietete Wohnung in Kabul. Die Mutter des Beschwerdeführers habe im Jahr etwa 20.000,- bis 30.000,- Afghani vom Onkel erhalten, da dieser die in Nangarhar befindlichen Grundstücke bewirtschaftet habe. Seine Mutter befinde sich noch mit seinen Schwägerinnen im Wohnhaus der Familie in Kabul. Zu seiner Mutter stehe der Beschwerdeführer etwa einmal pro Monat in Kontakt. Er gab weiters an, in Nangarhar geboren und im Iran aufgewachsen zu sein. Im Jahr 2010 sei der Beschwerdeführer zurück nach Afghanistan, in die Stadt Kabul, gezogen. In Afghanistan habe er etwa sieben Jahre lang eine Grundschule besucht.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Bruder XXXX von unbekannten Personen bedroht und aufgefordert worden sei, ein Schriftstück zu unterschreiben, andernfalls würden diese Personen den Beschwerdeführer töten. Sein Bruder habe ihm von diesem Vorfall zunächst nicht berichtet. Zwei bis drei Tage später sei der Beschwerdeführer von bewaffneten und verhüllten Personen aus einem Auto heraus angesprochen worden. Sie hätten ihm mitgeteilt, dass sie eine Nachricht über seinen Vater hätten. Da der Beschwerdeführer sofort weggelaufen sei, sei es zu keiner Entführung gekommen. Seine Mutter habe daraufhin einen Zusammenhang zwischen diesen Vorfällen festgestellt und den Schwager in Deutschland kontaktiert. Die Familie habe daraufhin ein Auto und Schmuck verkauft, um die Flucht nach Europa zu finanzieren. Der Beschwerdeführer werde von seinem Onkel XXXX verfolgt. Er sei sicher, dass sein Onkel am Verschwinden seines Vaters beteiligt gewesen sei. Der Onkel habe sich geweigert, die der Familie des Beschwerdeführers zustehenden Grundstücksanteile abzutreten.

Der Beschwerdeführer legte diverse Integrationsunterlagen vor.

4. Am 17.01.2018 fand eine weitere niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt.

Der Beschwerdeführer führte aus, dass seine Familie etwa einen Monat nach der (ersten) Einvernahme vor dem BFA aus Afghanistan nach Pakistan habe flüchten müssen. Der Onkel habe die Familienmitglieder für den Fall, dass sie die Grundstückspapiere nicht unterzeichnen würden, mit dem Tod bedroht. Trotz der Flucht des Beschwerdeführers und seines Bruders bestehe weiterhin eine Verfolgungsgefahr durch den Onkel. Die Brüder hätten keinerlei Anknüpfungspunkte mehr in Afghanistan.

5. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung des Bescheides gab das BFA die entscheidungsrelevanten Angaben des Beschwerdeführers wieder und traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Es wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen nicht substantiiert habe darlegen können. Der Beschwerdeführer habe ein vages und abstraktes Vorbringen erstattet, welches inhaltsleer und bloß verallgemeinernd vorgebracht worden sei. Die vorgebrachte Bedrohungssituation entspreche offensichtlich nicht den Tatsachen. Der Beschwerdeführer und sein Bruder seien nicht in der Lage gewesen, detailgetreue Angaben über den Onkel zu machen, sodass die Kernfluchtgeschichte unglaubwürdig sei. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Familie mehrere Jahre unbehelligt in Afghanistan habe leben können und plötzlich wegen Grundstücksstreitigkeiten bzw. Erbschaftsstreitigkeiten verfolgt werden sollte. Auch sei es lebensfremd, dass der Beschwerdeführer seinen mutmaßlichen Entführern durch Weglaufen habe entkommen können, zumal es mehreren Erwachsenen jedenfalls gelungen wäre, den Beschwerdeführer zu entführen oder ihn zu Hause aufzusuchen.

Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in die Stadt Kabul, wo er die letzten Jahre gewohnt habe, zu seiner Familie zurückkehren könne. Der Beschwerdeführer verfüge über eine mehrjährige Schulbildung und sei jung, gesund, alleinstehend und arbeitsfähig und weise keine Risikofaktoren auf. Der Beschwerdeführer habe einige Jahre lang Einkünfte aus der Vermietung einer Wohnung und der Verpachtung von Grundstücken bezogen, sodass er auch nicht in eine ausweglose finanzielle Notlage geraten würde. Der Beschwerdeführer könne sich ebenfalls in Mazar-e Sharif oder in Herat niederlassen.

Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 06.04.2018 zugestellt.

6. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 01.03.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der XXXX amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.

7. Mit Schreiben vom 02.05.2018 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides des BFA.

Der Beschwerdeführer brachte vor, dass die Behörde den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt habe. Seine Angaben aus der zweiten Einvernahme am 17.01.2018 seien nicht berücksichtigt worden. Wie ausgeführt, seien die Mutter und die Schwägerinnen des Beschwerdeführers nach Pakistan geflüchtet und würden nicht mehr in Kabul leben. Auch sei eine Stellungnahme vom 01.02.2018 nicht gewürdigt worden. Der Beschwerdeführer habe sein Fluchtvorbringen ausführlich und detailliert vorgebracht und verwies auf die allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere in Kabul. Als Europa- und Iran-Rückkehrer sei er im Falle einer Rückkehr einer Bedrohung ausgesetzt. Der Beschwerdeführer sei bereits gut integriert, er besuche Deutschkurse und bereite sich aktuell auf seinen Pflichtschulabschluss vor. Er habe ehrenamtlich im XXXX sowie im XXXX des XXXX mitgearbeitet.

Der Beschwerdeführer legte weitere Integrationsunterlagen sowie Onlineartikel über die Situation in Afghanistan vor.

8. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 07.05.2018 mit Schreiben vom 03.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

9. Mit Email vom 19.11.2018 übermittelte der Beschwerdeführer sein Zeugnis über die bestandene Pflichtschulabschlussprüfung und weitere Integrationsunterlagen.

Das XXXX bestätigte mit Schreiben vom 25.09.2018 das regelmäßige Engagement des Beschwerdeführers als freiwilliger „Botschafter“ im Rahmen des Projektes „ XXXX “ seit Mai 2018.

Die XXXX , bestätigte mit Schreiben vom 18.09.2018 das regelmäßige Engagement des Beschwerdeführers als freiwilliger Mitarbeiter im Bereich der XXXX seit August 2018 im Ausmaß von vier Wochenstunden.

10. Mit Schreiben vom 30.11.2020 gab der Beschwerdeführer eine Vollmacht für XXXX bekannt.

11. Mit Schreiben vom 01.02.2021 beantragte der Beschwerdeführer die zeugenschaftliche Einvernahme seiner „Patenfamilie“ zum Beweis seines in Österreich erreichten Integrationsgrads. Weiters übermittelte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Integrationsunterlagen.

Der XXXX bestätigte mit Schreiben vom 03.08.2020 das regelmäßige Engagement des Beschwerdeführers als freiwilliger Mitarbeiter seit Juni 2019 im Ausmaß von 10-20 Wochenstunden.

Der Beschwerdeführer legte weiters einen Arztbrief von XXXX , Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie vom 27.01.2021 mit der Diagnose einer mittelgradigen depressiven Episode (F32.1) vor. Der Beschwerdeführer nimmt demnach die Medikamente Sertralin, Mirtazapin und Quetiapin regelmäßig ein.

Die PsychotherapeutIn XXXX bestätigte in einem Schreiben vom 27.01.2021, dass sich der Beschwerdeführer seit Oktober 2020, aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung, in regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung befinde.

12. Am 08.02.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde und die Möglichkeit hatte, diese umfassend darzulegen.

Der Beschwerdeführer führte zu seinem Gesundheitszustand aus, dass er unter Depressionen leide, oft weine und Alpträume habe, mit den verschriebenen Medikamenten gehe es ihm allerdings besser. Er befinde sich in therapeutischer Behandlung und gehe einmal pro Woche zu seiner Therapie. Der Beschwerdeführer führte aus, dass er die Medikamente Mirtazapin Hexal, 30mg, Sertralin Genericon, 100mg, Sertralin 1A Pharma, 50mg und Quetiapin pharma, 25mg regelmäßig und das Medikament Quetialan 100mg bei Bedarf einnehme. Er gab diesbezüglich auch an, dass es ihm psychisch bis zum Sommer 2020 gut gegangen sei, erst ab diesem Zeitpunkt habe er Probleme bekommen.

Der Beschwerdeführer führte aus, im Alter von 2-3 Jahren gemeinsam mit seinem Bruder XXXX und seiner Mutter, nach dem Verschwinden seines Vaters im Jahr 2002/2003, in den Iran gezogen zu sein. Nach etwa acht Jahren sei die Familie zurück nach Afghanistan gekehrt, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt habe. Er stehe mit seiner Mutter, welche aktuell in der Türkei lebe, regelmäßig etwa einmal pro Woche in Kontakt. Die in Deutschland lebende Schwester des Beschwerdeführers unterstütze die Mutter finanziell. Bis auf seinen Onkel und die angeheiratete Tante habe der Beschwerdeführer keine familiären Anknüpfungspunkte mehr in Afghanistan.

Nach Vorhalt der Angaben seines Bruders in dessen Verfahren führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Großvater Kinder mit drei verschiedenen Frauen gehabt habe. Sein Vater sei das einzige Kind von dessen Mutter, der Onkel stamme von einer anderen Frau, und mit der dritten Frau habe der Großvater fünf Söhne gehabt. Der Halbonkel XXXX sei der Feind der Familie, mit welchem es Probleme gegeben habe. XXXX , ein anderer Halbonkel, habe sich auf die Seite von XXXX gegen die Familie des Beschwerdeführers gestellt. Der älteste Bruder des Beschwerdeführers habe gemeinsam mit XXXX gearbeitet. Der Beschwerdeführer berichtigte, dass nicht nur ein Onkel, sondern jeder Halbonkel, der mit den Grundstücken in XXXX zu tun gehabt habe, der Mutter jährlich Geld ausbezahlt habe. Die Mieteinnahmen vom Haus und der Wohnung in Kabul erhalte ebenfalls die Mutter.

Hinsichtlich seines Fluchtvorbringens ergänzte der Beschwerdeführer, dass er am Heimweg von der Schule von drei bis vier bewaffneten Jugendlichen angesprochen worden sei. Sie hätten ihn aufgefordert, ins Auto einzusteigen, ihm Schokolade und Süßigkeiten angeboten und ihn mit einer Pistole bedroht. Nach dem Entführungsversuch habe der Beschwerdeführer noch etwa zwei Monate in Afghanistan gelebt. Er habe allerdings das Haus nicht mehr verlassen dürfen. Im Falle einer Rückkehr fürchte er, getötet zu werden. Die Männer hätten gesagt, dass sie die Familie des Beschwerdeführers in ganz Afghanistan finden würden und sie die Familienmitglieder, wie den Vater, verschwinden lassen würden. Seine Onkel hätten Kontakte zu kriminellen Banden und würden den Beschwerdeführer überall in Afghanistan finden.

Zu seinem Leben in Österreich führte der Beschwerdeführer aus, gemeinsam mit seinen zwei Brüdern zu leben. In Afghanistan habe der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinem Bruder XXXX gelebt, sein ältester Bruder habe lediglich drei Monate gemeinsam mit dem Beschwerdeführer im Iran gelebt.

Der Beschwerdeführer berichtete von seinem ehrenamtlichen Engagement in diversen Einrichtungen sowie von seinen bereits absolvierten Deutschkursen. Er habe bereits die Pflichtschulabschlussprüfung bestanden und besuche aktuell fünf Mal pro Woche einen Deutsch-B1 Kurs. Weiters wolle er eine Ausbildung zum Altenpfleger machen. Sein ältester Bruder unterstütze den Beschwerdeführer finanziell, indem er ihm regelmäßig Taschengeld gebe. Der Beschwerdeführer führte weiters aus, dass er die Ehegatten XXXX als seine Wahleltern bezeichne. Er habe zu seinen „Wahleltern“ eine sehr enge Beziehung und werde von ihnen finanziell unterstützt. Sie würden einander vier bis fünf Mal pro Woche sehen und Zeit miteinander verbringen.

Der Zeuge XXXX führte aus, den Beschwerdeführer durch XXXX , einen langjährigen Freund, kennen gelernt zu haben. Dieser habe ihn gefragt, ob er einen jungen Mann, welcher depressiv sei, zu ihm schicken dürfe. Der Beschwerdeführer habe jemanden zum Reden gebraucht. Seitdem würden sie etwa zwei Mal pro Woche gemeinsam afghanische Gerichte essen. Der Zeuge sehe den Beschwerdeführer insgesamt zwei bis vier Mal pro Woche. Seine Gattin helfe dem Beschwerdeführer regelmäßig beim Deutsch lernen. Der Zeuge bestätigte ausdrücklich die seiner Ansicht nach gute Integration und das große Interesse des Beschwerdeführers am Beruf des Altenpflegers. Er führte weiters aus, dass er für den Beschwerdeführer als Vertrauensperson eine wichtige Stütze sei, sie einander vertrauen würden und er dem Beschwerdeführer gerne helfe, da es diesem neue Möglichkeiten eröffne. Der Zeuge bezeichnete den Beschwerdeführer als äußerst hilfsbereiten, ehrlichen, armen und depressiven Burschen, der alles richtigmachen möchte.

Der Beschwerdeführer legte weitere Integrationsunterlagen sowie eine Bestätigung zur Arbeitsaufnahme im XXXX vom 01.02.2021 vor.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2        Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in

?        den Bezug habenden Verwaltungsakt,

?        das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem,

?        das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020,

?        die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018,

?        die EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis (Dezember 2020),

?        das ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 27.01.2021,

?        die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation AFGHANISTAN vom 01.12.2016: Depression, Psychiatrie, psychische Behandlung; Medikamente: Mirtazipan - Blue Fish und Lendorm,

?        die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation AFGHANISTAN vom 08.06.2017: Medikamente gegen psychotische Störung und Depressionen sowie

?        die aktuellen COVID-19 Zahlen zu Afghanistan OCHA, WHO: Strategic Situation Report: COVID-19 No. 90 (4 February 2021),

werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1      Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht ebenfalls Englisch, Deutsch und ein wenig Pashto. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Nangarhar geboren und lebte anschließend für kurze Zeit in Kabul. Im Alter von zwei bis drei Jahren zog er gemeinsam mit seinem Bruder XXXX und seiner Mutter in den Iran. Nach etwa acht Jahren kehrte die Familie nach Afghanistan, in die Stadt Kabul, zurück, wo der Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise lebte.

Der Vater des Beschwerdeführers ist seit etwa 2002 verschwunden. XXXX , der älteste Bruder des Beschwerdeführers, stellte am 12.07.2010 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 29.04.2011 wurde ihm vom Bundesasylamt der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Die einzige Schwester des Beschwerdeführers lebt in Deutschland. Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan sechs Onkel väterlicherseits, bei denen es sich um Halbbrüder seines Vaters handelt, und Tanten mütterlicherseits.

Im Eigentum der Kernfamilie des Beschwerdeführers stehen ein Wohnhaus und eine Wohnung in Kabul sowie Anteile an einem 40-50 Hektar großen Grundstück in Nangarhar. Die Mutter des Beschwerdeführers lebt in der Türkei und erhält die Mieteinnahmen der Liegenschaften in Kabul. Außerdem erhält sie pro Jahr 25.000 – 30.000 Afghani aus der Bewirtschaftung des Grundstücks in Nangarhar. Die finanzielle Situation der Familie des Beschwerdeführers ist für afghanische Verhältnisse gut.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine siebenjährige Schulbildung.

Der Beschwerdeführer leidet an einer mittelgradigen depressiven Episode (F32.1) und nimmt regelmäßig die Medikamente Mirtazapin Hexal, 30mg, Sertralin Genericon, 100mg, Sertralin 1A Pharma, 50mg und Quetiapin pharma, 25mg ein. Seit Oktober 2020 befindet er sich in psychotherapeutischer Behandlung.

Der Beschwerdeführer ist volljährig, arbeitsfähig und arbeitswillig.

Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer ist unbescholten.

2.2      Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Vater des Beschwerdeführers von seinem Geschäftspartner, seinen Halbbrüdern oder den Taliban entführt und getötet wurde.

Der Beschwerdeführer wurde wegen Grundstücksstreitigkeiten von seinem Onkel weder bedroht noch verfolgt. Es gab keinen Entführungsversuch von unbekannten Personen, welcher die Flucht des Beschwerdeführers aus Afghanistan ausgelöst hätte.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen konkreter Verfolgungs- oder Lebensgefahr iSd GFK verlassen.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan gemeinsam mit seinem Bruder XXXX und reiste schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 22.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2.3      Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen gemeinsam mit seinem Bruder XXXX nach Österreich ein und hält sich seit über fünf Jahren durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 22.12.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer lebt seit über fünf Jahren in gemeinsamen Haushalt mit seinen Brüdern in Österreich. Er erhält regelmäßig finanzielle und sonstige Unterstützung durch seinen ältesten Bruder XXXX .

Der Beschwerdeführer hat weitere nahe Bezugspersonen in Österreich. Zur seiner „Patenfamilie“ hat er eine vertrauensvolle Beziehung und verbringt mehrmals pro Woche seine Freizeit mit seinen „Pateneltern“. Dabei wird er von seiner „Patenfamilie“ wie ein Sohn bzw. Enkelsohn unterstützt. Zwischen der „Patenmutter“ XXXX , dem „Patenvater“ XXXX und dem Beschwerdeführer besteht eine quasifamiliäre Bindung.

Der Beschwerdeführer ist außerordentlich hilfsbereit, sehr gut in Österreich integriert und verfügt über Deutschkenntnisse auf B1-Niveau. Er besuchte in Österreich diverse Deutsch- und Integrationskurse und absolvierte seinen Pflichtschulabschluss.

Der Beschwerdeführer hat sich seit 2016 vielfältig ehrenamtlich in Österreich engagiert. Er fungierte als freiwilliger „Botschafter“ im Rahmen des Projektes „ XXXX “ des XXXX , arbeitete im XXXX und beim XXXX und engagierte sich regelmäßig ehrenamtlich als freiwilliger Mitarbeiter im Bereich der Sozialbegleitung der XXXX , im Ausmaß von vier Wochenstunden. Trotz seiner psychischen Probleme engagiert sich der Beschwerdeführer seit Juni 2019 im Ausmaß von 10-20 Wochenstunden im XXXX .

Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung und wird finanziell von seinem ältesten Bruder und der Familie XXXX unterstützt. Aufgrund seiner vielen Kontakte konnte der Beschwerdeführer, trotz seiner psychischen Probleme, eine Bestätigung zur Arbeitsaufnahme vorlegen.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich jedenfalls ein schützenswertes Privatleben iSd. Art 8 EMRK.

2.4      Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan weder aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Volksgruppenzugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von anderen Personen oder Gruppen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten mit den Halbbrüdern seines Vaters weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in die körperliche Integrität durch seine Onkel oder durch andere Personen.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts im Iran und in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine „westliche“ Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden wäre.

Der Beschwerdeführer leidet nicht an einer lebensbedrohlichen Krankheit.

Er kann daher nach Afghanistan, in seine Herkunftsprovinz Kabul, zurückkehren.

Die Stadt Kabul ist unter Regierungskontrolle, dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe statt. Im letzten Quartal des Jahres 2019 sowie in den ersten Monaten des Jahres 2020 wurden in der Hauptstadt weniger Anschläge verübt. Seit dem zweiten Quartal 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen. Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen, sodass die Erreichbarkeit weitgehend sicher erfolgen kann.

Der Beschwerdeführer verfügt über ein familiäres und soziales Netzwerk in Afghanistan und kann mit finanzieller Unterstützung seiner Familie rechnen. Ein Onkel lebt im Sommer in Kabul. Die Kernfamilie des Beschwerdeführers besitzt ein Wohnhaus und eine Wohnung in Kabul, sodass sein dringendes Wohnbedürfnis befriedigt wäre. Er könnte ebenfalls bei seinem Onkel zumindest vorübergehend unterkommen. Durch seine vergleichsweise wohlhabende Familie wäre der Beschwerdeführer nicht sofort auf eine Arbeit angewiesen, sodass seine grundlegendsten Bedürfnisse mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit befriedigt werden könnten, bis er eine Arbeit gefunden hat und sich selbst versorgen kann. Der Beschwerdeführer verfügt zwar aufgrund seiner ehrenamtlichen Tätigkeiten nur über geringe Arbeitserfahrung, jedoch über eine siebenjährige Schulbildung und Sprachkenntnisse in Dari, Pashto, Englisch und Deutsch.

Sollte der Beschwerdeführer nicht in seine Herkunftsprovinz zurückkehren wollen, steht ihm weiters die Stadt Mazar-e Sharif als innerstaatliche Ansiedlungsalternative zur Verfügung. Die Stadt Herat steht derzeit nicht als innerstaatliche Ansiedlungsalternative zur Verfügung.

Die Sicherheitslage sowohl in Herat als auch in Mazar-e Sharif kann nicht gänzlich isoliert von den anderen Distrikten der Provinzen Herat und Balkh betrachtet werden. Die Sicherheitslage hat sich sowohl in der Provinz Herat als auch insbesondere in der Provinz Balkh in den letzten Jahren stetig verschlechtert. Auch in Herat-Stadt und in Mazar-e Sharif wurde eine Verschlechterung der Sicherheitslage in den letzten Jahren dokumentiert. Trotz des Anstiegs der Kriminalität und der sicherheitsrelevanten Vorfälle gelten diese Städte noch als vergleichsweise sicher. Beide Städte verfügen über internationale Flughäfen. Die Anreise nach Mazar-e Sharif kann weitgehend gefahrfrei erfolgen. Bezüglich Herat kann aufgrund divergierender Berichte nicht festgestellt werden, ob die Anreise vom Flughafen in die Stadt ausreichend sicher erfolgen kann.

Die Wohnraum-, Arbeitsmarkt- und Versorgungslage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif waren bereits vor der Covid-19 Pandemie angespannt. Die sozioökonomischen Auswirkungen von Covid-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit. Die Preisanstiege für Lebensmittel scheinen seit April 2020 zwar nachgelassen zu haben, wobei die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) zwischen März und November 2020 deutlich (um 18-31%) gestiegen sind. Laut Prognose des FEWS befindet sich die Versorgungslage in Mazar-e Sharif im Zeitraum Februar 2021 bis Mai 2021 in der zweitniedrigsten Stufe 2 „stressed“ (Stufe 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“) des Klassifizierungssystems für Nahrungsmittelversorgung und wurde daher von Stufe 3 „Krise“ zurückgestuft.

Laut Prognose des FEWS befindet sich Herat im Zeitraum Februar 2021 bis Mai 2021 in der Stufe 3 des Klassifizierungssystems für Nahrungsmittelversorgung. In Stufe 3, auch „Crisis“ genannt, weisen Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung auf oder sind nur geringfügig in der Lage, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken – und dies nur indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien. Die Nahrungsmittelversorgung hat sich daher verschlechtert, da sie von Stufe 2 „stressed“ wieder auf Stufe 3 hinaufgestuft wurde.

Am Arbeitsmarkt war es zwar schwierig, da eine große Anzahl an Menschen aus verschiedensten Regionen insbesondere nach Mazar-e Sharif kommen, die größtenteils ebenfalls auf Arbeitssuche sind, aber insbesondere im Bereich der Gelegenheitsarbeiten ohne besondere Vorkenntnisse möglich, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und auf diese Weise ein Einkommen auf dem dort üblichen Niveau zu erzielen. Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. In der Stadt Herat sind die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung Tagelöhner, welche Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt in besonderem Ausmaß ausgesetzt sind. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne verfügbare Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig.

Der Beschwerdeführer verfügt zwar über keine Ortskenntnisse in Mazar-e Sharif, er lebte jedoch etliche Jahre lang in Kabul, sodass er mit dem Leben in einer Großstadt vertraut ist. Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig, da er sich trotz seines jungen Alters nach der Ausreise aus Afghanistan, wenn auch gemeinsam mit seinem älteren Bruder, ohne entsprechende Sprachkenntnisse behaupten konnte und verfügt durch seinen Aufenthalt in Österreich über mehr Lebenserfahrung sowie durch sein vielfältiges Engagement über geringfügige Arbeitserfahrung in verschiedenen Bereichen, welche ihm insbesondere in der aktuell angespannten Situation behilflich sein werden, um ein geregeltes Einkommen zu sichern.

Die medizinische Versorgung des Beschwerdeführers wäre sowohl in Kabul, als auch in Mazar- e Sharif gewährleistet. Obwohl sich die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit nur langsam entwickelt, existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. Die WHO geht davon aus, dass in ganz Afghanistan im öffentlichen, wie auch privaten Sektor insgesamt 320 Spitäler existieren, an welche sich Personen mit psychischen Problemen wenden können. Im Regional Hospital Darwazi Balkh in Mazar-e Sharif und im Karte Sae Mental Hospital in Kabul können außerdem Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen in Anspruch genommen werden. In Kabul gibt es weiters ein privates psychiatrisches Krankenhaus. Die vom Beschwerdeführer eingenommenen Medikamente bzw. deren Wirkstoffe sind ebenfalls in Kabul und Mazar-e Sharif verfügbar. Aufgrund seiner relativ wohlhabenden Familie könnte sich der Beschwerdeführer die benötigten Medikamente leisten. Hinzu kommt, dass die Familie des Beschwerdeführers Kontakte zu medizinischem Personal hat, die im Bedarfsfall der Zugang zu medizinischer Versorgung erleichtern würden. Ein Bruder des Beschwerdeführers und dessen Ehefrau haben in Afghanistan Medizin studiert, sodass davon auszugehen ist, dass in Afghanistan noch Kontakte zu Studien- und Arbeitskollegen bestehen bzw. diese leicht wiederhergestellt werden können. Nicht zuletzt ist auch der Schwager des Beschwerdeführers, der mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, praktizierender Arzt in Deutschland und ist auch von diesem davon auszugehen, dass er noch über entsprechende Kontakte in den Herkunftsstaat verfügt, die den Beschwerdeführer – sofern dies notwendig würde – bei einer allfällig notwendigen Behandlung unterstützen würden.

Nach Ansicht des Gerichtes wäre der Beschwerdeführer, aufgrund seiner individuellen Verhältnisse, trotz seiner psychischen Erkrankung und trotz der aktuell angespannten Wirtschaftslage im Stande, sich grundsätzlich und auch in der derzeitigen Situation selbstständig eine Existenz in Afghanistan aufzubauen. Wie von UNHCR gefordert, wäre der notwendige Zugang zu Nahrungsmitteln, einer Arbeit, einer Unterkunft und zu medizinsicher Versorgung, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten, durch die finanzielle Unterstützung seiner Familie, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit für den Beschwerdeführer gewährleistet. Das erkennende Gericht geht davon aus, dass er in den genannten Städten ein Leben ohne unbillige Härten führen könnte und nicht in eine ausweglose Situation geraten würde.

Ausgehend von aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und der Berichte des EASO aus Dezember 2020 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, ist dem Beschwerdeführer aufgrund seiner individuellen Verhältnisse eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere in seine Herkunftsprovinz Kabul und alternativ in Mazar-e Sharif zumutbar.

2.5      Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB) mit den dort zitierten Quellen

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 27.01.2021,

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation AFGHANISTAN vom 01.12.2016: Depression, Psychiatrie, psychische Behandlung; Medikamente: Mirtazipan - Blue Fish und Lendorm,

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation AFGHANISTAN vom 08.06.2017: Medikamente gegen psychotische Störung und Depressionen

-        OCHA, WHO: Strategic Situation Report: COVID-19 No. 90 (4 February 2021)

2.5.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).

2.5.1.1 Aktuelle Entwicklungen:

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).

2.5.1.2 COVID-19:

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf, einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren.

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 04.02.2021 55.256 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 2.407 Tote. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

2.5.2   Allgemeine Wirtschaftslage:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze.

Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Auswirkungen von Covid-19 und der damit einhergehende Lockdown hatten katastrophale Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der afghanischen Bürger. Aufgrund des Lockdowns verloren viele Menschen Arbeit und Einkommen. Die Inflation der Preise bei Grundnahrungsmitteln wie Öl und Kartoffeln verschärfte die wirtschaftliche Notlage eines erheblichen Teils der afghanischen Bevölkerung. Nach Angaben des Biruni-Instituts haben sechs Millionen Menschen aufgrund der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren (ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020)

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 22).

Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst. Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind (LIB, Kapitel 3 und 22).

Gemäß dem INFORM-COVID-19-Risk-Index der Europäischen Kommission ist Afghanistan das Land mit dem fünfthöchsten Risiko von 190 untersuchten Ländern (nach der Zentralafrikanischen Republik, Somalia, Südsudan und Tschad). Dieser Index bewertet Länder anhand dessen, wie sehr sie von humanitären Krisen und Katastrophen betroffen sind und welche Kapazitäten sie haben, um diese zu bewältigen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 06.07.2020).

Die Weltbank geht in einem jüngst veröffentlichten Bericht davon aus, dass die Armutsrate im Jahr 2020 auf über 72 % steigen wird. Grund seien die wegen der Corona-Krise gesunkenen Einkommen bei gleichzeitig steigenden Lebensmittelpreisen. Die Aussichten für die afghanische Wirtschaft seien düster. Präsident Ghani geht davon aus, dass geschätzte 90% der Bevölkerung unterhalb der Armutsrate von 2 US-Dollar pro Tag leben (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 20.07.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 22).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Tagelöhners in Afghanistan variiert zwischen 100 AFN und 400 AFN pro Tag (LIB, Kapitel 22).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.). Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).

2.5.3   Medizinische Versorgung:

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden (LIB, Kapitel 23).

Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (LIB, Kapitel 23).

Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab - mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. WHO und USAID zählten zwischen Jänner und August 2020 30 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen (LIB, Kapitel 23).

Das Jebrael-Gesundheitszentrum im Nordwesten der Stadt Herat bietet für rund 60.000 Menschen im dicht besiedelten Gebiet mit durchschnittlich 300 Besuchern pro Tag grundlegende Gesundheitsdienste an. Laut dem Provinzdirektor für Gesundheit in Herat verfügte die Stadt im April 2017 über 65 private Gesundheitskliniken, unter anderem das staatliche Herat Regional Hospital. In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken. Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patienten in dieses Krankenhaus überwiesen. Für das durch einen Brand zerstörte Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses (LIB, Kapitel 23).

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte, wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesund

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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