TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/14 W265 2204136-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.04.2021
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Entscheidungsdatum

14.04.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W265 2204140-1/20E
W265 2204134-1/20E
W265 2204136-1/11E

W265 2204138-1/11E

W265 2204142-1/11E

W265 2240320-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX , 5.) XXXX , geb. XXXX , und 6.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.07.2018 und (ad 6.) 10.02.2021, Zlen. 1.) XXXX , 2.) XXXX , 3.) XXXX , 4.) XXXX , 5.) XXXX und 6.) XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Den Beschwerden wird stattgegeben und es wird XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 sowie XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft

Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind Ehegatten, die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer sind ihre gemeinsamen minderjährigen Kinder. Die Erst- bis Viertbeschwerdeführer reisten gemeinsam in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 17.12.2015 Anträge auf internationalen Schutz.

2. Am 17.12.2015 fanden vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftlichen Erstbefragungen der Erst- und Zweitbeschwerdeführer statt. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen an, afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Usbeken und Muslim zu sein. Er stamme aus der Provinz Takhar und habe zuletzt in der Landwirtschaft gearbeitet. Zu seinem Fluchtgrund gab er an, sein Onkel arbeite mit den Taliban zusammen. Dieser sei zu ihm nachhause gekommen und habe gesagt, dass er mit den Taliban am Dschihad teilnehmen müsse, ansonsten würde er ihn töten. Sein Vater habe Angst bekommen und seine Ausreise organisiert. Er habe Angst, dass er umgebracht werde, wenn er nicht in den Dschihad ziehe.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab im Wesentlichen an, afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Usbeken und Muslimin zu sein. Sie stamme aus der Provinz Takhar und sei Hausfrau gewesen. Zu ihrem Fluchtgrund gab sie an, in ihrer Heimat habe sie ein Kommandant der Taliban namens „ XXXX “ mit Zwang heiraten wollen. Sie habe das nicht gewollt und sei außerdem schon mit ihrem Mann verheiratet. Dieser XXXX sei zu ihnen nachhause gekommen und habe zu ihr und ihrem Bruder gesagt, dass er sie umbringen werde, wenn ihr Bruder sie wegbringe. Daraufhin seien sie geflohen. Sie habe Angst, dass dieser XXXX seine Drohung wahrmache und sie umbringe.

3. Am XXXX wurde die Fünftbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Sie stellte mit Eingabe vom 22.12.2016 durch die Erst- und Zweitbeschwerdeführer als ihre gesetzlichen Vertreter einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren. Mit dem Antrag wurden die Geburtsurkunde und ein Meldezettel vorgelegt.

4. Am 09.04.2018 wurden die Erst- und Zweitbeschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Der Erstbeschwerdeführer gab zu seinen persönlichen Verhältnissen ergänzend im Wesentlichen an, dass er im Dorf XXXX in der Provinz Takhar geboren sei, wo er bis zur Ausreise aus Afghanistan gelebt habe. Er habe keine Schule besucht und in der Landwirtschaft seines Vaters gearbeitet. Vor ca. acht Jahren habe er die Zweitbeschwerdeführerin geheiratet. Er habe drei Kinder, von denen zwei in Afghanistan und eines in Österreich geboren seien. Seine Eltern, ein Bruder und drei Schwestern würden noch in der Heimatprovinz leben, eine Schwester lebe im Iran.

Hinsichtlich seines Fluchtgrundes führte der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst aus, Mufti XXXX sei sein Cousin, er sei ein Taleb. Er sei zu ihm nachhause gekommen und habe gewollt, dass er mit der Waffe mit ihm im Jihad kämpfe. Er habe gesagt, der Erstbeschwerdeführer müsse unbedingt kommen. Dann habe er gedroht, er würde ihn überall finden, wenn er nicht kommen würde. Er hätte Munition zu den Taliban bringen sollen. Das habe er nicht machen wollen, deshalb sei er geflohen.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab zu ihren persönlichen Verhältnissen ergänzend im Wesentlichen an, dass sie ebenfalls im Dorf XXXX in der Provinz Takhar geboren sei. Als sie klein war, sei sie mit ihrer Familie in den Iran ausgewandert, später seien sie in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Sie wisse nicht genau, wie lange sie im Iran gewesen seien. Sie habe keine Schule besucht und im Haushalt gearbeitet. Mit 18 Jahren habe sie den Erstbeschwerdeführer geheiratet. Sie habe drei Kinder. Ihre Eltern und zwei Schwestern würden noch in der Heimatprovinz leben, zwei Brüder seien in Österreich.

Hinsichtlich ihres Fluchtgrundes führt die Zweitbeschwerdeführerin zusammengefasst aus, sie sei in Afghanistan von einem Kommandanten namens XXXX belästigt worden, er habe sie zwangsheiraten wollen. Ihr Bruder habe eine Beziehung zur Schwester des Kommandanten gehabt und diese sei schwanger geworden. XXXX habe ihren Bruder deshalb bedroht und gesagt, er würde entweder ihn töten oder die Zweitbeschwerdeführerin heiraten. Er sei zu ihnen nachhause gekommen, habe sie geschlagen und mitnehmen wollen. Er habe sie auf den Kopf und ins Gesicht geschlagen, sie sei bewusstlos gewesen. Dann sei sie mit ihrem Bruder aus der Ortschaft geflohen.

5. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies die Anträge der Erst- bis Fünftbeschwerdeführer mit Bescheiden vom 23.07.2018 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurden den Beschwerdeführern Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Schließlich sprach die Behörde aus, dass gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen betrage (Spruchpunkt VI.).

6. Gegen diese Bescheide erhoben die Erst- bis Fünftbeschwerdeführer mit Eingabe vom 21.08.2018 durch ihre bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, die Beschwerdeführer hätten ihre Heimat wegen Verfolgung durch die Taliban und durch den Kommandanten XXXX verlassen. Die afghanischen Sicherheitsbehörden seien nicht gewillt bzw. imstande, ihnen Schutz zu bieten. Die Erst- und Zweitbeschwerdeführer hätten ihre Fluchtgründe detailliert, widerspruchsfrei und nachvollziehbar dargelegt. Hier in Österreich hätten sie erstmals die Möglichkeit, ohne Angst vor Verfolgung frei zu leben. Die Zweitbeschwerdeführerin genieße hier die Freiheiten, die sich speziell ihr als Frau bieten würden. Sie habe Deutschkurse besucht, aufgrund ihrer mangelnden Schulbildung habe sie jedoch Schwierigkeiten beim Erlernen der Sprache. Sie sei bemüht, sich hier zu integrieren. Außerdem sei sie glücklich, ihr Gesicht nicht mehr verhüllen zu müssen. Sie verlasse das Haus ohne männliche Begleitung und gehe mit ihren Kindern spazieren und einkaufen. Die Beibehaltung dieser Lebensweise wäre in Afghanistan undenkbar. Die Lage der Frauen und die Sicherheitslage generell seien nach wie vor prekär, wozu auf diverse Länderberichte verwiesen wurde.

7. Die Beschwerde der Erst- bis Fünftbeschwerdeführer und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 23.08.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.

8. Mit Eingabe vom 24.09.2020 legten die Erst- und Zweitbeschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertreterin zwei Unterstützungsschreiben vor.

9. Am XXXX wurde der Sechstbeschwerdeführer in Österreich geboren. Er stellte mit Eingabe vom 05.11.2020 durch den Erstbeschwerdeführer als seinen gesetzlichen Vertreter einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren. Mit dem Antrag wurden die Geburtsurkunde und ein Meldezettel vorgelegt.

10. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.01.2021 wurden die Beschwerdeverfahren der Erst- bis Fünftbeschwerdeführer der zuvor zuständigen Gerichtsabteilung W167 abgenommen und der nunmehrigen Gerichtsabteilung W265 neu zugewiesen.

11. Am 10.02.2021 wurde der Erstbeschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich zum Asylantrag des Sechstbeschwerdeführers einvernommen. Er gab dabei an, dass dieser keine eigenen Fluchtgründe habe, es würden dieselben Gründe wie für die restliche Familie gelten.

12. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Sechstbeschwerdeführers mit Bescheid vom 10.02.2021 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Schließlich sprach die Behörde aus, dass gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

13. Mit Eingabe vom 22.02.2021 beantragten die Erst- und Zweitbeschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung die Einvernahme von XXXX als Zeugin zum Thema ihrer Integration in Österreich.

14. Mit Eingabe vom 03.03.2021 beantragten die Erst- und Zweitbeschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung auch die Einvernahme von XXXX als Zeugin zum Thema ihrer Integration in Österreich.

15. Gegen den Bescheid vom 10.02.2021 erhob der Sechstbeschwerdeführer mit Eingabe vom 08.03.2021 durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde.

16. Die Beschwerde des Sechstbeschwerdeführers und der Bezug habenden Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 11.03.2021 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.

17. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 15.03.2021 in den gemäß § 39 Abs. 2 AVG zur gemeinsamen Verhandlung verbundenen Beschwerdeverfahren eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der die Erst- und Zweitbeschwerdeführer ausführlich befragt wurden. Als Zeugin zur Integration der Beschwerdeführer wurde XXXX einvernommen. Die Beschwerdeführer legten Integrationsunterlagen und Unterstützungsschreiben vor. Das Bundesverwaltungsgericht brachte aktuelle Länderberichte in das Verfahren ein.

Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.

18. Mit Eingabe vom 30.03.2021 erstatteten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Lage der Frauen innerhalb der patriarchalen, nach Stammesstrukturen organisierten afghanischen Gesellschaft nach wie vor als äußerst prekär anzusehen sei. Die Zweitbeschwerdeführerin habe im Laufe des Verfahrens schlüssig und frei von Widersprüchen dargelegt, dass sie einen westlich orientierten Lebensstil pflege, somit zu sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen gehöre und bei einer Rückkehr nach Afghanistan asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätte. Sie habe die Freiheiten, die Frauen in Österreich zukämen, gerne angenommen. Sie und ihr Mann würden beide einen Deutschkurs besuchen und sich dazu in der Kinderbetreuung abwechseln. Sie habe auch ein Deutschzertifikat erlangt. Die Aufgaben im Haushalt würden zwischen ihnen aufgeteilt und sie würden gemeinsam entscheiden, wofür sie ihr Geld ausgeben. Wenn es für sie wichtig sei, könne sich die Zweitbeschwerdeführerin auch gegenüber ihrem Mann mit selbstständigen Entscheidungen durchsetzen. Sie habe etwa durchgesetzt, dass die Familie von einem Flüchtlingsheim in eine private Wohnung übersiedle. Sie verfüge über eigenes Geld und ein eigenes Telefon. Die Zweitbeschwerdeführerin habe aufgehört, das Kopftuch zu tragen, kleide sich westlich und schminke sich, wenn sie das Haus verlasse. Weiters wolle sie in einer Bäckerei arbeiten, sobald ihr jüngstes Kinder alt genug sei, in den Kindergarten zu gehen. Sie möchte ein selbstbestimmtes Leben führen, was in Afghanistan nicht möglich wäre. Auch für ihre Töchter wünsche sie sich ein freies und selbstbestimmtes Leben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer und ihren Fluchtgründen:

Die Beschwerdeführer tragen die im Spruch genannten Namen und sind an den im Spruch genannten Daten geboren. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind Ehegatten, die Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer sind ihre gemeinsamen minderjährigen Kinder.

Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Usbeken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Ihre Muttersprache ist Usbekisch.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden im Dorf XXXX in der Provinz Takhar geboren, wo sie bei ihren jeweiligen Familien aufwuchsen. Sie sind weitschichtig miteinander verwandt. Sie heirateten ca. 2009 und lebten danach im Haus der Familie des Erstbeschwerdeführers. 2011 und 2013 wurden in XXXX die Drittbeschwerdeführerin und der Viertbeschwerdeführer geboren.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Afghanistan keine Schule besucht und keine Berufsausbildung absolviert. Der Erstbeschwerdeführer arbeitete in der Landwirtschaft seiner Familie, die Zweitbeschwerdeführerin war Hausfrau.

Der Erstbeschwerdeführer verließt Afghanistan 2013 und lebte ca. zwei Jahre in der Türkei. Die Zweit- bis Viertbeschwerdeführer verließen Afghanistan 2015 und gingen ebenfalls in die Türkei. Danach reiste die Familie gemeinsam in Österreich ein.

Die Erst- bis Viertbeschwerdeführer stellten am 17.12.2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Für die in Österreich geborenen Fünft- und Sechstbeschwerdeführer wurden am 22.12.2016 bzw. 05.11.2020 Anträge auf internationalen Schutz gestellt.

Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich um auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Diese von der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich angenommene „westliche“ Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Es kann von ihr nicht erwartet werden, diese Lebensweise in Afghanistan zu unterdrücken oder überhaupt abzulegen, um dort nicht physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020, zur Lage der Frauen in Afghanistan:

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 19.1).

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (LIB, Kapitel 19.1).

Erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen. Ob Frauen berufstätig sind oder nicht, hängt vor allem vom Verhalten ihrer Familien, wie auch ihrem Ausbildungsniveau ab. Neben dem allgemeinen Mangel an Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der Arbeitsmarktlage und Jobvoraussetzungen, welche Frauen aufgrund der historischen Benachteiligung bei der Ausbildung von Mädchen schwerer erfüllen können als Männer, sind es vor allem kulturelle Hindernisse die als Problemfelder gelten und Frauen von einer (bezahlten) Arbeitstätigkeit abhalten. Frauen berichten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben – sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen oder gewöhnlichen afghanischen Männern. Für das Jahr 2020 wurde der Anteil der arbeitenden Frauen von der Weltbank mit 22,8 % angegeben (LIB, Kapitel 19.1).

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z. B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (LIB, Kapitel 19.1).

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Häusliche Gewalt wird Berichten zufolge vor Gericht nicht als legitimer Grund für eine Scheidung angesehen. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den ’Familienfrieden’ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Im Fall einer Scheidung wird häufig die Frau als alleinige Schuldige angesehen. Auch ist es verpönt, Probleme außerhalb der Familie, vor Gericht, zu lösen (LIB, Kapitel 19.1).

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch die weit verbreitete häusliche Gewalt. Das EVAW sowie Ergänzungen im Strafgesetzbuch werden jedoch nur unzureichend umgesetzt. Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie. Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung; Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug von Erbschaft (LIB, Kapitel 19.1).

Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen - auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert. Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor. Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch; obwohl die Regierung gewisse Angelegenheiten, die unter EVAW fallen, auch über die EVAW-Strafverfolgungseinheiten umsetzt. Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie (8.2015-12.2017) mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, werden Ehrenmorde und andere schwere Straftaten von EVAW-Institutionen und NGOs oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme verwiesen (LIB, Kapitel 19.1).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist, unabhängig von der Ethnie, weit verbreitet und kaum dokumentiert. Von den im Jahre 2019 4.693 durch AIHRC dokumentierten Fällen von Gewalt gegen Frauen waren 194 (4,1%) sexueller Gewalt zuzuschreiben. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90 % innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt und kommen auch weiterhin vor. Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (LIB, Kapitel 19.1).

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet, wobei die Datenlage hierzu sehr schlecht ist. Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18. Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden. In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Das verhindert, dass Mädchen vor dem Alter von fünfzehn Jahren heiraten. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht. Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert. Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10 % reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42 % der Haushalte ist mindestens eine Person unter 18 Jahren verheiratet (LIB, Kapitel 19.1).

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22 % (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25 % aller Frauen gerne Familienplanung betreiben. Dem Strafgesetzbuch zufolge ist das Verteilen von Kondomen zulässig, jedoch beschränkte die Regierung die Verbreitung nur auf verheiratete Paare. Das Gesundheitsministerium bietet Sensibilisierungsmaßnahmen u. a. für Frauen und verteilt Arzneimittel (Pille). In Herat-Stadt und den umliegenden Distrikten steigt die Zustimmung dafür und es gibt Frauen, welche die Pille verwenden; in den ländlichen Gebieten hingegen stoßen solche Maßnahmen meistens auf Unverständnis und werden nicht akzeptiert. Internationale NGOs und das Gesundheitsministerium bieten hauptsächlich in den Geburtenabteilungen der Krankenhäuser Aufklärungskampagnen durch Familienplanungsberater an (LIB, Kapitel 19.1).

Betreffend die Reisefreiheit von Frauen bewegen sich die Aussagen der Quellen innerhalb einer gewissen Bandbreite. Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen definitiv eingeschränkt. Die einen Quellen formulieren, dass Frauen sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen können. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt. Nach Aussage einer NGO-Vertreterin hingegen kann sie selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab nicht so streng gehandhabt wie in den umliegenden Gegenden oder in anderen Provinzen. Generell hängt das Ausmaß an Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit der Frauen unter anderem vom Wohnort, der Einstellung ihrer Familien, der Sicherheitslage und dem Bildungsgrad ab. In ländlichen Gebieten und Gebieten unter Kontrolle von regierungsfeindlichen Gruppierungen werden Frauen, die soziale Normen missachten, beispielsweise durch das Nicht-Tragen eines Kopftuches oder einer Burka, bedroht und diskriminiert (LIB, Kapitel 19.1.).

1.2.2. Auszüge aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (Hervorhebungen nicht im Original):

„Die Fähigkeit und Bereitschaft des Staates, Zivilisten vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen

Sogar dort, wo der rechtliche Rahmen den Schutz der Menschenrechte vorsieht, bleibt die Umsetzung der nach nationalem und internationalem Recht bestehenden Verpflichtung Afghanistans diese Rechte zu fördern und zu schützen, in der Praxis oftmals eine Herausforderung. Die Regierungsführung Afghanistans und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit werden als besonders schwach wahrgenommen.

Die Fähigkeit der Regierung, die Menschenrechte zu schützen, wird durch Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) untergraben. Ländliche und instabile Gebiete leiden Berichten zufolge unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden. Von der Regierung ernannte Richter und Staatsanwälte seien oftmals aufgrund der Unsicherheit nicht in der Lage, in diesen Gemeinden zu bleiben. Der UN-Ausschuss gegen Folter brachte seine Sorge darüber zum Ausdruck, dass die Regierung keine geeigneten Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten vor Repressalien für ihre Arbeit ergreift.

Beobachter berichten von einem hohen Maß an Korruption, von Herausforderungen für effektive Regierungsgewalt und einem Klima der Straflosigkeit als Faktoren, die die Rechtsstaatlichkeit schwächen und die Fähigkeit des Staates untergraben, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten. Berichten zufolge werden in Fällen von Menschenrechtsverletzungen die Täter selten zur Rechenschaft gezogen und für die Verbesserung der Übergangsjustiz besteht wenig oder keine politische Unterstützung.190 Wie oben angemerkt, begehen einige staatliche Akteure, die mit dem Schutz der Menschenrechte beauftragt sind, einschließlich der afghanischen nationalen Polizei und der afghanischen lokalen Polizei, Berichten zufolge in einigen Teilen des Landes selbst Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Berichten zufolge betrifft Korruption viele Teile des Staatsapparats auf nationaler, Provinz- und lokaler Ebene. Es wird berichtet, dass afghanische Bürger Bestechungsgelder zahlen müssen, um öffentliche Dienstleistungen zu erhalten, etwa dem Büro des Provinzgouverneurs, dem Büro des Gemeindevorstehers und der Zollstelle. Innerhalb der Polizei, so heißt es, sind Korruption, Machtmissbrauch und Erpressung ortstypisch. Das Justizsystem sei auf ähnliche Weise von weitverbreiteter Korruption betroffen.

Berichten zufolge wenden sich lokale Gemeinschaften in einigen Gebieten an parallele Justizstrukturen, etwa örtliche Räte oder Ältestenräte oder Gerichte der Taliban, um zivile Streitfälle zu regeln. UNAMA stellt allerdings fest, dass diese Strukturen den Gemeinschaften in der Regel aufgezwungen werden und dass die in diesem Rahmen verhängten Strafen wie Hinrichtungen und Amputationen nach afghanischem Recht kriminelle Handlungen darstellen.“

„Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben
Die Regierung hat seit 2001 eine Reihe von Schritten zur Verbesserung der Situation der Frauen im Land unternommen, darunter die Verabschiedung von Maßnahmen zur Stärkung der politischen Teilhabe der Frauen und die Schaffung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten. Allerdings stieß die Aufnahme internationaler Standards zum Schutz der Rechte der Frauen in die nationale Gesetzgebung immer wieder auf Widerstände. Das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen wurde 2009 durch Präsidialerlass verabschiedet, doch lehnten es konservative Parlamentsabgeordnete und andere konservative Aktivisten weiterhin ab. Das überarbeitete Strafgesetzbuch Afghanistans, das am 4. März 2017 mit Präsidialerlass verabschiedet wurde, enthielt ursprünglich alle Bestimmungen des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen und stärkte die Definition des Begriffs Vergewaltigung. Jedoch wies Präsident Ghani das Justizministerium im August 2017 angesichts der Ablehnung durch die Konservativen an, das diesem Gesetz gewidmete Kapitel aus dem neuen Strafgesetzbuch zu entfernen. Das neue Strafgesetzbuch trat im Februar 2018 in Kraft, während in einem Präsidialerlass klargestellt wurde, dass das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen von 2009 als eigenes Gesetz weiterhin Geltung hat.

Laut Berichten, halten sich die Verbesserungen in der Lage der Frauen und Mädchen insgesamt sehr in Grenzen. Laut der Asia Foundation erschweren ‚der begrenzte Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, ungerechte Bestrafungen für ‚Verbrechen gegen die Sittlichkeit‘, ungleiche Teilhabe an der Regierung, Zwangsverheiratung und Gewalt‘ nach wie vor das Leben der Frauen und Mädchen in Afghanistan. Depressionsraten aufgrund von häuslicher Gewalt und anderen Menschenrechtsverletzungen nehmen Berichten zufolge unter afghanischen Frauen zu. Es wird berichtet, dass 80 Prozent der Selbstmorde in Afghanistan von Frauen begangen werden und sich manche von ihnen durch Selbstverbrennung das Leben nehmen.

Die Unabhängige Menschenrechtskommission für Afghanistan (AIHRC) stellte fest, dass Gewalt gegen Frauen noch immer eine ‚weit verbreitete, allgemein übliche und unleugbare Realität‘ ist und dass Frauen in unsicheren Provinzen und im ländlichen Raum besonders gefährdet durch Gewalt und Missbrauch sind. Es wird berichtet, dass derartige Gewaltakte sehr oft straflos bleiben. Sexuelle Belästigung und die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleiben, so die Berichte, endemisch.

Für Frauen ist die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Trotz einiger Fortschritte sind Frauen Berichten zufolge überproportional von Armut, Analphabetismus und schlechter Gesundheitsversorgung betroffen.

Beobachter berichten, dass Gesetze zum Schutz der Frauenrechte weiterhin nur langsam umgesetzt werden, vor allem was das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen betrifft. Das Gesetz stellt 22 gegen Frauen gerichtete gewalttätige Handlungen und schädliche traditionelle Bräuche, einschließlich Kinderheirat, Zwangsheirat sowie Vergewaltigung und häusliche Gewalt, unter Strafe und legt die Bestrafung der Täter fest. Den Behörden fehlt Berichten zufolge jedoch der Wille, das Gesetz umzusetzen. Dementsprechend werde es nicht vollständig angewendet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Frauen hätten nur in sehr geringem Maße Zugang zur Justiz. Die überwiegende Mehrheit der Fälle von gegen Frauen gerichteten Gewaltakten, einschließlich schwerer Verbrechen gegen Frauen, würden noch immer nach traditionellen Streitbeilegungsmechanismen geschlichtet, anstatt wie vom Gesetz vorgesehen strafrechtlich verfolgt. Berichten zufolge leiten sowohl die afghanische nationale Polizei (ANP) als auch die Staatsanwaltschaften sowie Einrichtungen gemäß dem Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen zahlreiche Fälle, auch schwere Verbrechen, an jirgas und shuras zum Zweck der Beratung oder Entscheidung weiter und unterminieren dadurch die Umsetzung dieses Gesetzes und fördern die Beibehaltung schädlicher traditioneller Bräuche. Durch Entscheidungen dieser Mechanismen sind Frauen und Mädchen der Gefahr weiterer Schikanen und Ausgrenzung ausgesetzt.

Das schiitische Personenstandsgesetz, das Familienangelegenheiten wie Heirat, Scheidung und Erbrecht für Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft regelt, enthält mehrere für Frauen diskriminierende Bestimmungen, insbesondere in Bezug auf Vormundschaft, Erbschaft, Ehen von Minderjährigen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses.

Während die in diesem Abschnitt beschriebenen Menschenrechtsprobleme Frauen und Mädchen im gesamten Land betreffen, gibt die Situation in Gebieten, die effektiv von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden, Anlass zu besonderer Sorge. Regierungsfeindliche Kräfte schränken Berichten zufolge die Grundrechte von Frauen in diesen Gebieten weiterhin massiv ein, darunter ihr Recht auf Bewegungsfreiheit, politische Teilhabe, Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Bildung. Außerdem besteht in von regierungsfeindlichen Kräften kontrollierten Gebieten eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sich den Frauen beim Zugang zur Justiz besondere Hindernisse entgegenstellen und dass ihnen keine wirksamen Rechtsmittel gegen die Verletzung ihrer Rechte zur Verfügung stehen. Die von regierungsfeindlichen Kräften in den von ihnen kontrollierten Gebieten betriebene Paralleljustiz verletzt Berichten zufolge regelmäßig die Rechte von Frauen.“

„Frauen und Männer, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen

Trotz Bemühungen der Regierung, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, sind Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken, durch die sie marginalisiert werden, nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören strenge Kleidungsvorschriften sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Frauen ohne Unterstützung und Schutz durch Männer, wie etwa Witwen und geschiedene Frauen, sind besonders gefährdet. Angesichts der gesellschaftlichen Normen, die allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit und auf Lebensgrundlagen, sind sie kaum in der Lage zu überleben.

Bestrafungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia treffen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, etwa Inhaftierung aufgrund von ‚Verstößen gegen die Sittlichkeit‘ wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat, und ‚Weglaufen von zu Hause‘ (einschließlich in Situationen von häuslicher Gewalt). Einem beträchtlichen Teil der in Afghanistan inhaftierten Mädchen und Frauen wurden ‚Verstöße gegen die Sittlichkeit‘ zur Last gelegt. Es wird berichtet, dass weibliche Inhaftierte oft Tätlichkeiten sowie sexueller Belästigung und Missbrauch ausgesetzt sind. Da Anklagen aufgrund von Ehebruch und anderen ‚Verstößen gegen die Sittlichkeit‘ Anlass zu Gewalt oder Ehrenmorden geben können, versuchen die Behörden Berichten zufolge in einigen Fällen, die Inhaftierung von Frauen als Schutzmaßnahmen zu rechtfertigen.“

2. Beweiswürdigung

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer:

Die Feststellungen zu den Namen und Geburtsdaten der Beschwerdeführer beruhen auf ihren Angaben in der Erstbefragung, in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführer (Name und Geburtsdatum) getroffen wurden, gelten diese ausschließlich für die Identifizierung der Beschwerdeführer im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie Muttersprache der Beschwerdeführer gründen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin; das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen – im gesamten Verfahren gleich gebliebenen und sich mit den Länderberichten zu Afghanistan deckenden – Aussagen zu zweifeln.

Die Angaben der Erst- und Zweitbeschwerdeführer zu ihren Geburts- und Aufenthaltsorten, ihrer Eheschließung und ihren Kindern waren im Wesentlichen gleichbleibend und widerspruchsfrei, weitgehend chronologisch stringent und vor dem Hintergrund der bestehenden sozio-ökonomischen Strukturen in Afghanistan plausibel.

Die Feststellungen zur fehlenden Schulbildung und Berufsausbildung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin ergeben sich aus den glaubhaften Angaben der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung.

Die Daten der Antragstellungen ergeben sich aus dem Akteninhalt.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister bzw. aus der Strafunmündigkeit der minderjährigen Beschwerdeführer aufgrund ihres Alters.

2.2. Zu den Feststellungen zur „westlichen“ Orientierung der Zweitbeschwerdeführerin:

Die Feststellungen zur Zweitbeschwerdeführerin als eine am gemeinhin als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frau ergeben sich aus den glaubhaften Angaben der Zweitbeschwerdeführerin und der einvernommenen Zeugin in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, den vorgelegten Integrationsunterlagen und dem persönlichen Eindruck, der von der Zweitbeschwerdeführerin in der Verhandlung gewonnen werden konnte.

Die Zweitbeschwerdeführerin vermochte zu überzeugen, dass sie sich einer „westlichen“ Wertehaltung und einem „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild zugewandt hat, danach bereits heute lebt und gewillt ist, daran festzuhalten.

Das Bundesverwaltungsgericht hat bei der Einvernahme der Zweitbeschwerdeführerin in der Beschwerdeverhandlung den Eindruck gewonnen, dass es sich bei ihr um eine Frau handelt, die das streng konservativ-afghanische Frauenbild und die konservativ-afghanische Tradition ablehnt und abgelegt hat und demgegenüber bereits stark „westliche“ Werte verinnerlicht hat und – aus Überzeugung und in Abkehr zu der konservativ-afghanischen Tradition – auch danach lebt. Die Zweitbeschwerdeführerin gab selbstbewusst, ohne zu zögern bzw. ohne Scheu, ihre Meinung zu äußern, überlegte und gut formulierte Antworten, sodass sich in der mündlichen Verhandlung ein klares und nachhaltiges Bild von ihren Einstellungen und Verhaltensmustern ergab.

Die Zweitbeschwerdeführerin erweckte in der mündlichen Verhandlung den Eindruck einer selbstbewussten jungen Frau, die mit ihrem Ehemann eine partnerschaftliche Beziehung auf Augenhöhe führt. Wichtige Entscheidungen treffen sie gemeinsam, ihre Freizeit und ihren Alltag gestaltet die Zweitbeschwerdeführerin eigenständig, Erziehungs- und Haushaltsaufgaben werden zwischen den Ehegatten aufgeteilt (vgl. S. 9-14 des Verhandlungsprotokolls). In der Frage, ob die Familie in eine private Wohnung ziehen soll, hat sie sich gegen ihren Ehemann durchgesetzt, der weiter in einem Flüchtlingsheim leben wollte (vgl. S. 13). Die Zweitbeschwerdeführerin und ihr Ehemann entscheiden gemeinsam über die Verwendung von Geld. Ihr Taschengeld kann sie nach Belieben ausgeben, sie hat auch ein eigenes Mobiltelefon (vgl. S. 10).

Obwohl ihr Alltag derzeit noch überwiegend auf die Betreuung und Erziehung ihrer vier Kinder ausgerichtet ist, von denen das jüngste erst sechs Monate alt ist, hat die Zweitbeschwerdeführerin auch klare Pläne für ihre berufliche Zukunft und ist bestrebt, diese in die Tat umzusetzen. Sie möchte, sobald ihr jüngstes Kind in den Kindergarten geht, als Bäckerin arbeiten. Sie hat sich bereits über die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Berufes erkundigt und weiß, dass sie zunächst ihre Deutschkenntnisse verbessern muss (vgl. S. 11-12 des Verhandlungsprotokolls). Die Zweitbeschwerdeführerin hat insgesamt klare und realistische Vorstellung von ihrer Zukunft in Österreich.

Zudem verfügt die Zweitbeschwerdeführerin über außerfamiliäre soziale Kontakte in Österreich in Form eines österreichischen Freundeskreises (vgl. die Unterstützungsschreiben in Beilage ./A zum Verhandlungsprotokoll), nimmt an öffentlichen Veranstaltungen in ihrer Heimatgemeinde teil und betreibt verschiedene Freizeitaktivitäten wie Radfahren, Baden und Spazierengehen (vgl. S. 10-11 des Verhandlungsprotokolls). Auch ihre Kinder haben österreichische Freundinnen und Freunde und dürfen diese alleine besuchen. Die Zweitbeschwerdeführerin wünscht sich, dass ihre Töchter eine gute Ausbildung erhalten und berufstätig sind, nach ihren Angaben würden sie gerne Ärztinnen werden. Sie würde es unterstützen, wenn ihre Töchter einen österreichischen, auch christlichen, Partner hätten (vgl. S. 12 des Verhandlungsprotokolls).

Die Zweitbeschwerdeführerin verfügt derzeit erst über Grundkenntnisse der deutschen Sprache (vgl. S. 9 des Verhandlungsprotokolls). Sie hat die A1-Deutschprüfung bestanden und ist für einen A2-Deutschkurs angemeldet (vgl. Beilage ./A zum Verhandlungsprotokoll). Angesichts der gänzlich fehlenden Schulbildung der Zweitbeschwerdeführerin und des Umstands, dass sie aktuell mit der Betreuung von vier minderjährigen Kindern befasst ist, von denen das jüngste erst sechs Monate alt ist, können aber auch keine überzogenen Erwartungen an ihre Lernfortschritte gestellt werden. Allein der Umstand, dass eine Asylwerberin die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht, spricht allgemein noch nicht gegen eine „westliche“ Lebensweise (vgl. VwGH 22.02.2018, Ra 2017/18/0357).

Die Zweitbeschwerdeführerin hat in der Beschwerdeverhandlung glaubhaft nachvollziehbar verdeutlicht, dass sie ihr Äußeres und ihre Lebensführung an das Leben westlicher Frauen angepasst hat und dass sie die – in Afghanistan für Frauen üblichen – traditionellen Einschränkungen und gesellschaftlichen Vorgaben rundum ablehnt (vgl. S. 13-14 des Verhandlungsprotokolls). Dies wird auch durch das äußere Erscheinungsbild der Zweitbeschwerdeführerin verdeutlicht. So lehnt diese die laut der afghanischen Tradition üblichen Kleidungsvorschriften ab und erschien auch zur mündlichen Beschwerdeverhandlung modisch gekleidet mit Jeans, gemusterter Bluse, beiger Jacke, langen, zu einem Zopf gebundenen Haaren und geschminkt. Das Kopftuch hat sie zu Beginn ihres Aufenthalts in Österreich noch getragen, aber 2017 aus eigenem Willen abgelegt (vgl. S. 14 des Verhandlungsprotokolls). Die Zweitbeschwerdeführerin ist sich der unterschiedlichen Rollen der Frau in Afghanistan und Österreich bewusst, sie lehnt die der Frau in Afghanistan zukommende Rolle ab und nimmt – nunmehr in Österreich angekommen – ihre Rechte als in Österreich lebende Frau wahr (vgl. S. 12-13 des Verhandlungsprotokolls).

Die Angaben der Zweitbeschwerdeführerin zu ihrer Lebensweise decken sich auch mit jenen der in der mündlichen Verhandlung einvernommenen Zeugin XXXX , einer Freundin der Familie. Sie beschrieb die Zweitbeschwerdeführerin als sehr aufgeschlossene Frau, die Rad fahre, sich modisch kleiden möchte, alleine einkaufen gehe und Freunde oder auch die Zeugin alleine besuche. Sie sei sehr kontaktfreudig und zugänglich (vgl. S. 21-22 des Verhandlungsprotokolls).

In einer Gesamtschau kommt das Bundesverwaltungsgericht deshalb zur Auffassung, dass es sich bei der Zweitbeschwerdeführerin um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau handelt, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist, und dass diese von der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich angenommene „westliche“ Lebensweise zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

Die oben wiedergegebenen Länderberichte wurden den Beschwerdeführern – neben darüber hinaus gehenden Länderfeststellungen – in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht übergeben. Den Beschwerdeführern wurde Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt. Die Beschwerdeführer traten diesen nicht substantiiert entgegen.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zu A) Zuerkennung des Status der Asylberechtigten:

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen (VwGH 22.02.2018, Ra 2017/18/0357, und jüngst VwGH 23.01.2019, Ra 2018/18/0447). Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste. Dabei führt aber nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. zu alldem VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0301, mwN).

Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 ist „Familienangehöriger“, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder im Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.

Stellt ein Familienangehöriger iSd § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 von einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser gemäß § 34 Abs. 1 leg. cit. als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes. Die Behörde hat gemäß § 34 Abs. 2 leg. cit. auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3 leg. cit.) und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7 leg. cit.).

Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen, die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 des § 34 leg. cit. erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang.

3.1.2. Aufgrund der oben im Rahmen der Beweiswürdigung dargestellten Erwägungen ist es der Zweitbeschwerdeführerin gelungen, glaubhaft zu machen, dass es sich bei ihr um auf Eigenständigkeit bedachte Frau handelt, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist, und dass diese von der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich angenommene „westliche“ Lebensweise zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist.

Sie hat daher aus nachstehenden Gründen eine maßgebliche Verfolgungswahrscheinlichkeit aus einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe aufgezeigt:

Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Frauen in Afghanistan haben sich zwar keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-)Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die Intensität von den in den Länderberichten aufgezeigten Einschränkungen und Diskriminierungen kann jedoch bei Hinzutreten weiterer maßgeblicher individueller Umstände, insbesondere einer diesen – traditionellen und durch eine konservativ-religiöse Einstellung geprägten – gesellschaftlichen Zwängen nach außen hin offen widerstrebenden Wertehaltung einer Frau, Asylrelevanz erreichen.

Den aktuellen Länderfeststellungen ist zu entnehmen, dass kulturelle Verbote für die freie Fortbewegung und das Verlassen des Hauses ohne Begleitperson viele Frauen daran hindern, außerhalb ihres Hauses zu arbeiten, und ihren Zugang zu Bildung, Gesundheitsvorsorge, Polizeischutz und andere soziale Leistungen begrenzen. Öffentliche Schande haftet Frauen an, die ihr Haus ohne männliche Begleitperson verlassen. Frauen sind besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird.

Für die Zweitbeschwerdeführerin wirkt sich die derzeitige Situation in Afghanistan so aus, dass sie im Falle einer Rückkehr nach bzw. einer Ansiedelung in Afghanistan einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbarer Einschränkungen und durch das Bestehen dieser Situation einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre. Die Zweitbeschwerdeführerin unterliegt allerdings einer erhöhten Gefährdung, in Afghanistan dieser Situation ausgesetzt zu sein, weil sie aufgrund ihrer Wertehaltung und Lebensweise gegenwärtig in Afghanistan als Frau wahrgenommen würde, die sich als nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benimmt; sie ist insofern einem besonderen Misshandlungsrisiko ausgesetzt (vgl. dazu EGMR, 20.07.2010, 23.505/09, N./Schweden, ebenfalls unter Hinweis auf UNHCR). Die die Zweitbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach bzw. Ansiedelung in Afghanistan bedrohende Situation ist in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität.

Es ist nach Lage des Falles davon auszugehen, dass die Zweitbeschwerdeführerin vor dieser Bedrohung in Afghanistan nicht ausreichend geschützt werden kann. Zwar stellen diese Umstände keine Eingriffe von „offizieller“ Seite dar, das heißt, sie sind von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet; andererseits ist es der Zentralregierung auch nicht möglich, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten der afghanischen Frauen Sorge zu tragen. Gegenwärtig besteht in Afghanistan kein funktionierender Polizei- und Justizapparat. Darüber hinaus ist nicht davon auszugehen, dass im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden; ganz im Gegenteil liegt ein derartiges Vorgehen gegenüber Frauen teilweise ganz im Sinne der lokalen Machthaber (vgl. zur Fähigkeit und Bereitschaft des Staates, Zivilisten vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, Pkt. 1.2.2.). Für die Zweitbeschwerdeführerin ist damit nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie angesichts des sie als westlich orientierte Frau betreffenden Risikos, Opfer von Misshandlungen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann.

Auch die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) ist im vorliegenden Fall gegeben. Bei der Zweitbeschwerdeführerin liegt das dargestellte Verfolgungsrisiko in ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Gruppe der am „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen (vgl. dazu VwGH 23.01.2019, Ra 2018/18/0447, mwN).

Es ist daher zu prognostizieren, dass die Zweitbeschwerdeführerin im Falle ihrer nunmehrigen Rückkehr nach bzw. Ansiedelung in Afghanistan als „westlich“ orientierte Frau mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffen von erheblicher Intensität ausgesetzt sein wird.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für die Zweitbeschwerdeführerin nicht, zumal im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan von einer Situation auszugehen ist, in der die am „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen einem erhöhten Sicherheitsrisiko und den daraus resultierenden Einschränkungen ausgesetzt sind.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Zweitbeschwerdeführerin aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe außerhalb Afghanistans befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren.

Angesichts dieses Ergebnisses kann dahin gestellt bleiben, ob der

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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