Entscheidungsdatum
20.04.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W163 1413519-4/28E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Daniel LEITNER als Einzelrichter über die Beschwerde der Frau XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Indien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.11.2019, Zahl XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. wird gemäß § 68 Abs 1 AVG als unbegründet abgewiesen.
II. Die Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes III. des angefochtenen Bescheides gemäß § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
III. XXXX wird gemäß § 55 Abs. 1 und § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
IV. Die Spruchpunkte V., VI. und VII. werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt
I.1. Verfahrensgang
a) Erster Antrag auf internationalen Schutz
1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine indische Staatsangehörige, reiste unrechtmäßig in Österreich ein und stellte am 30.12.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am selben Tag fand die Erstbefragung der BF vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.
3. Am 29.04.2010 wurde die BF durch das Bundesasylamt (im Folgenden: BAA) niederschriftlich Einvernommen.
4. Mit Bescheid des BAA vom 04.05.2010 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Die BF wurde gemäß § 10 Abs 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Indien ausgewiesen (Spruchpunkt III.).
5. Gegen diesen Bescheid richtete sich das mit Schreiben vom 19.05.2010 fristgerecht eingebrachte Rechtsmittel der Beschwerde.
6. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes (im Folgenden: AsylGH) vom 20.07.2010 wurde die Beschwerde gemäß § 3 und § 8 AsylG hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides abgewiesen. Gemäß § 10 Abs 5 AsylG wurde festgestellt, dass die Ausweisung der BF aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Indien vorübergehend unzulässig ist.
7. Mit Verfahrensanordnung vom 15.10.2010 verständigte die Bundespolizeidirektion Wien (im Folgenden: BPD) die BF vom Ergebnis der Beweisaufnahme und räumte ihr eine zweiwöchige Frist zur Stellungnahme und zur Beantwortung des in diesem Schriftstück enthaltenen Fragenkatalogs ein.
8. Mit Schriftsatz vom 28.10.2010 brachte die BF eine Stellungnahme zur Verständigung über das Ergebnis der Beweisaufnahme ein.
9. Mit Bescheid der BPD vom 15.11.2010 wurde die BF gemäß § 53 Abs 1 FPG ausgewiesen. Die BF hatte nach Einritt der Durchsetzbarkeit dieses Bescheides das österreichische Bundesgebiet unverzüglich zu verlassen.
10. Gegen den Bescheid der BPD vom 15.11.2010 erhob die BF mit Schriftsatz vom 01.12.2010 Berufung.
11. Mit Berufungsbescheid der Sicherheitsdirektion Wien (im Folgenden: SID) vom 16.06.2011 wurde der Berufung vom 15.11.2010 keine Folge gegeben und der angefochtene Bescheid gemäß § 66 Abs 4 AVG bestätigt.
12. Mit Bescheid des Bundesministeriums für Inneres, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit (im Folgenden: BMI) vom 27.09.2011 wurde der Bescheid der SID vom 16.06.2011 gemäß § 68 Abs 4 Z 1 AVG amtswegig für nichtig erklärt.
13. Am 12.01.2017 erhob die BF einen Fristsetzungsantrag.
14. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 06.02.2017 wurde der Beschwerde gegen den Bescheid der BPD vom 15.11.2010 keine Folge gegeben und der angefochtene Bescheid mit der Maßgabe bestätigt, dass an Stelle der Ausweisung eine auf § 52 Abs 1 FPG gegründete Rückkehrentscheidung tritt. Ein Einreisverbot wurde nicht ausgesprochen. Gemäß § 55 Abs 2 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen bemessen.
15. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes (im Folgenden: VwGH) vom 23.03.2017 wurde der Fristsetzungsantrag der BF als gegenstandslos erklärt und das Verfahren eingestellt.
16. Mit Mandatsbescheid des BFA vom 23.01.2018 wurde der BF gemäß § 46 Abs 2 und 2b FPG iVm § 57 Abs 1 AVG aufgetragen, bei ihrer zuständigen ausländischen Behörde ihres Herkunftsstaates ein Reisedokument einzuholen. Die Ausstellung des Reisedokumentes hatte die BF dem BFA vorzulegen, ebenso wie die Erfüllung des Auftrages. Gemäß § 59 Abs 2 AVG wurde ihr hierfür eine Frist von 4 Wochen gesetzt.
17. Mit am 16.02.2018 beim BFA eingelangten Schriftsatz erhob die BF Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom 17.01.2018.
18. Mit Bescheid des BFA vom 19.02.2019 wurde der BF gemäß § 46 Abs 2a und 2b FPG iVm §19 AVG aufgetragen, zur Einholung eines Ersatzreisedokumentes zum angegebenen Termin und Ort als Beteiligter persönlich zu kommen an den notwendigen Handlungen zur Erlangung eines Ersatzreisedokumentes mitzuwirken. Im Konkreten hatte Sie einen Antrag für die Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes/Reisepasses zu stellen. Es wurde auf die Möglichkeit der Verhängung einer Haftstrafe hingewiesen (Spruchpunkt I.). Die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diesen Bescheid wurde gemäß § 13 Abs 2 VwGVG ausgeschlossen (Spruchpunkt II.).
19. Mit Mandatsbescheid des BFA vom 08.03.2019 wurde der BF gemäß § 57 Abs 1 FPG iVm § 57 Abs 1 AVG aufgetragen, bis zur Ausreise durchgängig Unterkunft an einer näher genannten Betreuungseinrichtung zu nehmen. Dieser Verpflichtung hatte sie binnen dreier Tage nachzukommen.
20. Am 12.04.2019 erging ein Erhebungsersuchen an das Polizeikommissariat Josefstadt für die Bezirke 7, 8, 9, wobei um die Hauserhebung ersucht wurde, ob die BF an der angegebenen Adresse noch wohnhaft oder bereits verzogen ist. Dazu wurde in weiterer Folge erhoben, dass sich die BF an der angeführten Adresse aufhält bzw auch gemeldet ist. Aufgrund des Umstandes, dass sie kein Ausweisdokument besitzt, habe sie hinterlegte behördliche Schriftstücke beim Postamt nicht beheben können.
b) Zweites Verfahren
1. Am 12.05.2015 stellte die BF einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK gemäß § 55 Abs 1 AsylG.
2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 17.01.2018 wurde der Antrag der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK vom 12.05.2015 gemäß § 58 Abs 10 AsylG zurückgewiesen.
3. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (im Folgenden: BVwG) vom 22.11.2018 wurde die Beschwerde der BF gegen den Bescheid des BFA vom 17.01.2018 als unbegründet abgewiesen.
c) Drittes Verfahren
1. Am 02.03.2018 brachte die BF neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz ein, worüber sie am selben Tag vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt wurde.
2. Am 11.04.2018 folgte die niederschriftliche Einvernahme vor dem BFA.
3. Am 26.04.2018 hat die BF das freie Gewerbe „Gastgewerbe in der Betriebsart Verabreichung von Speisen einfacher Art und Ausschank von nichtalkoholischen Getränken und von Bier in handelsüblichen verschlossenen Gefäßen, wenn hiebei nicht mehr als acht Verabreichungsplätze (zum Genuss von Speisen und Getränken bestimmte Plätze) bereitgestellt werden“ bei der Bezirkshauptmannschaft Korneuburg angemeldet.
4. Am 11.05.2018 hat die BF das freie Gewerbe „Gastgewerbe in der Betriebsart Verabreichung von Speisen einfacher Art und Ausschank von nichtalkoholischen Getränken und von Bier in handelsüblichen verschlossenen Gefäßen, wenn hiebei nicht mehr als acht Verabreichungsplätze (zum Genuss von Speisen und Getränken bestimmte Plätze) bereitgestellt werden“ beim zuständigen Magistrat der Stadt Wien angemeldet.
5. Am 13.08.2018 hat die BF das reglementierte Gewerbe „Gastgewerbe in der Betriebsart: „Imbissstube““ angemeldet.
6. Mit Beschied des BFA vom 29.10.2018 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz vom 02.03.2018 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde der BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs 1a FPG wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.).
7. Gegen diesen Bescheid des BFA vom 29.10.2018 erhob die BF mittels am 13.11.2018 beim BFA eingelangtem Schriftsatz Beschwerde.
8. Mit Erkenntnis des BVwG vom 22.11.2018 wurde die Beschwerde gemäß § 68 Abs 1 AVG, § 57 AsylG, § 10 Abs 1 BFA-VG iVm § 52 Abs 2 FPG, § 52 Abs 9 FPG iVm § 46 FPG sowie § 55 Abs 1a FPG als unbegründet abgewiesen.
d) Viertes Verfahren
1. Am 04.07.2019 brachte die BF gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz ein und wurde dazu am selben Tag vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.
2. Ebenfalls am 04.07.2019 wurde die BF vor dem BFA zum Gegenstand „Sicherung der Ausreise, Erlangung Heimreisezertifikat“ niederschriftlich einvernommen.
3. Am 31.07.2019 wurde die BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen.
4. Mit Bescheid des BFA vom 14.11.2019 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz vom 04.07.2019 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde der BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.) Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs 1a FPG wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 2 FPG wurde gegen die BF ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
5. Mit am 02.12.2019 beim BFA eingelangten Schriftsatz erhob die BF gegen den Bescheid des BFA vom 14.11.2019 Beschwerde.
6. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakte wurden dem BVwG am 05.12.2019 vom BFA vorgelegt.
7. Mit Beschluss des BVwG vom 09.12.2019 wurde der Beschwerde gemäß § 17 Abs 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
8. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 21.01.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die BF persönlich im Beisein einer ausgewiesenen Vertretung teilnahm. Auch ein Vertreter des BFA nahm an der mündlichen Verhandlung teil.
9. Mit Eingabe vom 05.02.2020 legte die rechtliche Vertretung der BF zwei Einstellungszusagen sowie zwei Empfehlungsschreiben vor.
10. Mit Verfahrensanordnung vom 16.07.2020 räumte das BVwG der BF Parteiengehör im Ermittlungsverfahren ein. Aufgrund der zwischenzeitlichen Gesamtaktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des BFA zu Indien wurde der BF die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme zur Lage im Herkunftsland eingeräumt. Die BF wurde außerdem aufgefordert bekannt zu geben, wenn mittlerweile – über die im bisherigen Verfahren vorgebrachten Gründe hinaus – weitere Gründe vorliegen würden, die seiner Ausweisung in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden (insb. solche des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK).
11. Aufgrund einer fehlenden Meldeadresse der BF wurde eine für den 28.01.2021 anberaumte Verhandlung am 22.01.2021 abberaumt.
12. Im Zuge der Zustellung der Ladung an die BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23.01.2021 wurde festgestellt, dass die BF offene Strafakte hat, weshalb sie eine Ersatzfreiheitsstrafe von 30 Stunden antrat.
13. Am 25.01.2021 wurde die am 22.01.2021 abberaumte Verhandlung für den 28.01.2021 wieder anberaumt.
14. Mit Schriftsatz vom 26.01.2021 langte beim BVwG eine Vertagungsbitte ein.
15. Am 26.01.2021 wurde die für den 28.01.2021 geplante Verhandlung neuerlich abberaumt.
16. Mit Eingabe vom 28.01.2021 langte eine Vollmachtsbekanntgabe ein.
17. Mit Eingabe vom 01.03.2021 teilte die belangte Behörde mit, dass kein Vertreter an der Verhandlung teilnehmen werde.
18. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 03.03.2021 neuerlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF persönlich im Beisein seiner ausgewiesenen Vertretung teilnahm. Ein Vertreter des BFA nahm an der mündlichen Verhandlung nicht teil.
I.2. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Sachverhalt)
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgebenden Sachverhalt aus:
a) Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei
1. Zur Person der Beschwerdeführerin
Die BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX und stammt aus der indischen Provinz Punjab. Sie bekennt sich zum Glauben der Sikh, gehört der Kaste der Mazni Sikh an, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Die BF leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung, sie ist körperlich gesund und arbeitsfähig.
Die BF ist indische Staatsangehörige und spricht Punjabi auf Muttersprachenniveau.
Die BF hat den überwiegenden Teil ihres Lebens in Indien verbracht, dort ein Bakkalauretatstudium abgeschlossen und Berufserfahrung als Lehrerin gesammelt.
Die BF verfügt über familiäre Anknüpfungspunkte in Indien. So leben unter ihre Kinder und ihre Eltern im Herkunftsstaat.
2. Zur Rückkehrmöglichkeit nach Indien
2.1. Zu den Flucht- und Verfolgungsgründen
Die BF brachte bei ihrem neuerlichen – gegenständlichen – Antrag auf interanationalen Schutz keine neuen Fluchtgründe vor, sondern bezog sich auf ihre bereits als unglaubhaft beurteilten Fluchtgründe aus ihrem vorangegangen Verfahren. Soweit die BF in ihrer Einvernahme vor dem BFA neu vorbrachte, dass sie von ihrem Ehemann und in weiterer Folge auch von der Polizei verfolgt werde, kommt dem kein glaubhafter Kern einer Verfolgungsgefahr im Falle der Rückkehr zu.
Die BF ist keiner landesweiten Verfolgung durch ihren Mann ausgesetzt. Die BF hätte im Falle einer von ihrem Mann ausgehenden Gefahr die Möglichkeit, sich an staatliche Institutionen bzw die Polizei ihres Herkunftsstaates zu wenden.
Es ergab sich weder eine maßgebliche Änderung in Bezug auf die die BF betreffende asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat, noch in sonstigen in der Person der BF gelegenen Umstände. In Bezug auf die individuelle Lage der BF im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat kann keine sich in Bezug auf jenen Zeitpunkt, in dem zuletzt über ihren Antrag
auf internationalen Schutz inhaltlich entschieden wurde, maßgeblich andere Situation festgestellt werden.
Eine relevante Änderung der Rechtslage konnte ebenfalls nicht festgestellt werden.
2.2. Zu Situation als Rückkehrerin
Die BF war seit ihrer Einreise in das österreichische Bundesgebiet im Jahr 2009 nicht mehr in Indien aufhältig.
Festgestellt wird, dass der BF eine Rückkehr in ihr Heimatland offensteht. Sie kann aus Eigenem ihre Existenz sichern und ihr Leben neu aufbauen.
Die BF kann sich im Falle einer Rückkehr in einem anderen Landesteil Indiens niederlassen und eine Existenz aufbauen.
Die BF läuft nicht Gefahr, in Indien grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw existenzbedrohende Situation zu geraten.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. In Indien wurden mit Stand 11.04.2021 insgesamt 13358805 Erkrankungen und 169275 Todesfälle registriert. Die BF ist gesund und gehört mit Blick auf ihr Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die BF bei einer Rückkehr nach Indien eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
3. Zur Situation der BF in Österreich
Die BF reiste unrechtmäßig nach Österreich, wo sie erstmals am 30.12.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. In weiterer Folge brachte die BF am 12.05.2015 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK, am 02.03.2018 ihren zweiten Antrag auf internationalen Schutz sowie am 04.07.219 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz ein. Die BF befindet sich seit ihrer ersten Antragstellung am 30.12.2009 durchgehend im Bundesgebiet.
Die BF befand sich für die Dauer ihres ersten Asylverfahrens von Dezember 2009 bis November 2010 knapp ein Jahr rechtmäßig im Bundesgebiet. Der unrechtmäßige Aufenthalt wurde durch ein Aufenthaltsrecht im Rahmen ihres zweiten Verfahrens auf internationalen Schutz für acht Monate unterbrochen. Mit Einbringung des gegenständlichen Folgeantrages kommt der BF seit Juli 2019 bis zum Abschluss dieses Verfahrens ein Aufenthaltsrecht zu.
Die BF hat keine in Österreich lebenden Familienangehörige oder Verwandte.
Die BF hat keine besondere Nahebeziehung oder ein Abhängigkeitsverhältnis zu einer dauerhaft aufhältigen Person in Österreich.
Am 26.04.2018 hat die BF das freie Gewerbe „Gastgewerbe in der Betriebsart Verabreichung von Speisen einfacher Art und Ausschank von nichtalkoholischen Getränken und von Bier in handelsüblichen verschlossenen Gefäßen, wenn hiebei nicht mehr als acht Verabreichungsplätze (zum Genuss von Speisen und Getränken bestimmte Plätze) bereitgestellt werden“ bei der BH Korneuburg und am 11.05.2018 beim zuständigen Magistrat der Stadt Wien angemeldet.
Am 13.08.2018 hat die BF das reglementierte Gewerbe „Gastgewerbe in der Betriebsart: „Imbissstube““ angemeldet.
Die BF ist arbeits- und leistungsfähig. Mangels eines Aufenthaltsrechtes kann die BF keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen. Die BF bestreitet ihren Lebensunterhalt unter anderem mit Unterstützungsleistungen einer Freundin.
Die BF teilt sich eine Unterkunft mit einer indischen Familie, welcher zwei Kinder angehören.
Die BF hat Deutschkurse besucht und eine Deutschprüfung des ÖIF auf dem Sprachniveau A2 im Jahr 2012 bestanden. Fragen auf einfachem Niveau kann sie teilweise sinnzusammenhängend auf Deutsch beantworten.
Die BF unterhält freundschaftliche Kontakte im Bundesgebiet und traf vor der aktuellen Covid-19 Pandemie regelmäßig ihre Freundinnen. Sie kümmerte sich auch mehrmals wöchentlich um die Kinder einer Freundin.
Die BF ist weder ehrenamtlich tätig noch Mitglied in einer sozialen Organisation.
In ihrer Freizeit ist die BF die überwiegende Zeit zu Hause. Sie versucht ihr Deutsch zu verbessern indem sie fernsieht. Ansonsten macht die BF nichts.
Die BF bezieht keine Leistungen aus der Grundversorgung, befindet sich jedoch in Grundversorgung.
Die BF ist strafrechtlich unbescholten.
b) Zur Lage im Herkunftsstaat:
Auszug aus den Länderinformationen aus COI-CMS, Version 3, (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):
COVID-19
Letzte Änderung: 22.10.2020
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängte die indische Regierung am 25. März 2020 eine Ausgangssperre über das gesamte Land, die nur in Einzelfällen (Herstellung lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen, Einkaufen für den persönlichen Bedarf, Arztbesuche, usw.) durchbrochen werden durfte. Trotz der Ausgangssperre sanken die Infektionszahlen nicht. Seit der ersten Aufsperrphase, die am 8. Juni 2020 begann, schießt die Zahl der Infektionen noch steiler als bisher nach oben. Größte Herausforderung während der Krise waren die Millionen von Wanderarbeitern, die praktisch über Nacht arbeitslos wurden, jedoch auf Grund der Ausgangssperre nicht in ihre Dörfer zurückkehren konnten. Viele von ihnen wurden mehrere Wochen in Lagern unter Quarantäne gestellt (also de facto eingesperrt), teilweise mit nur schlechter Versorgung (ÖB 9.2020). Nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums vom 11. Oktober 2020 wurden seit Beginn der Pandemie mehr als sieben Millionen Infektionen mit SARS-CoV-2 registriert. Die täglichen offiziellen Fallzahlen stiegen zwar zuletzt weniger schnell als noch im September, die Neuinfektionen nehmen in absoluten Zahlen jedoch schneller zu als in jedem anderen Land der Welt. Medien berichten in einigen Teilen des Landes von einem Mangel an medizinischem Sauerstoff in Krankenhäusern (BAMF 12.10.2020).
Sorge bereitet die zunehmende Ausbreitung von COVID-19-Infektionen in Kleinstädten und ländlichen Gebieten, wo der Zugang zur medizinische Versorgung teilweise nur rudimentär oder gar nicht vorhanden ist (WKO 10.2020). Durch die COVID-Krise können Schätzungen zu Folge bis zu 200 Mio. in die absolute Armut gedrängt werden. Ein Programm, demzufolge 800 Mio. Menschen gratis Lebensmittelrationen erhalten, wurde bis November 2020 verlängert. Die Ausmaße dieses Programms verdeutlichen, wie hart Indien von der COVID-Pandemie und dem damit verbundenen Einbruch der Wirtschaft betroffen ist (ÖB 9.2020).
Politische Lage
Letzte Änderung: 23.10.2020
Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA 5.10.2020; vgl. AA 23.9.2020). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 11.3.2020). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 2.2020a).
Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 2.2020a; vgl. AA 23.9.2020). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 23.9.2020). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 8.2020a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt, jedoch immer wieder Anfechtungen ausgesetzt (AA 9.2020a). Indien hat eine lebendige Zivilgesellschaft (AA 9.2020a).
Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 11.3.2020). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Ebene der Bundesstaaten (AA 23.9.2020).
Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 11.3.2020). Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25. Juli 2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt (GIZ 8.2020a).
Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Mio. Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 23.9.2020).
Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance (NDA)“, mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJP-Spitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (ÖB 9.2020; vgl. AA 19.7.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen v. a. im Bundesstaat Westbengal, korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.7.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindu-nationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindunationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS, fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 8.2020a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindunationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).
Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion Neu Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. Die AAP unter Führung von Arvind Kejriwal, punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.2.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.2.2020; vgl. KBS 12.2.2020).
Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktivere Außenpolitik als zuvor. Die frühere Strategie der „strategischen Autonomie“ wird zunehmend durch eine Politik „multipler Partnerschaften“ mit allen wichtigen Ländern in der Welt überlagert. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Großmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (BICC 7.2020). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 8.2020a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten „Neuen Seidenstraße“ eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im „Regional Forum“ (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (BICC 7.2020).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 06.11.2020
Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 8.2020a). Aufstände gibt es auch in den nordöstlichen Bundesstaaten Assam, Manipur, Nagaland sowie in Teilen Tripuras. In der Vergangenheit konnte eine Zunahme von Terroranschlägen in Indien, besonders in den großen Stadtzentren, verzeichnet werden. Mit Ausnahme der verheerenden Anschläge auf ein Hotel in Mumbai im November 2008, wird Indien bis heute zwar von vermehrten, jedoch kleineren Anschlägen heimgesucht (BICC 7.2020). Aber auch in den restlichen Landesteilen gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 7.2020).
Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020) und der und im von separatistischen Gruppen bedrohten Nordosten Indiens (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020, AA 23.9.2020). Der Punjab blieb im vergangenen Jahren von Terroranschlägen und Unruhen verschont (SATP 8.10.2020). Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.9.2020). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 9.2020).
Gewalttätige Operationen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.7.2020, FH 4.3.2020). Rebellen heben illegale Steuern ein, beschlagnahmen Lebensmittel und Unterkünfte und beteiligen sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen. Zehntausende Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 4.3.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 907 Todesopfer durch terroristische Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 812 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 kamen 940 Menschen durch Terrorakte. 2019 belief sich die Opferzahl terroristischer Gewalt landesweit auf insgesamt 621 Tote. 2020 wurden bis zum 1.11. insgesamt 511 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 1.11.2020).
Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 23.9.2020).
Indien und Pakistan
Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im gleichen Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gab es bereits drei Kriege aufgrund des umstrittenen Kaschmir-Gebiets (BICC 12.2019; vgl. BBC 23.1.2018). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen indischen und pakistanischen Streitkräften entlang der sogenannten „Line of Control (LoC)“ haben sich in letzter Zeit verschärft und Opfer auf militärischer wie auch auf ziviler Seite gefordert. Seit Anfang 2020 wurden im von Indien verwalteten Kaschmir 14 Personen durch Artilleriebeschuss durch pakistanische Streitkräfte über die Grenz- und Kontrolllinie hinweg getötet und fünf Personen verletzt (FIDH 23.6.2020; vgl. KO 25.6.2020).
Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 12.2019). Es kommt immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 12.2019). So drang die indische Luftwaffe am 26.2.2019 als Vergeltung für einen am 14.2.2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.2.2019; vgl. FAZ 26.2.2019, WP 26.2.2019).
Indien und China
Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten (FAZ 27.2.2020). Zusammenstöße entlang der „Line of Actual Control (LAC)“, der De-facto-Grenze zwischen der von Indien verwalteten Region des Ladakh Union Territory und der von China verwalteten Region Aksai Chin forderten am 15.6.2020 in den ersten Vorfällen seit 45 Jahren mindestens 20 Tote auf indischer Seite und eine unbekannte Anzahl von Opfern auf chinesischer Seite (FIDH 23.6.2020; vgl. BBC 3.7.2020, BAMF 8.6.2020). Viele indische Experten sehen in der Entscheidung der Modi-Regierung vom August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufzulösen, einen Auslöser für die gegenwärtige Krise (SWP 7.2020; vgl. Wagner C. 2020). Die chinesischen Gebietsübertretungen können somit als Reaktion auf die indische Politik in Kaschmir in den letzten Monaten gesehen werden (SWP 7.2020). Weitere Eskalationen drohen auch durch Gebietsverletzungen an anderen Stellen der mehr als 3.400 Kilometer langen Grenze (FAZ 27.2.2020; vgl. SWP 7.2020). Sowohl Indien als auch China haben Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 7.2020).
Zwar hat der amerikanisch-chinesische Handelskrieg die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen, dennoch fühlt sich Indien von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.2.2020). Bestimmender Faktor des indischen Verhältnisses zu China ist das immer wieder auch in Rivalität mündende Neben- und Miteinander zweier alter Kulturen, die heute die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt sind. Das bilaterale Verhältnis ist von einem signifikanten Ungleichgewicht zu Gunsten Chinas gekennzeichnet (BICC 7.2020).
Indien und Bangladesch
Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert (GIZ 8.2020a). Darüber hinaus bestehen kleinere Konflikte zwischen den beiden Ländern (BICC 7.2020).
Indien und Sri Lanka
Die beiden Staaten pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis, das durch den mittlerweile beendeten Bürgerkrieg auf Sri Lanka zwischen der tamilischen Minderheit und singhalesischen Mehrheit stark beeinflusst wurde. Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indische Außenpolitik ergibt (GIZ 8.2020a).
Punjab
Letzte Änderung: 23.10.2020
Der Terrorismus im Punjab ist Ende der 1990er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 9.2020).
Der illegale Waffen- und Drogenhandel von Pakistan in den indischen Punjab hat sich in letzter Zeit verdreifacht. Es gibt Anzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen im Ausland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die aufständische Bewegung in Punjab wiederzubeleben. Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden Kämpfer der Babbar Khalsa International (BKI), einer militanten Sikh-Organisation in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert, BKI hat angeblich ein gemeinsames Büro mit der LeT im pakistanischen West-Punjab errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der aufständischen Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 9.2020). Im Punjab haben die Behörden besondere Befugnisse, ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 11.3.2020; vgl. BBC 20.10.2015).
Die Menschenrechtslage im Punjab stellt sich nicht anders als im übrigen Indien dar. Jüngste Berichte internationaler Menschenrechts-NGOs (Amnesty International, Human Rights Watch), aber auch jene des US State Department enthalten keine gesonderten Informationen zum Punjab (ÖB 9.2020).
Neben den angeführten Formen der Gewalt, stellen Ehrenmorde vor allem in Punjab, Uttar Pradesh und Haryana weiterhin ein Problem dar (USDOS 11.3.2020).
Laut Angaben des indischen Innenministeriums zu den Zahlen der Volkszählung im Jahr 2011 leben von den 21 Mio. Sikhs 16 Mio. im Punjab (MoHA o.D.). Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass Sikhs alleine auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit von der Polizei willkürlich verhaftet oder misshandelt würden. Auch stellen die Sikhs 60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs, einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen offen (ÖB 9.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 25 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2017 wurden 8 Personen durch Terrorakte getötet, 2018 waren es 3 Todesopfer und im Jahr 2019 wurden durch terroristische Gewalt 2 Todesopfer registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen]. Per 13.10.2020 wurden für Beobachtungszeitraum 2020 keine Opfer von verübten Terrorakten aufgezeichnet (SATP 13.10.2020).
In Indien ist die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit rechtlich garantiert und praktisch von den Behörden auch respektiert; in manchen Grenzgebieten sind allerdings Sonderaufenthaltsgenehmigungen notwendig. Sikhs aus dem Punjab haben die Möglichkeit sich in anderen Landesteilen niederzulassen, Sikh-Gemeinden gibt es im ganzen Land verstreut. Sikhs können ihre Religion in allen Landesteilen ohne Einschränkung ausüben. Aktive Mitglieder von verbotenen militanten Sikh-Gruppierungen, wie Babbar Khalsa International, müssen mit polizeilicher Verfolgung rechnen (ÖB 9.2020).
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 05.11.2020
In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige indische Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 23.9.2020). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüber Angehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 23.9.2020).
Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 4.3.2020). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht als Appellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und, unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 9.2020).
Das Gerichtswesen ist auch weiterhin überlastet und verfügt nicht über moderne Systeme zur Fallbearbeitung. Der Rückstau bei Gericht führt zu langen Verzögerungen oder der Vorenthaltung von Rechtsprechung. Eine Analyse des Justizministeriums vom September 2018 hat ergeben, dass von insgesamt 1.079 Planstellen an den 24 Obergerichten des Landes 414 Stellen nicht besetzt waren (USDOS 11.3.2020). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 23.9.2020). Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft, was dazu führt, dass Zeugen aufgrund von Bestechung und/oder Bedrohung, vor Gericht häufig nicht frei aussagen (AA 23.9.2020).
Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption verbreitet und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre (FH 4.3.2020). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang. Außer bei mit Todesstrafe bedrohten Delikten, soll der Haftrichter nach Ablauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen. Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchen Antrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 23.9.2020).
In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 23.9.2020).
Die Inhaftierung eines Verdächtigen durch die Polizei ohne Haftbefehl darf nach den allgemeinen Gesetzen nur 24 Stunden dauern. Eine Anklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90 Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten. Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit („National Security Act“, 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit („Jammu and Kashmir Public Safety Act“, 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem bzw. zwei Jahren (in Fällen des Public Safety Act) ohne Anklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind nicht bekannt (AA 23.9.2020).
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischem Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es ist nicht unüblich, dass Häftlinge misshandelt werden, in einigen Fällen sogar mit Todesfolge. Folter durch Polizeibeamte, Armee und paramilitärische Einheiten bleibt häufig ungeahndet, weil die Opfer ihre Rechte nicht kennen oder eingeschüchtert werden (AA 23.9.2020).
Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des „Unlawful Activities Prevention Act (UAPA)“, und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt (USDOS 11.3.2020). Gerichte sind verpflichtet Urteile öffentlich zu verkünden und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe allen Ebenen der Justiz. Angeklagte haben das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht schuldig zu bekennen (USDOS 11.3.2020).
Gerichtliche Ladungen in strafrechtlichen Angelegenheiten sind im Criminal Procedure Code 1973 (CrPC, Chapter 4, §§61-69), in zivilrechtlichen Angelegenheiten im Code of Civil Procedure 1908/2002 geregelt. Jede Ladung muss schriftlich, in zweifacher Ausführung ausgestellt sein, vom vorsitzenden Richter unterfertigt und mit Gerichtssiegel versehen sein. Ladungen werden gemäß CrPC prinzipiell durch einen Polizeibeamten oder durch einen Gerichtsbeamten an den Betroffenen persönlich zugestellt. Dieser hat den Erhalt zu bestätigen. In Abwesenheit kann die Ladung an ein erwachsenes männliches Mitglied der Familie übergeben werden, welches den Erhalt bestätigt. Falls die Ladung nicht zugestellt werden kann, wird eine Kopie der Ladung an die Residenz des Geladenen sichtbar angebracht. Danach entscheidet das Gericht, ob die Ladung rechtmäßig erfolgt ist, oder ob eine neue Ladung erfolgen wird. Eine Kopie der Ladung kann zusätzlich per Post an die Heim- oder Arbeitsadresse des Betroffenen eingeschrieben geschickt werden. Falls dem Gericht bekannt wird, dass der Betroffene die Annahme der Ladung verweigert hat, gilt die Ladung dennoch als zugestellt. Gemäß Code of Civil Procedure kann die Ladung des Gerichtes auch über ein gerichtlich genehmigtes Kurierservice erfolgen (ÖB 9.2020).
Indische Einzelpersonen - oder NGOs im Namen von Einzelpersonen oder Gruppen - können sogenannte Rechtsstreitpetitionen von öffentlichem Interesse („Public Interest Litigation petitions“, PIL) bei jedem Gericht einreichen, oder beim Obersten Bundesgericht, dem „Supreme Court“ einbringen, um rechtliche Wiedergutmachung für öffentliche Rechtsverletzungen einzufordern (CM 2.8.2017).
Im ländlichen Indien gibt es auch informelle Ratssitzungen, deren Entscheidungen manchmal zu Gewalt gegen Personen führt, die soziale Regeln brechen - was besonders Frauen und Angehörige unterer Kasten betrifft (FH 4.3.2020).
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 05.11.2020
Die indische Polizei (Indian Police Service) ist keine direkte Strafverfolgungs- oder Vollzugsbehörde (BICC 7.2020) und untersteht den Bundesstaaten (AA 23.9.2020). Sie fungiert vielmehr als Ausbildungs- und Rekrutierungsstelle für Führungsoffiziere der Polizei in den Bundesstaaten. Im Hinblick auf die föderalen Strukturen ist die Polizei dezentral in den einzelnen Bundesstaaten organisiert. Die einzelnen Einheiten haben jedoch angesichts eines nationalen Polizeigesetzes, zahlreichen nationalen Strafrechten und der zentralen Rekrutierungsstelle für Führungskräfte eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Allgemein ist die Polizei mit der Strafverfolgung, Verbrechensprävention und -bekämpfung sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut und übt gleichzeitig eine teilweise Kontrolle über die verschiedenen Geheimdienste aus. Innerhalb der Polizei gibt es eine Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID), in die wiederum eine Sondereinheit (Special Branch) integriert ist. Während erstere mit nationalen und die Bundesstaaten übergreifenden Verbrechen betraut ist, hat die Sondereinheit Informationsbeschaffung und Überwachung jeglicher subversiver Elemente und Personen zur Aufgabe. In fast allen Bundesstaaten sind spezielle Polizeieinheiten aufgestellt worden, die sich mit Frauen und Kindern beschäftigen. Kontrolliert wird ein Großteil der Strafverfolgungsbehörden vom Innenministerium (Ministry of Home Affairs) (BICC 7.2020).
Ein Mangel an Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Polizei entsteht neben den strukturellen Defiziten auch durch häufige Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche Tötungen und Drohungen, die mutmaßlich durch die Polizei verübt wurden (BICC 7.2020; vgl. FH 4.3.2020). Es gab zwar Ermittlungen und Verfolgungen von Einzelfällen, aber eine unzureichende Durchsetzung wie auch ein Mangel an ausgebildeten Polizeibeamten tragen zu einer geringen Effizienz bei (USDOS 11.3.2020). Es mangelt nach wie vor an Verantwortlichkeit für Misshandlung durch die Polizei und an der Durchsetzung von Polizeireformen (HRW 14.1.2020).
Das indische Militär ist der zivilen Verwaltung unterstellt und hat in der Vergangenheit wenig Interesse an einer politischen Rolle gezeigt. Der Oberbefehl obliegt dem Präsidenten. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Armee zwar die „Beschützerin der Nation“, aber nur im militärischen Sinne (BICC 7.2020). Das Militär kann im Inland eingesetzt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit notwendig ist (AA 23.9.2020; vgl. BICC 7.2020). Paramilitärischen Einheiten werden als Teil der Streitkräfte, vor allem bei internen Konflikten eingesetzt, so in Jammu und Kaschmir sowie in den nordöstlichen Bundesstaaten. Bei diesen Einsätzen kommt es oft zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen (BICC 7.2020).
Den Sicherheitskräften, sowohl der Polizei, den paramilitärischen Einheiten als auch dem Militär, werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei ihren Einsätzen in den Krisengebieten des Landes nachgesagt (BICC 7.2020).
Für den Einsatz von Streitkräften - vor allem von Landstreitkräften - in Unruhegebieten und gegen Terroristen wird als Rechtsgrundlage der „Armed Forces Special Powers Act“ (AFSPA) zur Aufrechterhaltung von „Recht und Ordnung“ herangezogen (USDOS 11.3.2020). Das Gesetz gibt den Sicherheitskräften in „Unruhegebieten“ weitgehende Befugnisse zum Gebrauch von Gewalt, zu Festnahmen ohne Haftbefehl und Durchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl (AA 23.9.2020; vgl. FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020). Das Gesetz zur Verhinderung ungesetzlicher Aktivitäten (Unlawful Activities Prevention Act, UAPA) gibt den Behörden die Möglichkeit, Personen in Fällen im Zusammenhang mit Aufständen oder Terrorismus festzuhalten (USDOS 11.3.2020). Den Sicherheitskräften wird weitgehende Immunität gewährt (AA 23.9.2020; vgl. FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020).
Im Juli 2016 ließ das Oberste Gericht in einem Zwischenurteil zum AFSPA in Manipur erste Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes erkennen. Der Schutz der Menschenrechte sei auch unter den Regelungen des AFSPA unbedingt zu gewährleisten. Das umstrittene Sonderermächtigungsgesetz wurde im April 2018 für den Bundesstaat Meghalaya aufgehoben, im Bundesstaat Arunachal Pradesh auf acht Polizeidistrikte beschränkt und ist seit April 2019 in drei weiteren Polizeidistrikten von Arunachal Pradesh teilweise aufgehoben. Unverändert in Kraft ist es in folgenden als Unruhegebiete geltenden Staaten: Assam, Nagaland sowie in Teilen von Manipur. Für den Bundesstaat Jammu & Kashmir existiert eine eigene Fassung (AA 23.9.2020).
Die unter anderem auch in den von linksextremistischen Gruppen (sogenannten Naxaliten) betroffenen Bundesstaaten Zentralindiens eingesetzten paramilitärischen Einheiten Indiens unterstehen zu weiten Teilen dem Innenministerium (AA 23.9.2020). Dazu zählen insbesondere die National Security Guard (NSG), aus Angehörigen des Heeres und der Polizei zusammengestellte Spezialtruppe für Personenschutz, auch als „Black Cat“ bekannt, die Rashtriya Rifles, eine Spezialtruppe zum Schutz der Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen bei inneren Unruhen und zur Bekämpfung von bewaffneten Rebellionen, die Central Reserve Police Force (CRPF) - die Bundesreservepolizei, eine militärisch ausgerüstete Polizeitruppe für Sondereinsätze - die Border Security Force (BSF - Bundesgrenzschutz) als größte und am besten ausgestattete Miliz zum Schutz der Grenzen zu Pakistan, Bangladesch und Myanmar. Sie wird aber auch zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in anderen Landesteilen eingesetzt. Die sogenannten Assam Rifles sind zuständig für Grenzverteidigung im Nordosten - die Indo-Tibetan Border Force (ITBP) werden als Indo-Tibetische Grenzpolizei, die Küstenwache und die Railway Protective Force zum Schutz der nationalen Eisenbahn und die Central Industrial Security Force zum Werkschutz der Staatsbetriebe verantwortlich (ÖB 9.2020). Besonders in Unruhegebieten haben die Sicherheitskräfte zur Bekämpfung sezessionistischer und terroristischer Gruppen weitreichende Befugnisse, die oft exzessiv genutzt werden (AA 23.9.2020).
Die Grenzspezialkräfte („Special Frontier Force") unterstehen dem Büro des Premierministers. Die sogenannten Grenzspezialkräfte sind eine Eliteeinheit, die an sensiblen Abschnitten im Grenzgebiet zu China eingesetzt werden. Sie agieren im Rahmen der Geheimdienste, des sogenannten Aufklärungsbüros ("Intelligence Bureau" - Inlandsgeheimdienst) und dem Forschungs- und Analyseflügel ("Research and Analysis Wing“ - Auslandsgeheimdienst) (War Heros of India, 15.1.2017).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Letzte Änderung: 06.11.2020
Frauen
Letzte Änderung: 06.11.2020
Indien ist ein überwiegend patriarchalisch geprägtes Land, in dem Frauen eine untergeordnete Rolle spielen (GIZ 10.2020d). Mädchen und Frauen werden über ihr gesamtes Leben benachteiligt und sind dabei diversen Formen von Gewalt ausgesetzt. Dies beginnt mit der Abtreibung weiblicher Föten, der oft systematischen Vernachlässigung weiblicher Kinder, der geringeren Bildungschancen für Mädchen, der untergeordneten Rolle der Ehefrau in der Familie des Mannes und dem schlimmen Los der Witwen. Trotz einiger Reformmaßnahmen seitens der Regierung lässt sich ein Kulturwandel erst langsam erkennen (GIZ 8.2020a).
Trotz verfassungsmäßigen Schutzes, einer Vielzahl entsprechender Gesetze und einer breiten öffentlichen Debatte bleibt die soziale Realität von Frauen in Indien von systematischer Benachteiligung und Diskriminierung bestimmt – weniger aufgrund staatlichen Handelns, als vielmehr aufgrund tief verwurzelter sozialer Traditionen. Auch im Berichtszeitraum prägen materielle Benachteiligung, Ausbeutung, Unterdrückung und fehlende sexuelle Selbstbestimmung häufig den Alltag von Frauen. Mitgiftmorde, Entrechtung von Witwen, Analphabetentum und Unterernährung bleiben regional unterschiedlich, insgesamt aber stark verbreitet. Frauen sind in vielen Fällen Ungleichbehandlung in Sachen Bildung, Beruf