Index
40/01 VerwaltungsverfahrenNorm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z23Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy, Mag. Stickler, Dr. Faber und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision 1. des I D, 2. der L A, 3. des J D, 4. der M D, 5. der I D, und 6. der D D, alle vertreten durch MMag.a Marion Battisti, Rechtsanwältin in 6020 Innsbruck, Burggraben 4/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. März 2020, 1. W247 1432266-4/9E, 2. W247 1432267-4/10E, 3. W247 1432269-4/9E, 4. W247 2134016-2/9E, 5. W247 1432270-4/9E und 6. W247 2137978-2/9E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit es die Zweitrevisionswerberin betrifft, wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben. Soweit es den Erstrevisionswerber und die Dritt- bis Sechstrevisionswerber betrifft, wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerber sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und gehören der tschetschenischen Volksgruppe an. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Sechstrevisionswerber.
2 Die Erst- bis Fünftrevisionswerber stellten am 11. Februar 2015 (Folge-)Anträge auf internationalen Schutz. Begründend brachten sie vor, die Fluchtgründe aus dem ersten Verfahren - der Erstrevisionswerber sei nach einer Auseinandersetzung mit einem Mitarbeiter des tschetschenischen Präsidenten verfolgt worden - seien weiterhin aufrecht. Überdies habe der Erstrevisionswerber in seinem Herkunftsstaat einen Einberufungsbefehl erhalten und befürchte, in der Ukraine an Kampfhandlungen teilnehmen zu müssen.
3 Mit Bescheiden vom 10. August 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Erst- bis Fünftrevisionswerber und mit Bescheid vom 4. Oktober 2016 den Antrag auf internationalen Schutz der in Österreich geborenen Sechstrevisionswerberin ab.
4 Mit Erkenntnis vom 5. Juli 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden der Revisionswerber als unbegründet ab.
5 Am 21. November 2019 stellten die Revisionswerber neuerlich (die gegenständlichen) Anträge auf internationalen Schutz. Begründend brachten sie vor, „es sei alles noch schlimmer geworden“. Sie könnten nicht nach Tschetschenien zurückkehren, da der Erstrevisionswerber Probleme mit der Polizei habe, weil er mit seinem Cousin einem Bekannten Geld für dessen Flucht geschickt habe. Sein Cousin sei deswegen im Jahr 2017 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Dieser habe den Erstrevisionswerber auch vor einer Rückkehr gewarnt, da er von der tschetschenischen Regierung gesucht werde.
6 Mit Bescheiden vom 23. Dezember 2019 wies das BFA die Anträge der Revisionswerber sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, sprach aus, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe, erließ gegen sie befristete Einreiseverbote und trug ihnen auf, in einem bestimmten Quartier Unterkunft zu nehmen.
7 Gegen diese Bescheide erhoben die Revisionswerber Beschwerde. In der Beschwerde wurde unter anderem vorgebracht, die Zweitrevisionswerberin hätte allein und nicht im Beisein des Erstrevisionswerbers einvernommen werden müssen. Erstmals sei es der Zweitrevisionswerberin nach Zustellung des von ihr bekämpften Bescheides in einem vertraulichen Gespräch mit ihrer Rechtsberaterin möglich gewesen, darüber zu sprechen, dass sie in Tschetschenien erheblichen Qualen und Übergriffen durch ihren Onkel väterlicherseits ausgesetzt gewesen sei, bei dem sie zwischen ihrem dritten und ihrem 16. Lebensjahr aufgewachsen sei. Die Zweitrevisionswerberin befürchte, bei einer Rückkehr wieder von ihrem Onkel, welcher eine hohe Position in Tschetschenien habe, misshandelt zu werden. Die Revisionswerber beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, wobei die Zweitrevisionswerberin alleine und von einer Person des gleichen Geschlechts einzuvernehmen wäre.
8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerber - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab, legte jedoch eine Frist für die freiwillige Ausreise fest, und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei.
9 Das BVwG führte aus, die Beschwerde sei zunächst der (von einem männlichen Richter geführten) Gerichtsabteilung W247 zugewiesen worden, deren Leiter sich jedoch für unzuständig erklärt habe, weil die Zweitrevisionswerberin in der Beschwerde einen Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung geltend gemacht habe. Die Beschwerde sei in der Folge der Gerichtsabteilung W215 zugewiesen worden, deren Leiterin sich ebenfalls für unzuständig erklärt habe, weil ein neues Vorbringen in der Beschwerde gegen die Zurückweisung eines Folgeantrages wegen entschiedener Sache von der Sache des Beschwerdeverfahrens nicht umfasst sei. Aus diesem Grund habe der Präsident des BVwG entschieden, dass die Beschwerdesache endgültig der Gerichtsabteilung W247 zugewiesen werde.
10 Zur Abweisung der Beschwerden führte das BVwG begründend aus, die befürchtete Verfolgung durch die Polizei, weil der Erstrevisionswerber mit seinem Cousin einem Bekannten Geld geschickt habe, habe sich bereits im Jahr 2017 und somit vor Eintritt der Rechtskraft des Vorerkenntnisses des BVwG vom 5. Juli 2019 ereignet. Es handle sich somit nicht um neue Tatsachen, welche eine Rechtskraftdurchbrechung zuließen. Das erstmals in der Beschwerde enthaltene Vorbringen der Zweitrevisionswerberin, sie sei in ihrem Herkunftsstaat von ihrem Onkel misshandelt worden und befürchte bei einer Rückkehr wieder misshandelt zu werden, stelle eine neues Sachverhaltsvorbringen dar, welches von der Sache des Beschwerdeverfahrens über den Folgeantrag nicht umfasst und für die Überprüfung, ob die Folgeanträge vom BFA zu Recht zurückgewiesen worden seien, unbeachtlich sei.
11 Die Zulässigkeit der Revision begründete das BVwG damit, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ob ein erstmals in der Beschwerde gegen die Zurückweisung eines Antrags auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache enthaltenes Vorbringen eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß § 20 AsylG 2005 zur Unzuständigkeit des erkennenden Richters führe.
12 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, welche das BVwG unter Anschluss der Akten vorlegte. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
14 Die Revision ist zulässig, weil sie zu Recht vorbringt, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob bei einem erstmals in der Beschwerde gegen die Zurückweisung eines Folgeantrages wegen entschiedener Sache enthaltenen Vorbringen eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung die Zuständigkeitsregelungen des § 20 AsylG 2005 zur Anwendung kommen.
15 Die Revision ist auch begründet.
16 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in jenem Fall, in dem das BFA den verfahrenseinleitenden Antrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen hat, insoweit „Sache des Beschwerdeverfahrens“ vor dem BVwG die Frage, ob diese Zurückweisung zu Recht erfolgt ist. Das BVwG hat diesfalls zu prüfen, ob die Behörde auf Grund des von ihr zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen früheren Asylverfahren keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist. Die Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags auf Grund geänderten Sachverhalts hat - von allgemein bekannten Tatsachen abgesehen - im Beschwerdeverfahren nur anhand der Gründe, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens vorgebracht wurden, zu erfolgen (vgl. zum Ganzen VwGH 23.09.2020, Ra 2020/14/0175, mwN). Neues Sachverhaltsvorbringen in der Beschwerde gegen den nach § 68 Abs. 1 AVG ergangenen Bescheid ist somit von der „Sache“ des Beschwerdeverfahrens vor dem BVwG nicht umfasst und daher unbeachtlich (vgl. etwa VwGH 2.5.2019, Ra 2018/20/0515, mwN).
17 § 20 Abs. 1 AsylG 2005 bestimmt, dass ein Asylwerber, der seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung gründet, von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen ist, es sei denn, dass er anderes verlangt. Gemäß § 20 Abs. 2 AsylG 2005 gilt dies auch für das Verfahren vor dem BVwG, wenn der Asylwerber den Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat.
18 Nach dem Zweck des § 20 Abs. 2 AsylG 2005 soll die Durchführung der mündlichen Verhandlung durch einen Richter desselben Geschlechts den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken. Gleiches gilt für die Furcht vor noch nicht stattgefundenen, sondern drohenden Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung (vgl. etwa VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007, mwN; 26.5.2020, Ra 2020/20/0031).
19 Verfahren über Folgeanträge sind von der Bestimmung des § 20 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 nicht ausgenommen (vgl. VfGH 9.10.2018, E 1297/2018). Nach seinem insoweit nicht differenzierenden Wortlaut gelangt § 20 Abs. 2 AsylG 2005 in allen Verfahren vor dem BVwG zur Anwendung. Eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Beschwerdeverfahren nach ihrem Gegenstand, welche eine Ausnahme von Verfahren über Beschwerden gegen die Zurückweisung eines Folgeantrags wegen entschiedener Sache von ihrem Anwendungsbereich begründen könnte, sieht diese Bestimmung nicht vor. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich schon in anderem Zusammenhang für die Abgrenzung des Anwendungsbereiches des § 20 AsylG 2005 im Asylverfahren am Wortlaut dieser Bestimmung orientiert (vgl. VwGH 6.11.2018, Ra 2017/01/0363, in welchem die Anwendbarkeit des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 auf die Erstbefragung nach § 19 Abs. 1 leg. cit. verneint wurde; vgl. auf den Wortlaut des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 abstellend auch VwGH 12.10.2016, Ra 2016/18/0119).
20 Soweit § 20 Abs. 2 AsylG 2005 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung abstellt, hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde geltend macht, gleich bei Beschwerdeanfall und nicht erst dann, wenn sich nach dessen Prüfung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als notwendig erweist, einem Einzelrichter desselben Geschlechts zur Behandlung zuzuweisen ist, sofern der Asylwerber nicht anderes verlangt. Andernfalls würde nämlich der ursprünglich zuständige Richter eine inhaltliche Entscheidung treffen, die nach der Festlegung des Gesetzgebers nur das entsprechend der Behauptung des Asylwerbers betreffend einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung von Anfang an richtig zusammengesetzte Organ des BVwG treffen darf. Die Zuständigkeit wird also bereits durch die entsprechende Behauptung vor dem BFA oder in der Beschwerde begründet, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit zu erfolgen hätte oder bereits ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen herzustellen wäre (vgl. auch dazu VwGH Ro 2019/01/0007, Rn. 19, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, der sich der Verwaltungsgerichtshof angeschlossen hat).
21 Diese Überlegungen sind auf ein Verfahren über eine Beschwerde gegen die Zurückweisung eines Folgeantrages wegen entschiedener Sache übertragbar, in welchem der zuständige Richter des BVwG zu beurteilen hat, ob es sich bei einem Beschwerdevorbringen, mit welchem eine Verfolgung wegen eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung behauptet wird, im Vergleich zum Vorbringen, mit welchem der Folgeantrag in erster Instanz begründet wurde, um ein neues Sachverhaltsvorbringen handelt oder nicht.
22 Im Revisionsfall brachte die Zweitrevisionswerberin in der Beschwerde vor, durch ihren Onkel in Tschetschenien Qualen und Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein und im Fall einer Rückkehr wieder solche Misshandlungen zu befürchten. Damit machte sie einen Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung geltend. Daher wäre das Verfahren über die Beschwerde der Zweitrevisionswerberin von einem Organwalter desselben Geschlechts, somit einer Richterin zu führen gewesen.
23 Der Verstoß gegen § 20 Abs. 2 AsylG 2005 kann vor dem Verwaltungsgerichtshof als Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes geltend gemacht werden. Die Darstellung der Relevanz für den Verfahrensausgang ist diesfalls nicht erforderlich (vgl. VwGH 27.6.2016, Ra 2014/18/0161; 26.5.2020, Ra 2020/20/0031, mwN).
24 Das angefochtene Erkenntnis war daher, insoweit es die Zweitrevisionswerberin betrifft, wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG aufzuheben.
25 Die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses in Bezug auf die Zweitrevisionswerberin schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auf den Erstrevisionswerber und die Dritt- bis Sechstrevisionswerber durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidung. Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich dieser Revisionswerber gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben; vgl. VwGH 30.4.2021, Ra 2020/19/0269, mwN).
26 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Hinsichtlich des Ausmaßes des zuerkannten Ersatzes ist auf das Antragsprinzip gemäß § 59 VwGG, wonach ziffernmäßig verzeichnete Kosten nur in der beantragten Höhe zuzusprechen sind, zu verweisen (vgl. VwGH 20.8.2020, Fr 2020/19/0012, mwN), sodass den Revisionswerbern lediglich der begehrte Schriftsatzaufwand von EUR 1.106,20 zuzusprechen war. Die verzeichnete „Pauschalgebühr (sechsfach)“ war nicht zuzuerkennen, da die in der Revision im Umfang der Befreiung von der Eingabengebühr nach § 24a VwGG beantragte Verfahrenshilfe vom BVwG für alle Revisionswerber bewilligt wurde.
Wien, am 26. Mai 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020190002.J00Im RIS seit
28.06.2021Zuletzt aktualisiert am
06.07.2021