TE Vwgh Erkenntnis 2021/5/26 Ra 2018/22/0132

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Veröffentlicht am 26.05.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §58 Abs2
AVG §60
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs2
VwGVG 2014 §28 Abs3
VwGVG 2014 §29 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Wien vom 23. April 2018, VGW-151/018/4439/2018-1, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: A Y in W, vertreten durch Mag. Julian A. Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Baumannstraße 9/12A), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1. Der Mitbeteiligten, einer - am 10. Februar 1997 geborenen, mit einem österreichischen Staatsbürger verheirateten - türkischen Staatsangehörigen, wurde auf Grund ihres Erstantrags vom 13. November 2014 durch den Landeshauptmann von Wien (im Folgenden: Behörde) ein Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) für den Zeitraum vom 13. November 2014 bis zum 13. November 2015 erteilt. Dieser Aufenthaltstitel wurde in der Folge auf Grund eines Verlängerungsantrags für den Zeitraum vom 14. November 2015 bis zum 14. November 2016 verlängert.

2.1. Am 20. September 2016 stellte die Mitbeteiligte einen neuerlichen Verlängerungsantrag.

2.2. Die Behörde führte zu diesem weiteren Verlängerungsantrag diverse Ermittlungen durch. So nahm sie Abfragen des Zentralen Melderegisters, des Strafregisters und des Zentralen Fremdenregisters vor, holte Auskünfte aus dem „AJ-WEB“ ein, erteilte der Mitbeteiligten mehrere Aufträge zur Vorlage von Unterlagen unter anderem über das Bestehen einer Erwerbsabsicht in Österreich, führte eine niederschriftliche Vernehmung der Mitbeteiligten insbesondere zum Thema, ob diese die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit beabsichtige, durch und nahm auch eine Äußerung des Ehegatten zu dieser Frage entgegen.

3.1. Mit Bescheid vom 5. September 2017 wies die Behörde den Verlängerungsantrag ab, wobei sie begründend im Wesentlichen ausführte:

Die Mitbeteiligte habe zwar im Zuge ihres Erstantrags und ihres ersten Verlängerungsantrags angegeben, dass sie eine Erwerbstätigkeit beabsichtige und an deren Aufnahme bisher durch die Geburt ihres Kindes im Februar 2016 und die anschließende Karenz gehindert (gewesen) sei. Nunmehr sei die Behörde jedoch zur Auffassung gelangt, dass die Mitbeteiligte niemals eine Erwerbstätigkeit beabsichtigt habe. Sie habe sich nämlich über den auszuübenden Beruf nicht einmal Gedanken gemacht und auch nie ernsthafte diesbezügliche Bemühungen entfaltet. Der Ehegatte habe ebenso angegeben, dass sie nicht mehr in Österreich arbeiten wolle. Die Mitbeteiligte sei daher lediglich deshalb nach Österreich gekommen, um bei ihrem österreichischen Ehegatten leben zu können.

Auf Grund des Fehlens einer Erwerbsabsicht komme - so das Verwaltungsgericht weiter - das Assoziierungsabkommen EWG-Türkei nicht zur Anwendung, vielmehr sei der Sachverhalt nach dem NAG zu beurteilen. Gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 NAG sei die Mitbeteiligte jedoch keine Familienangehörige, weil sie im Zeitpunkt der Antragstellung das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. Ein Aufenthaltstitel sei auch nicht deshalb zu gewähren, weil das Kind (ein österreichischer Staatsbürger) zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen wäre, vielmehr könne es bei seinem Vater in Österreich bleiben. Im Hinblick darauf sei der Mitbeteiligten die beantragte Verlängerung des Aufenthaltstitels zu versagen.

3.2. Gegen diesen Bescheid erhob die Mitbeteiligte Beschwerde mit dem Vorbringen, die Behörde gehe zu Unrecht davon aus, dass sie keine Erwerbstätigkeit ausüben wolle und nur deshalb nach Österreich gekommen sei, um bei ihrem Ehemann zu leben. Tatsächlich habe sie nach Beendigung ihrer Karenzzeit Ende August 2017 bereits mit 20. September 2017 eine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Zudem besuche sie seit Juli 2017 einen Deutschkurs, um am Arbeitsmarkt besser bestehen zu können. Im Hinblick darauf sei jedoch das Assoziierungsabkommen EWG-Türkei maßgeblich und der Sachverhalt nicht nach dem NAG zu beurteilen.

Die Mitbeteiligte legte mit der Beschwerde auch eine Anmeldebestätigung für den Deutschkurs und eine Anmeldung als geringfügig Beschäftigte bei der Krankenkasse mit 20. September 2017 vor.

3.3. Auf Grund der Beschwerde führte die Behörde weitere Ermittlungen durch. So holte sie Auskünfte aus dem „AJ-WEB“ ein, nahm eine Abfrage des „FirmenABC“ und der Insolvenzdatei betreffend die behauptete Dienstgeberin vor, schaffte diesbezügliche Entscheidungen des Insolvenzgerichts bei, erteilte der Mitbeteiligten den Auftrag zur Vorlage von Unterlagen zum Nachweis des bezogenen Arbeitsentgelts, führte eine niederschriftliche Vernehmung der Mitbeteiligten zur behaupteten Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch und lud auch die Dienstgeberin, die jedoch zur Einvernahme nicht erschien.

4.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss vom 23. April 2018 hob das Verwaltungsgericht Wien den bekämpften Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG auf und verwies die Angelegenheit an die Behörde zurück.

In der Beschlussbegründung gab das Verwaltungsgericht zunächst den Inhalt des bekämpften Bescheids und der dagegen erhobenen Beschwerde wieder. In der Folge hielt es - in einem einzigen Satz - fest, dass mit den Ausführungen in der Beschwerde „ein geänderter Sachverhalt“ vorliege, der „einer neuerlichen Beurteilung und Prüfung“ durch die Behörde unterzogen werden müsse, weshalb der Bescheid zu beheben und die Sache an die Behörde zurückzuverweisen sei.

4.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass eine ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5.1. Gegen diesen Beschluss wendet sich die außerordentliche Revision, in der zusammengefasst im Wesentlichen geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur meritorischen Entscheidungspflicht abgewichen (Hinweis u. a. auf VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063). Das Verwaltungsgericht habe auch nicht nachvollziehbar begründet, warum es eine meritorische Entscheidungszuständigkeit als nicht gegeben erachte.

5.2. Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag auf „Bestätigung“ der angefochtenen Entscheidung.

6. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist aus dem geltend gemachten Grund zulässig und auch begründet.

7.1. Zu den für kassatorische Entscheidungen gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG geltenden Voraussetzungen ist auf das schon erwähnte hg. Erkenntnis Ro 2014/03/0063 zu verweisen (§ 43 Abs. 2 VwGG). Demnach ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte gesetzlich festgelegt. Die nach § 28 VwGVG verbleibenden Ausnahmen von der meritorischen Entscheidungspflicht sind strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt hat oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, rechtfertigen keine Zurückverweisung, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allfälligen mündlichen Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 16.2.2018, Ra 2015/08/0054, mwN).

7.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat ferner bereits hervorgehoben, dass das Verwaltungsgericht nachvollziehbar zu begründen hat, wenn es eine meritorische Entscheidungszuständigkeit (ausnahmsweise) als nicht gegeben annimmt. Das Verwaltungsgericht hat daher darzulegen, dass und aus welchen Gründen die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung nach § 28 Abs. 2 VwGVG nicht erfüllt sind, insbesondere in welcher Weise der entscheidungsrelevante Sachverhalt nicht feststeht und inwiefern allenfalls erforderliche Ergänzungen nicht vom Verwaltungsgericht selbst vorzunehmen wären. Diesen Anforderungen wird der bloße Hinweis auf einen im Beschwerdeverfahren geänderten Sachverhalt, der von der Behörde neuerlich zu beurteilen bzw. zu prüfen sei, im Allgemeinen nicht gerecht (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 17.6.2019, Ra 2018/22/0058, mwN).

8. Vorliegend ist zunächst festzuhalten, dass dem angefochtenen Beschluss eine im Sinn der obigen Ausführungen nachvollziehbare Begründung, warum das Verwaltungsgericht eine meritorische Entscheidungszuständigkeit als nicht gegeben erachtete, nicht zu entnehmen ist. Der bloße Hinweis, es liege „ein geänderter Sachverhalt“ vor, der einer neuerlichen Beurteilung und Prüfung durch die Behörde unterzogen werden müsse, stellt keine den aufgezeigten Anforderungen entsprechende nachvollziehbare Begründung dar.

9.1. Für den Verwaltungsgerichtshof ist auch in keiner Weise zu sehen, dass Ermittlungsmängel vorlägen, die im Sinn der obigen Erörterungen das Fehlen der Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG für eine meritorische Entscheidung durch das Verwaltungsgericht nach sich ziehen und damit zu einer Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG führen könnten.

9.2. Wie aus den Verwaltungsakten hervorgeht, hat die Behörde bereits vor der Erlassung des Bescheids vom 5. September 2017 umfangreiche Sachverhaltsermittlungen durchgeführt (vgl. näher Punkt 2.2.). Weitere umfangreiche Tatsachenermittlungen nahm sie nach der Erhebung der Beschwerde vor (vgl. näher Punkt 3.3.). Diese Beweisaufnahmen sind jeweils zu dem - unstrittig - entscheidenden Themenbereich (vgl. näher VwGH 9.8.2018, Ra 2017/22/0111; 31.5.2017, Ra 2016/22/0089) erfolgt, ob die Mitbeteiligte eine Erwerbstätigkeit beabsichtige bzw. - wie in der Beschwerde behauptet - eine solche bereits aufgenommen habe.

9.3. Davon ausgehend hat die Behörde aber bereits wesentliche Ermittlungen zum maßgeblichen Sachverhalt durchgeführt. Auf Grundlage dieser brauchbaren Ermittlungsergebnisse können vom Verwaltungsgericht - nach allfälliger Vervollständigung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung (§ 24 VwGVG) - die erforderlichen Tatsachenfeststellungen getroffen werden, um die Voraussetzungen für den Anspruch auf Verlängerung des Aufenthaltstitels beurteilen zu können.

Von bloß ansatzweisen Ermittlungen - im Sinn des Vorliegens krasser bzw. besonders gravierender Lücken - kann im Hinblick auf die von der Behörde durchgeführten weitgehenden Erhebungen keine Rede sein. Dass die Ermittlungen (zum Teil) erst nach Erlassung des Bescheids durchgeführt wurden, ist auf das erstmals in der Beschwerde erstattete ergänzende Vorbringen zurückzuführen, ändert aber nichts daran, dass die behördlichen Ermittlungsergebnisse dem Verwaltungsgericht zur Verfügung standen und von diesem zu berücksichtigen waren (vgl. zu einer derartigen Konstellation etwa VwGH 9.2.2018, Ra 2015/08/0041).

9.4. Eine Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG ist auch nicht etwa aus Gesichtspunkten der Effizienz geboten, ist doch die Vornahme ergänzender Ermittlungen durch das Verwaltungsgericht selbst fallbezogen jedenfalls im Interesse der Raschheit gelegen (vgl. VwGH 28.2.2018, Ra 2015/08/0043).

10. Dem steht auch der von der Mitbeteiligten in der Revisionsbeantwortung gegebene Hinweis auf weitere Ermittlungsschritte (etwa einen Augenschein am Arbeitsplatz oder dortige Befragungen) nicht entgegen. Solche Ermittlungen könnten problemlos vom Verwaltungsgericht durchgeführt werden.

11. Insgesamt war daher der Revision Folge zu geben und der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Wien, am 26. Mai 2021

Schlagworte

Verfahrensbestimmungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2018220132.L00

Im RIS seit

28.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

21.07.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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