Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 1. Juni 2021 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz-Hummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Mag. Pentz in der Strafsache gegen * M* und andere wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 608 St 1/08w der Staatsanwaltschaft Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 4. November 2019, AZ 22 Bs 113/19g (ON 8746), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Stani, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 4. November 2019, AZ 22 Bs 113/19g (ON 8746), verletzt § 51 Abs 1 StPO.
Text
Gründe:
[1] Die Staatsanwaltschaft Wien führt zu AZ 608 St 1/08w gegen * M* und andere ein Ermittlungsverfahren wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen.
[2] Am 15. November 2018 beantragte der Beschuldigte M* Einsichtnahme in das bei gerichtlich bewilligten Durchsuchungen sichergestellte und in der Folge in einem „Online-Datenraum“ zwecks Auswertung und Prüfung auf Verfahrensrelevanz gespeicherte Datenmaterial (ON 8232). Mit Schreiben vom 19. November 2018 (ON 8235) lehnte die Staatsanwaltschaft Wien dieses Begehren ab. Den dagegen erhobenen Einspruch (ON 8260) wegen Rechtsverletzung (§ 106 StPO), in dem der Beschuldigte ausschließlich eine Verletzung des subjektiven Rechts auf Akteineinsicht nach §§ 51 ff StPO und nicht (auch) auf Aktenergänzung geltend machte, wies die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 3. April 2019, GZ 334 HR 436/08g-8442, ab, weil Datenmaterial, das erst auf seine Beweis- und Verfahrensrelevanz hin überprüft werde, nicht der Akteneinsicht unterliege (BS 29 ff).
[3] Das Oberlandesgericht Wien gab der dagegen gerichteten Beschwerde des Beschuldigten M* (ON 8463) mit Beschluss vom 4. November 2019, AZ 22 Bs 113/19g, Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf, stellte in Stattgebung des Einspruchs wegen Rechtsverletzung eine Verletzung des „Rechts auf Akteneinsicht nach den §§ 51, 53 StPO“ fest und ordnete die Gewährung von „Akteneinsicht in den von der E* GmbH angelegten Online-Datenraum durch Freischaltung eines entsprechenden Remote-Zugangs“ an (ON 8746).
[4] Nach den Sachverhaltsannahmen des Beschwerdegerichts stellt der sichergestellte Datenbestand zufolge der noch laufenden Auswertung auf seine Verfahrensrelevanz hin keinen Bestandteil des Ermittlungsakts dar (BS 16). Daraus zog das Oberlandesgericht Wien in rechtlicher Hinsicht den Schluss, dass es sich bei den elektronischen Daten nicht um ein vom Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht umfasstes Ergebnis des Ermittlungsverfahrens iSd § 51 Abs 1 StPO handelt (BS 16 f). Da aber „allerspätestens“ mit der Übermittlung eines als Abschlussbericht bezeichneten Berichts der Kriminalpolizei (ON 8174) die Daten physisch als Beilagen zum gegenständlichen Akt zu nehmen „bzw dem Gericht zur Aufbewahrung zu übergeben“ gewesen wären, sei dem Beschuldigten ein Recht auf Einsichtnahme in den Datenbestand zuzuerkennen (BS 17).
Rechtliche Beurteilung
[5] Wie die Generalprokurator in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht dieser Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht mit dem Gesetz nicht im Einklang:
[6] Die Dokumentationsbefugnis der Staatsanwaltschaft besteht zu den in § 1 Abs 1 erster Satz StPO normierten (gesetzlichen) Zwecken, also zur Aufklärung von (begangenen) Straftaten, zur Verfolgung solcher Straftaten verdächtiger Personen und zu damit zusammenhängenden Entscheidungen. Dokumentation zu anderen als diesen Zwecken bedarf einer konkret benennbaren gesetzlichen Grundlage (Art 18 Abs 1 B-VG; Ratz, Führung von Ermittlungsverfahren und Ermittlungsakt, ÖJZ 2020, 865 [868]; allgemein zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für hoheitliches Handeln Wiederin, WK-StPO § 5 Rz 13 ff).
[7] Im (hier) Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten (zur ohne prozessuale Konsequenzen bleibenden Differenzierung im Ermittlungsverfahren zwischen „gegen […] die verdächtige Person“ und „gegen diese Person als Beschuldigten“ geführte „Strafverfahren“ siehe § 1 Abs 2 erster Satz StPO; vgl Ratz, Vom Übergang in ein Ermittlungs- und Hauptverfahren, ÖJZ 2020, 354) hat die Staatsanwaltschaft für die zur Entscheidung über das Einbringen der Anklage notwendigen Ermittlungen zu sorgen (§ 4 Abs 1 zweiter Satz StPO). In diesem Sinn notwendig sind solche zu erheblichen Tatsachen (RIS-Justiz RS0118319 [T3]; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 29, 340) – soweit hier relevant – zur Klärung, ob das Verhalten einer bestimmten Person eine rechtliche Kategorie des Kriminalstrafrechts begründet (11 Os 56/20z). Allein in diesem Umfang besteht eine umfassende Dokumentationspflicht (vgl Soyer/Stuefer, WK-StPO §§ 51–53 Rz 8 [Kriminalpolizei], 11 [Staatsanwaltschaft]; vgl zu einer solchen der Kriminalpolizei auch Vogl, WK-StPO § 100 Rz 4; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.68).
[8] Informationen, deren Erheblichkeit für das angesprochene Thema auch als (unter Umständen entlastender) Kontrollbeweis (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 350) nicht erkennbar ist, sind vom Verfahrensgegenstand nicht umfasst und deshalb kein im Ermittlungsakt festzuhaltendes Ergebnis (erneut 11 Os 56/20z; vgl aus Sicht der Kriminalpolizei Soyer/Stuefer, WK-StPO §§ 51–53 Rz 8). Ebenso wenig darf die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Aufgaben nicht erforderliche personenbezogene Daten verarbeiten (§ 74 Abs 1 erster Satz StPO).
[9] Demnach sind Ermittlungsakten nicht faktisch, sondern rechtlich determiniert (abermals 11 Os 56/20z; Ratz, ÖJZ 2020, 865 [868 f], der begründend auch auf gesetzliche Vernichtungsanordnungen verweist), sodass der allein aus der Möglichkeit des Zugriffs auf elektronische Daten gezogene (rechtliche) Schluss auf das Vorliegen von Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens iSd § 51 Abs 1 StPO nicht zulässig ist. Erst deren Bewertung als Information zu erheblichen Tatsachen macht sie zu einem solchen Ergebnis und verpflichtet zu aktenmäßigem Festhalten, mit dem Zugänglichkeit nach § 53 Abs 1 StPO einhergeht (vgl dazu und zum Recht auf Aktenergänzung und dessen Durchsetzung mit Einspruch nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO Ratz, ÖJZ 2020, 865 [872]; vgl auch Soyer/Stuefer, WK-StPO §§ 51–53 Rz 10 und 28/1).
[10] Indem das Beschwerdegericht trotz des (zutreffend) verneinten Vorliegens von Ergebnissen im dargestellten Sinn (BS 16) – mit unklarem Hinweis auf §§ 609 ff Geo – aus der mehrjährigen Dauer der Auswertung des elektronischen Datenbestands (vgl zur Aktenführung unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots Ratz, ÖJZ 2020, 865 [871]) ein diesen umfassendes – von der Staatsanwaltschaft zu Unrecht verweigertes – Akteneinsichtrecht des Beschuldigten M* ableitet, verletzte es das Gesetz in § 51 Abs 1 StPO.
[11] Da diese Gesetzesverletzung nicht zum Nachteil dieses (Beschwerde führenden) Beschuldigten wirkt, hat es mit ihrer Feststellung sein Bewenden (§ 292 vorletzter Satz StPO).
Textnummer
E131992European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:E131992Im RIS seit
25.06.2021Zuletzt aktualisiert am
04.02.2022