Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 7. Juni 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz-Hummel LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Pauritsch in der Strafsache gegen Samim O***** wegen Verbrechen der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 15. Jänner 2021, GZ 31 Hv 117/20f-48, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.
Text
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde Samim O***** jeweils mehrerer Vergehen der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (I) und der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1, 84 Abs 2 StGB (III) sowie eines Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Strafsatz StGB (II) schuldig erkannt.
[2] Danach hat der Genannte (der zur Tatzeit das 21. Lebensjahr bereits vollendet hatte) am 17. Juli 2020 in W***** auf jeweils im Urteil beschriebene Weise versucht,
(I) in drei jeweils auf gesondertem Tatentschluss beruhenden Angriffen (die zur Tatzeit zwölfjährige) A***** mit Gewalt zu Duldungen und Unterlassungen zu nötigen sowie
(II) vier Polizeibeamte mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich seiner Festnahme und Verbringung in den Arrestantenwagen, zu hindern und
(III) drei dieser Beamten während der Vollziehung ihrer Aufgaben am Körper zu verletzen.
[3] Hiefür wurde er „unter Anwendung von § 28 Abs 1 StGB nach dem Strafsatz des § 84 Abs 1 StGB“ (US 3) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Rechtliche Beurteilung
[4] Dagegen wendet sich die auf § 281 Abs 1 Z 11 erster Fall StPO gestützte, zum Nachteil des Angeklagten ausgeführte, Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft.
[5] Sie bringt vor, das Schöffengericht habe zu Unrecht keine Erweiterung des Strafrahmens nach § 39 StGB angenommen.
[6] Mit dem Gewaltschutzgesetz 2019 BGBl I 2019/105 (Inkrafttreten am 1. Jänner 2020) wurde die angesprochene Bestimmung von einer „fakultativ anzuwendenden Strafbemessungsvorschrift“ (13 Os 64/75, SSt 46/40 [verst Senat], RIS-Justiz RS0091333) zu einer reinen Strafrahmenvorschrift gemacht (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 668; aM Tipold in Leukauf/Steininger, StGB Update 2020 § 39 Rz 1, der § 39 StGB idgF „strafsatzändernd“ einstuft, dabei aber übersieht, dass die StPO unter dem Begriff des anzuwendenden Strafsatzes die rechtsrichtige Subsumtion versteht [RIS-Justiz RS0119249], wogegen § 39 StGB – auch in der Fassung BGBl I 2019/105 – die jeweilige Subsumtion unberührt lässt).
[7] Hievon ausgehend ist – im Unterschied zur früheren Rechtslage (dazu 13 Os 44/09h, SSt 2009/52; RIS-Justiz RS0125294) – Nichtigkeit aus Z 11 erster Fall auch dann gegeben, wenn das Gericht eine Strafrahmenerweiterung nach § 39 StGB zu Unrecht verneint hat (12 Os 97/20m; vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 666, 668 und 668/3).
[8] Dass Letzteres hier der Fall war, trifft aber – der Beschwerde zuwider – nicht zu:
[9] Das Schöffengericht hat Feststellungen zum jeweiligen Zeitpunkt und Gegenstand der bisherigen gerichtlichen Verurteilungen des Angeklagten ebenso getroffen wie zur Verbüßung der dabei verhängten Freiheitsstrafen und zu den Zeitpunkten seiner Entlassung aus diesen (US 4 f). Auf der Grundlage dieser Feststellungen sind die Voraussetzungen sowohl des Abs 1 als auch des Abs 1a des § 39 StGB erfüllt; Rückfallsverjährung (§ 39 Abs 2 StGB) ist danach nicht eingetreten. Damit wurde – ohnedies – eine die Annahme von Strafschärfung bei Rückfall nach § 39 StGB tragende Tatsachengrundlage geschaffen.
[10] Soweit die Rüge einen Feststellungsmangel (hier Z 11 erster Fall) in Bezug auf Tatumstände behauptet, deren Bejahung eine Erweiterung der Strafbefugnis „nach § 39 Abs 1 oder (als speziellere Norm) Abs 1a StGB“ zur Folge hätte, geht sie daher ins Leere (vgl RIS-Justiz RS0118580 [T14]).
[11] Gleiches gilt für den Einwand, das Schöffengericht sei bei der Strafbemessung verfehlt von einem zu geringen Strafrahmen ausgegangen, weil das Urteil „jegliche Ausführungen zur Anwendung oder Nichtanwendung von § 39 Abs 1 bzw § 39 Abs 1a StGB vermissen“ lasse.
[12] Nach der Ordnungsvorschrift des § 260 Abs 1 Z 4 StPO ist zwar geboten, im Fall eines nach § 39 StGB erweiterten Strafrahmens diese Bestimmung im Urteilsspruch anzuführen. Das Unterbleiben ihrer Nennung im Urteil steht aber weder unter Nichtigkeitssanktion (Lendl, WK-StPO § 260 Rz 44 ff) noch lässt es per se darauf schließen, dass diese (bloße Strafrahmen-)Vorschrift hier nicht „angewendet“ wurde (vgl RIS-Justiz RS0091369 und RS0100877). Dass jener Strafrahmen, von dem das Erstgericht ausging, im Urteil (gerade) nicht zahlenmäßig bezeichnet wird – was übrigens auch keineswegs erforderlich ist (Danek/Mann, WK-StPO § 270 Rz 42) – bedeutet ebenso wenig, dass er unrichtig wäre.
[13] Die tatsächlich ausgemessene Strafe wiederum liegt jedenfalls innerhalb des zutreffenden Rahmens:
[14] Dieser ist auf der Basis des Urteilssachverhalts (US 4 ff) nach oben durch § 84 Abs 1 StGB iVm § 39 Abs 1 und Abs 1a StGB, nach unten aber – weil in Bezug auf die vom Schuldspruch I umfassten (§ 105 Abs 1 StGB subsumierten) Taten die Voraussetzungen des § 39a Abs 1 Z 1 StGB erfüllt sind – durch § 39a Abs 2 Z 1 StGB begrenzt, reicht also von zwei Monaten bis zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe (zur Strafrahmenbildung bei Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen siehe Ratz in WK2 StGB § 28 Rz 1 ff [insbesondere Rz 7]).
[15] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – entgegen der Stellungnahme der Generalprokuratur – gemäß § 285d Abs 1 StPO bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen.
[16] Über die Berufung hat das Oberlandesgericht zu entscheiden (§ 285i StPO).
Textnummer
E131991European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0130OS00039.21S.0607.000Im RIS seit
25.06.2021Zuletzt aktualisiert am
25.06.2021