Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Juni 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Csencsits als Schriftführerin in der Strafsache gegen R***** K***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 22. September 2020, GZ 37 Hv 33/20i-49, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Mag. Gföller, des Angeklagten und seines Verteidigers Dr. Graupner sowie der Privatbeteiligtenvertreterin Dr. Günther zu Recht erkannt:
Spruch
In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Strafausspruch aufgehoben und im Umfang der Aufhebung in der Sache selbst erkannt:
R***** K***** wird für die ihm zur Last liegenden Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (A./), Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB, das Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB (B./) sowie die Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (C./) unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB nach dem ersten Strafsatz des § 206 Abs 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt.
Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.
Mit ihren Berufungen gegen den Ausspruch über die Strafe werden der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde R***** K***** mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (A./), mehrerer Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB, des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB (B./) sowie mehrerer Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (C./) schuldig erkannt.
[2] Danach hat er in D*****, W***** und anderen Orten in oftmals wiederholten Angriffen
A./ dadurch, dass er seine am 13. Februar 1990 geborene Stieftochter J***** B*****, sohin eine unmündige Person, während des gemeinsamen Badens veranlasste, seinen Penis mit Seife einzureiben und zu betasten, ab Februar 1996 bis zu einem nicht exakt festzustellenden Zeitpunkt vor dem 13. Februar 2004 außer dem Fall des § 206 StGB von der Genannten eine geschlechtliche Handlung an sich vornehmen lassen und dadurch, dass er zumindest im Jahr 2003 die Scheide der Genannten intensiv betastete, außer dem Fall des § 206 StGB eine geschlechtliche Handlung an der Genannten vorgenommen;
B./ mit seiner am 13. Februar 1990 geborenen Stieftochter J***** B*****, sohin mit einer unmündigen Person, den Beischlaf und dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen
I./ unternommen, und zwar in einem nicht exakt festzustellenden Zeitraum ab 13. Februar 2002 bis 12. Februar 2003, indem er mit seinem Finger, Gegenständen wie einer Gurke und seinem Penis in die Scheide der Genannten einzudringen trachtete;
II./ unternommen, und zwar in einem nicht exakt festzustellenden Zeitraum ab dem 13. Februar 2003 bis 12. Februar 2004, indem er sein Glied in ihre Scheide einführte und den Geschlechtsverkehr mit ihr vollzog, wobei er teilweise auf ihren Bauch ejakulierte,
wobei die Taten eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB), nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1. nach ICD-10) mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung zur Folge hatten;
C./ durch die unter Punkt A./ und B./ dargelegten Handlungen und dadurch, dass er mit der Genannten vaginalen Geschlechtsverkehr vollzog, ihre Scheide intensiv betastete und sie zur Vornahme des Oralverkehrs an ihm veranlasste, in einem Zeitraum von Februar 1996 bis zu einem nicht exakt festzustellenden Zeitpunkt vor dem 13. Februar 2008 mit bzw von der am 13. Februar 1990 geborenen J***** B*****, sohin mit seinem minderjährigen Stiefkind, geschlechtliche Handlungen vorgenommen bzw an sich vornehmen lassen.
Rechtliche Beurteilung
[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5 und 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der teilweise, nämlich aus dem letztgenannten Grund, Berechtigung zukommt:
[4] Der Verfahrensrüge (Z 4) zuwider wurde der Beschwerdeführer durch die Abweisung des in der Hauptverhandlung am 22. September 2020 gestellten Antrags nicht in Verteidigungsrechten verletzt. Der Antrag zielte auf „Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür, dass kein sicherer Ausschluss von Zeugenerinnerungen [im Kontext erkennbar gemeint: 'Pseudoerinnerungen'] der Belastungszeugen [im Kontext erkennbar gemeint: Belastungszeugin] gegeben ist, da sowohl suggestive Einflüsse nicht ausgeschlossen werden können und auch keine weiteren Beweise vorliegen, mit denen die Richtigkeit der Belastungsaussagen belegt werden kann“ (ON 48 S 90 f). Abgesehen davon, dass das Begehren nicht erkennen ließ, dass die damit (ersichtlich) angesprochene Zeugin, nämlich das Tatopfer, die Zustimmung zu ihrer Begutachtung erteilen würde (RIS-Justiz RS0118956 [T3]), ist ein solches Gutachten nur dann geboten, wenn durch Beweisergebnisse belegte Anhaltspunkte für eine nicht realitätsorientierte Aussage vorliegen (vgl RIS-Justiz RS0097733). Derartige konkrete und gewichtige Einflüsse vermochte der Antrag mit unbestimmten Zweifeln an der Aktualität der Expertise des psychiatrischen Sachverständigen Dr. L***** und dem Hinweis auf „andere Denkansätze“ nicht darzulegen (vgl auch US 8 ff, 15).
[5] Die im Rechtsmittel nachgetragene Antragsbegründung ist prozessual verspätet (RIS-Justiz RS0099618).
[6] Entgegen der Beschwerdekritik (Z 5 vierter Fall) begründet die Ableitung von (auch) vor Vollendung des 14. Lebensjahrs der J***** B***** stattgefundenen (auch schweren) Missbrauchshandlungen aus den von den Tatrichtern – mit besonderem Augenmerk auf die zeitliche Einordnung der Taten und die Aussagegenese – für glaubwürdig befundenen Angaben dieser Zeugin (US 6–15) keinen Urteilsmangel.
[7] Das Schöffengericht war – dem Gebot zu gedrängter Darstellung der Entscheidungsgründe (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) folgend – auch nicht verhalten, sämtliche Details der Aussagen von Zeugen im Einzelnen zu erörtern.
[8] Die Beurteilung der Überzeugungskraft von Personalbeweisen kann zwar unter dem Aspekt der Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) mangelhaft erscheinen, wenn sich das Gericht mit gegen die Glaubwürdigkeit sprechenden Beweisergebnissen nicht auseinandergesetzt hat. Der Bezugspunkt der Anfechtung besteht jedoch nicht in der Sachverhaltsannahme der Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit, sondern ausschließlich in den Feststellungen über entscheidende – nämlich für die Schuld- oder die Subsumtionsfrage bedeutsame Tatsachen (RIS-Justiz RS0119422 [T2, T4]).
[9] Die auf § 281 Abs 1 Z 5 zweiter Fall StPO gestützten Einwände des Rechtsmittelwerbers erschöpfen sich großteils im Vorwurf, das Erstgericht habe es unterlassen, sich mit bestimmten Passagen der Aussagen von Zeugen auseinanderzusetzen. Indem er dabei Aussageinhalte, die angeblich gegen die Glaubwürdigkeit der J***** B***** sprächen, bloß referiert, bleibt offen, weshalb und in welcher Hinsicht dies in Bezug auf entscheidende Tatsachen (zum Begriff vgl RIS-Justiz RS0117264, RS0117499) der Fall sein soll.
[10] Dass der psychiatrische Sachverständige „Pseudoerinnerungen“ (bezüglich sexueller Handlungen vor Vollendung des 14. Lebensjahrs des Tatopfers) nicht ausgeschlossen hatte, wurde von den Tatrichtern im Übrigen berücksichtigt (US 9). Gleiches gilt für Abweichungen in den Aussagen der J***** B***** betreffend Details des Tatgeschehens (US 8) oder für Angaben von deren Mutter zum gemeinsamen Baden der Kinder mit dem Angeklagten (US 10 f).
[11] Mit eigenständig entwickelten Überlegungen zum Fehlen einer pädophilen Neigung beim Angeklagten, zu dessen pornographische Inhalte betreffendem „Konsumverhalten“, zur vom Opfer beschriebenen Position des Angeklagten bei einzelnen Tathandlungen, zur Frage der „Aussagefähigkeit (Erinnerungsfähigkeit) bezüglich der Vorfälle in der Badewanne“ und zum Fehlen eines aussagepsychologischen Gutachtens wird bloß der Versuch unternommen, die Beweiswürdigung des Schöffengerichts nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren unzulässigen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld zu bekämpfen.
[12] Sofern das Vorbringen zum Fehlen eines aussagepsychologischen Gutachtens (auch) als Aufklärungsrüge (der Sache nach Z 5a) gedacht sein sollte, ist auf die Subsidiarität des angesprochenen Nichtigkeitsgrundes gegenüber jenem der Z 4 des § 281 Abs 1 StPO zu verweisen (RIS-Justiz RS0114036 [T11] und RS0115823 [T2, T6, T10]).
[13] In diesem Umfang war die Nichtigkeitsbeschwerde daher zu verwerfen.
[14] Zu Recht allerdings kritisiert die Sanktionsrüge einen Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot (Z 11 zweiter Fall), weil das Erstgericht bei der Strafbemessung die „vorsätzliche Begehung einer strafbaren Handlung des zehnten Abschnitts des damals Stiefvaters gegenüber seiner Stieftochter“ als erschwerend gewertet hat (US 19). Denn die angesprochene Täter-Opfer-Relation zählt zu den Tatbestandselementen des § 212 Abs 1 Z 1 StGB und bestimmt solcherart bereits dessen Strafdrohung (vgl 14 Os 104/20f; 11 Os 140/18z; 11 Os 13/20a).
[15] Hingegen begründet die Volljährigkeit des Täters keinen subsumtionsrelevanten Umstand der §§ 206, 207 und 212 StGB, sodass § 32 Abs 2 erster Satz StPO der aggravierenden Wertung der „vorsätzlichen Begehung ... eines Volljährigen gegenüber einer Minderjährigen“ (US 19) – entgegen der weiteren Beschwerdekritik – nicht entgegensteht (RIS-Justiz RS0130193).
[16] Das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt zu bleiben hatte, war somit im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang aufzuheben.
[17] Bei der dadurch erforderlichen Strafneubemessung waren als erschwerend zu werten das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen (§ 33 Abs 1 Z 1 StGB), der lange Tatzeitraum und das geringe Alter des zu Beginn der Übergriffe erst sechsjährigen Opfers (RIS-Justiz RS0090758; RS0090958), als mildernd hingegen der ordentliche Lebenswandel bis zu den Taten (§ 34 Abs 1 Z 2 StGB) und das Wohlverhalten seit dem Ende des Tatzeitraums (§ 34 Abs 1 Z 18 StGB).
[18] In Anbetracht des anzuwendenden Strafrahmens von fünf bis fünfzehn Jahren (§ 206 Abs 3 erster Strafsatz StGB) und der angeführten Strafzumessungsgründe war eine dem Unrecht der Tat und der Schuld des Angeklagten angemessene Freiheitsstrafe wie aus dem Spruch ersichtlich zu verhängen.
[19] Mit ihren Berufungen wegen des Ausspruchs über die Strafe waren der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung zu verweisen.
[20] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
Textnummer
E132039European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0150OS00138.20P.0611.000Im RIS seit
30.06.2021Zuletzt aktualisiert am
30.06.2021