TE Vfgh Erkenntnis 1995/6/13 V83/93

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Veröffentlicht am 13.06.1995
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Index

L8 Boden- und Verkehrsrecht
L8200 Bauordnung

Norm

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs3 zweiter Satz lita
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
Plandokument Nr 5947. Beschluß des Wr Gemeinderates vom 27.03.87

Leitsatz

Anlaßfallwirkung der Aufhebung einer gesetzlichen Bestimmung auf einen vor Beginn der nichtöffentlichen Beratung anhängig gewordenen Individualantrag auf Verordnungsprüfung

Spruch

Die Verordnung des Gemeinderates der Stadt Wien vom 27. März 1987, Pr.Zl. 816/87 (Plandokument 5947), (Beschlußfassung bekanntgemacht im Amtsblatt der Stadt Wien Nr. 15/1987) wird als gesetzwidrig aufgehoben.

Die Wiener Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruchs im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Die Stadt Wien ist schuldig, der antragstellenden Gesellschaft, zuhanden ihres Rechtsvertreters, die mit 15.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die einschreitende Gesellschaft ist Eigentümerin der Liegenschaft EZ 1373 der KG Landstraße mit den Grundstücken Nr. 1280/3 und 1280/4. Sie begehrt mit dem auf Art139 Abs1 letzter Satz B-VG gestützten Individualantrag, die Verordnung des Gemeinderates der Stadt Wien vom 27. März 1987, Pr.Zl. 816/87 (Plandokument 5947), insoweit als gesetzwidrig aufzuheben, als das Gebiet zwischen Landstraßer Hauptstraße, Rennweg, Grasbergergasse und dem Verkehrsband der ÖBB betroffen ist, hilfsweise insoweit als die beiden erwähnten Grundstücke betroffen sind. Begründend führt die Antragstellerin insbesondere aus, daß das Plandokument in Ansehung ihrer Grundstücke gegen §1 Abs1 der BauO f Wien verstoße.

2. Der Gemeinderat der Stadt Wien erstattete eine Äußerung, in welcher er dem Antrag entgegentritt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung Individualanträge auf Verordnungsprüfung, mit denen die Aufhebung von Bestimmungen eines Flächenwidmungs- oder Bebauungsplanes begehrt wurde, dann als unzulässig erachtet, wenn es den betroffenen Liegenschaftseigentümer nach der in Betracht kommenden baurechtlichen Gesetzeslage ohne erheblichen Kostenaufwand (insbesondere den Aufwand für die Anfertigung der für eine Baubewilligung erforderlichen kostspieligen Planunterlagen) möglich und daher zumutbar war, in einem besonderen Verfahren einen - nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges - bei den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts bekämpfbaren Bescheid zu erwirken, dessen Anfechtung im verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren Gelegenheit zur Geltendmachung der Bedenken gegen die Gesetzwidrigkeit der Verordnung und zur Anregung ihrer von Amts wegen zu veranlassenden Überprüfung bietet (s. VfSlg. 11227/1987, 11348/1987). Ein derartiger zumutbarer Weg steht der Antragstellerin, welche die (teilweise) Aufhebung eines nach der BauO f Wien erlassenen Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes begehrt, nicht zur Verfügung. Im gegebenen Zusammenhang kommt insbesondere die Erwirkung eines Bescheides im Sinne des §9 der BauO f Wien, durch den die Bebauungsbestimmungen bekanntgegeben werden, nicht in Betracht, weil gemäß Abs7 dieses Paragraphen eine abgesonderte Berufung nicht zulässig ist, eine Berufung gegen einen solchen Bescheid vielmehr nur mit der Berufung gegen einen Bescheid verbunden werden kann, der sich auf die Bekanntgabe der Bebauungsbestimmungen stützt (zur Zulässigkeit eines Individualantrages gegen einen aufgrund der BauO f Wien erlassenen Flächenwidmungs- und Bebauungsplan s. VfGH 18.12.1993 V94/90).

Die hier maßgeblichen Grundstücke Nrn. 1280/3 und 1280/4 (mit der Adresse Rennweg 104 und 106) sind im Plan nicht mit den Grundstücksnummern ausgewiesen; der in Betracht zu ziehende örtliche Bereich erweist sich jedoch - wie die Antragstellerin richtig dartut - insofern als planlich abgrenzbar, als die Grundstücke innerhalb des Gebietes zwischen Landstraßer Hauptstraße, Rennweg, Grasberggasse und dem Verkehrsband der ÖBB liegen. Die einschreitende Gesellschaft, welche in Ansehung ihrer Grundstücke vom Plandokument 5947 in ihrer Rechtssphäre betroffen ist, begehrt daher zurecht, die angefochtene Verordnung in diesem Umfang zu prüfen. Da der meritorischen Erledigung des Antrags auch sonst keine Verfahrenshindernisse entgegenstehen, ist die Anfechtung des Plandokumentes insoweit zulässig.

III. 1. Der Verfassungsgerichtshof

leitete aus Anlaß mehrerer bei ihm anhängiger Beschwerdesachen von Amts wegen gemäß Art140 Abs1 B-VG Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §1 der BauO f Wien, LGBl. 11/1930, in der Fassung der Bauordnungsnovelle 1976, LGBl. 18, ein und hob sodann diese Gesetzesstelle mit Erkenntnis vom 2. März 1995 G 289/94 ua. - unter Fristsetzung für das Außerkrafttreten - als verfassungswidrig auf.

2. Wie sich aus Art140 Abs7 B-VG ergibt wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlaßfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlaßfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zur Zeit der Verwirklichung des dem Bescheid zugrundegelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte. Gleiches gilt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Verordnung, die auf die aufgehobene Gesetzesbestimmung gegründet war.

3. Dem im Art140 Abs7 B-VG genannten Anlaßfall im engeren Sinn (anläßlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist) sind all jene Fälle gleichzuhalten, die im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren, bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung, mit Beginn der nichtöffentlichen Beratung bereits anhängig geworden sind (VfSlg. 11057/1986, 13269/1992).

4. Die nichtöffentliche Beratung im Verfahren zur Prüfung des §1 BauO f Wien begann am 2. März 1995. Der vorliegende Verordnungsprüfungsantrag ist beim Verfassungsgerichtshof schon vorher, nämlich bereits am 2. November 1993 eingelangt.

Nach dem Gesagten ist der Fall daher einem Anlaßfall gleichzuhalten.

5. Der angefochtene Flächenwidmungs- und Bebauungsplan Plandokument 5947 findet seine materielle Basis in der als verfassungswidrig erkannten Bestimmung des §1 BauO f Wien. Er ist nunmehr so zu beurteilen, als ob er ohne gesetzliche Grundlage - also in Widerspruch zu Art18 B-VG - erlassen worden wäre (vgl. VfSlg. 10066/1984, 11057/1986).

Da die Verordnung insgesamt der gesetzlichen Grundlage entbehrt, war sie gemäß Art139 Abs3 lita B-VG zur Gänze als gesetzwidrig aufzuheben.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf §61a VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 2.500 S enthalten.

7. Die Entscheidung über die Kundmachungsverpflichtung stützt sich auf Art139 Abs5 B-VG.

IV. Dieses Erkenntnis wurde gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung gefällt.

Schlagworte

VfGH / Individualantrag, VfGH / Aufhebung Wirkung, VfGH / Anlaßfverfahren, VfGH / Anlaßfall

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:V83.1993

Dokumentnummer

JFT_10049387_93V00083_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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