TE Bvwg Erkenntnis 2014/6/12 W124 1437617-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.06.2014
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Entscheidungsdatum

12.06.2014

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W124 1433870-1/8E

W124 1437617-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Rainer FELSEISEN über die Beschwerden (1.) der XXXX , geboren am XXXX , und (2.) der XXXX , geboren am XXXX , alle afghanische Staatsangehörige, gegen die Bescheide des Bundesasylamtes (1.) vom 25.02.2013 und (2.) vom 09.08.2013, Zlen. (1.) XXXX , und (2.) XXXX , nach einer mündlichen Verhandlung am 23.05.2014 zu Recht erkannt:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005) i.d.g.F. der Status von Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX und XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Die Beschwerdeführerinnen (die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen ledigen, im Bundesgebiet geborenen Zweitbeschwerdeführerin), Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitisch-muslimischen Glaubensgemeinschaft, stellten am 15.03.2012 (Erstbeschwerdeführerin) und am 01.08.2013 (Zweitbeschwerdeführerin) Anträge auf internationalen Schutz. Dazu gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen an, ihr (ehemaliger) Verlobter, XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, halte sich als subsidiär Schutzberechtigter bereits (seit März 2003) im Bundesgebiet auf.

2. Am 02.04.2012 teilte die Erstbeschwerdeführerin mit ihren Wohnsitz zu ihrem Verlobten verlegt zu haben.

3. Anlässlich der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 20.02.2013 gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen an, 2009 in Afghanistan mit einem bereits in Österreich aufhältigen Asylwerber verlobt worden zu sein. Diese Verlobung sei von ihrem Vater nach mehr als zwei Jahren gelöst worden, weil ihr Verlobter nicht nach Afghanistan habe kommen können, um zu heiraten, worauf die Erstbeschwerdeführerin mit einem anderen Mann zwangsverheiratet hätte werden sollen und deswegen auch von ihrem Vater misshandelt worden sei. Sie sei daraufhin mit Hilfe ihrer weiblichen Verwandten schlepperunterstützt nach Österreich gereist. Die Erstbeschwerdeführerin habe vor ihrer Ausreise ein Studium (Pädagogik) betrieben.

4. Mit den angefochtenen Bescheiden wies das Bundesasylamt die Anträge der Beschwer-deführerinnen auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 ab (jeweils Spruchteil I.), erkannte ihnen gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status von subsidiär Schutzberechtigten zu (jeweils Spruchteil II.) und erteilte ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 befristete Aufenthaltsberechtigungen bis zum (1. und 2.) 26.02.2014 (jeweils Spruchteil III.). Nach Wiedergabe des Verfahrensganges stellte das Bundesasylamt neben Länderfeststellungen im Wesentlichen Folgendes fest: Die Identität der Erstbeschwerdeführerin stehe nicht fest; sie erwarte von einem im Bundesgebiet subsidiär Schutzberechtigten ein Kind. In Afghanistan drohe ihr eine Zwangsverheiratung und sie verfüge über keine Familienangehörigen in Kabul. Sie habe ein Mathematikstudium absolviert. Ihre Ausführungen zu ihren Fluchtgründen seien zu vage und zu allgemein gehalten. Es sei nicht lebensnah, dass sie von ihrem Vater die Erlaubnis erhalten habe, einen in Österreich aufhältigen subsidiär Schutzberechtigten zu ehelichen und er sie gleichzeitig habe zwangsverheiraten wollen. Sie habe nichts Wesentliches über den für sie ausgewählten Mann gewusst und auch keine genauen Angaben über ihre Misshandlung durch ihren Vater machen können. Die von ihr geschilderte häusliche Gewalt sei nicht glaubhaft, emotionslos und unkonkret gewesen und sie habe nicht den Eindruck erweckt, dass sie die afghanische Tradition ablehne. Der von ihr angegebene Besuch eines Deutschkurses werde als Integrationswille gewertet. Die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten begründete das Bundesasylamt damit, dass die Erstbeschwerdeführerin keine glaubhafte asylrelevante Verfolgung geltend gemacht habe und auch im Familienverfahren die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt seien. Zur Zuerkennung des Status von subsidiärer Schutzberechtigten führte das Bundesasylamt aus, dass der Erstbeschwerdeführerin als schwangere Frau wegen der Sicherheitslage und der schlechten medizinischen Versorgung in Afghanistan subsidiärer Schutz gewährt werde bzw. der Zweitbeschwerdeführerin gemäß § 34 AsylG 2005 der gleiche Schutz zukomme, wie ihrer Mutter.

5. Gemäß § 66 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführern ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

6. Gegen die Spruchteile I. dieser Bescheide erhoben die Beschwerdeführerinnen fristgerecht Beschwerden. In diesen wird von der Erstbeschwerdeführerin u.a. ausgeführt, dass es ihrer Familie zunächst nicht bekannt gewesen sei, dass ihr Verlobter nicht nach Afghanistan kommen könne, zumal ihnen dies von dessen Familie verschwiegen worden sei, und habe ihr Vater die Verlobung nach mehr als zwei Jahren schließlich gelöst. Erst im Juni 2011 habe ihr Vater begonnen, ihr einen anderen Mann auszusuchen, weil er befürchtet habe, dass sie nach der aufgelösten Verlobung kein Mann heiraten werde. Sie habe nichts Wesentliches über diesen Mann angeben können, weil er sie nicht interessiert habe. Zum Zeitpunkt der Misshandlung sei sie von der Dolmetscherin nur nach der Uhrzeit befragt worden, nicht über das Datum; sie sei im Juli oder August zum ersten Mal geschlagen worden, ihr Vater habe sie geohrfeigt und mit Füßen getreten. Sie sei in der Einvernahme nicht gefragt worden, ob sie die afghanische Tradition ablehne oder wie sie sich als Frau in Afghanistan fühle; natürlich lehne sie diese ab, da sie ansonsten nicht hier wäre. Durch ihre Flucht habe sie gezeigt, dass sie gegen eine Zwangsverheiratung sei und damit auch gegen die afghanische Tradition. Damit ihr Vater nicht von ihrem Studium erfahre, habe sie bei ihren Großeltern bzw. ihrer Tante gewohnt. Nach der Heirat ihrer Tante habe sie wieder bei ihren Eltern gewohnt und gegen den Willen ihres Vaters weiter studiert. Sie zitierte passagenweise Berichte zur Situation der Frauen in Afghanistan und führte abschließend aus, dass sie wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen, Flüchtling im Sinne der GFK sei. Zum Nachweis ihrer Integrationsbemühungen lege sie noch drei Bestätigungen über den Besuch eines Deutschkurses bei. Abschließend wurde die Anberaumung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof beantragt.

7. In dem fachärztlichen Attest vom 12.03.2013 wird bestätigt, dass die Erstbeschwerdeführerin an Angstzuständen, Erwartungsängsten, innerer Unruhe, Insuffizienzgefühlen und Einschlafstörungen leide.

8. Am 23.05.2014 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt. Dieser blieb das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl unentschuldigt fern. Die Erstbeschwerdeführerin legte eingangs Kopien von Fotos über ihre Sponsion in Afghanistan vor und gab in Anwesenheit ihrer Rechtsvertreterin im Wesentlichen Folgendes an: Sie habe nach ihrer Ankunft in Österreich nach islamischem traditionellem Ritus die Ehe geschlossen, offiziell sei sie in Österreich nicht verheiratet. Ihr Lebensgefährte sei XXXX und sie habe eine Tochter. Vor ihrer Ausreise aus Afghanistan habe sie in XXXX gelebt. Wegen ihres Studiums habe sie keine Probleme in Afghanistan gehabt. Als Fluchtgrund gab sie die ihr drohende Zwangsverheiratung und Misshandlungen deswegen durch ihren Vater nach der Auflösung der Verlobung mit ihrem nunmehrigen Lebensgefährten an. Sie habe in einer Schule unterrichten wollen. Ihr Vater sei als Analphabet gegen Bildung vor allem von Frauen gewesen und habe gewollt, dass sie unbedingt heirate. Ab der Verlobung seien ihre Eltern nicht mehr für sie verantwortlich gewesen und ihr Verlobter habe ihre Ausbildung befürwortet. Sie habe in Afghanistan ein Kopftuch getragen und eine Burka, wenn sie das Haus verlassen habe. In Österreich trage sie die Haare offen und kein Kopftuch und habe dieses bewusst abgelegt. Sie führe hier ein selbstbestimmtes Leben und sei für sich selbst verantwortlich und habe hier viele Freiheiten. Sie habe die Möglichkeit Sprachkurse zu besuchen und könne selbst entscheiden, ob sie später arbeiten oder studieren wolle. Sie wolle, dass ihre Tochter glücklich sei und wenn sie sich einen Partner auswähle, dann habe sie nichts dagegen. Ihr Lebensgefährte lebe nun seit zehn oder elf Jahren in Österreich und habe sich stark verändert, er passe auf ihre Tochter auf und helfe im Haushalt mit. Er überlasse ihr viele Entscheidungen, die normalerweise ein Mann aus Afghanistan selbst treffen würde. Ihre Religion sei ihre Privatsache, sie müsse es nicht mit einem Kopftuch oder mit ihrer Kleidung zum Ausdruck bringen. Falls ihre Tochter einen Partner mit einer anderen Religion auswählen würde, werde sie dies akzeptieren. Sie wolle in Österreich sehr gerne die Sprache lernen und hier weiter studieren, sei aber auch bereit, arbeiten zu gehen. Im Fall ihrer Rückkehr würde ua. die Ehe mit ihrem Lebensgefährten nicht anerkannt und ihr Kind als unehelich gelten, wofür die Strafe die Steinigung wäre. Zudem würde ihr Vater ihre Ehe nicht akzeptieren und sie töten. Den ihr anschließend zur Kenntnis gebrachten Länderberichten stimme sie zu.

9. Anfragen an das Strafregister am 12.06.2014 ergaben, dass bezüglich der Beschwerdeführer keine strafgerichtliche Verurteilung aufscheint.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Beschwerdeführern:

Die strafgerichtlich unbescholtenen Beschwerdeführerinnen tragen die im Spruch angeführten Namen. Sie sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitisch-muslimischen Glaubensgemeinschaft an. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen, ledigen, im Bundesgebiet geborenen Zweitbeschwerdeführerin.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in ihrer Wertehaltung überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichnetes Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert und droht ihr im Zusammenhang damit im Fall ihrer Rückkehr Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Überblick über die politische Lage

Der Präsident wird direkt gewählt. Die letzten Präsidentschafts- und Provinzratswahlen fanden im August 2009 statt. Präsident Karsai ging abermals als Sieger aus den Wahlen hervor. Laut afghanischer Verfassung ist es Präsident Karsai nicht erlaubt, für eine dritte Amtszeit zu kandidieren. Die nächsten Präsidentschaftswahlen werden am 5. April 2014 stattfinden. Die afghanische Nationalversammlung („Shuraye Melli“) besteht aus dem Unterhaus (Volksvertretung, „Wolesi Jirga“) und dem Oberhaus (Ältestenrat/Senat, „Meshrano Jirga“), die nach dem Modell eines klassischen Zweikammersystems gleichberechtigt an der Gesetzgebung beteiligt sind. Beide Kammern haben sich am 19.12.2005 erstmals konstituiert. Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der Unterhauswahl vom 18.09.2010 ist das neue Parlament am 26.01.2011 zusammengetreten. Die Auseinandersetzung um die Ergebnisse bei den Parlamentswahlen hielt über die kommenden Monate aber an und mündete am 21.08.2011 in der Entscheidung der Unabhängigen Wahlkommission, noch neun Abgeordneten wegen Wahlbetrugsvorwürfen das Mandat zu entziehen. [vgl.: Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, vom 10.01.2012, S.1; United States, Country on Human Rights Practices 2012 – Afghanistan, vom 19.04.2013, S.1, Deutsches Auswärtiges Amt, Innenpolitik, vom April 2013]

Menschenrechte

Die Menschenrechtssituation in Afghanistan verbessert sich weiter, allerdings langsam. Die universellen Menschenrechte sind in der afghanischen Verfassung verankert, aber bei weitem noch nicht vollständig verwirklicht. Durch den allgemeinen Islamvorbehalt darf laut Verfassung kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen. Insbesondere die Lage der Frauen bleibt in der konservativ-islamischen Gesellschaft schwierig. Die größte Bedrohung der Menschenrechte geht weiterhin von der bewaffneten Aufstandsbewegung aus Was Repressionen Dritter anbelangt, geht die größte Bedrohung der Menschenrechte von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Es handelt sich meist um Anführer von Milizen, die nicht mit staatlichen Befugnissen, aber mit faktischer Macht ausgestattet sind, die sie häufig missbrauchen. Die Zentralregierung hat auf viele dieser Menschenrechtsverletzer kaum Einfluss und kann sie nur begrenzt kontrollieren oder ihre Taten untersuchen oder verurteilen. Wegen des schwachen Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben diese Menschenrechtsverletzungen daher häufig ohne Sanktionen. Immer wieder kommt es zu Exekutionen durch nicht-staatliche Akteure vor allem auch der Insurgenz, die sich auf traditionelles Recht berufen und die Vollstreckung der Todesstrafe mit dem Islam legitimieren. Die afghanische Regierung verurteilt diese Exekutionen öffentlich. Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die größeren Städte bieten aufgrund ihrer Anonymität eher Schutz als kleine Städte oder Dorfgemeinschaften. [Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage, vom 04.06.2013, S. 4, 13-16]

Justiz und Strafverfolgung

Verwaltung und Justiz funktionieren nur sehr eingeschränkt. Eine einheitliche Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht) ist nicht gegeben. Auch rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden längst noch nicht überall eingehalten. Durch Einflussnahme und Zahlung von Bestechungsgeldern durch machtvolle Akteure an die Justiz und Verwaltung werden Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen verhindert. Vereinzelt gibt es Berichte von Körperstrafen nach islamischem Recht (Auspeitschungen, Steinigungen, Amputationen). Zur Verhängung dieser Strafen kommt es im ländlichen Raum eher als in den Städten, da die ländlichen Gebiete durch ihre Abgeschnittenheit und strukturelle Rückständigkeit eine Regulierung oder öffentliche Ordnung nur sehr begrenzt zulassen. [Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage, vom 04.06.2013, S. 4-5, 16]

Medizinische Versorgung

Der Großteil der modernen medizinischen Einrichtungen des Landes befindet sich in Kabul und anderen Großstädten. Der generelle Mangel an Gesundheitszentren besteht vor allem in den ländlichen Gebieten bereits seit längerer Zeit. Die aktuelle Regierung arbeitet an der Wiedereröffnung von Krankenhäusern und der Kapazitätserhöhung auf dem medizinischen Sektor. Darüber hinaus sind Ressourcen zum landesweiten Bau von Kliniken bestimmt worden. Problematisch bleibt jedoch weiterhin die Frage des kompetenten medizinischen Personals. Der Bedarf an gut ausgebildetem afghanischen Personal, das in der Lage wäre, der Bevölkerung auf nachhaltige Weise medizinische Versorgung zukommen zu lassen, ist groß. Das Land hat eine der höchsten Sterblichkeitsraten der Welt. Mit der Unterstützung von ausländischen Sponsoren und internationalen Hilfsorganisationen wurden in den Krankenhäusern einiger Städte chirurgische Abteilungen wiedereröffnet. Spezielle Behandlungszentren wurden eingerichtet, um Opfer von Landminen zu rehabilitieren. Trotz dieser Anstrengungen beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung nur 44 Jahre. Krieg, wiederkehrende Dürren, schlechte sanitäre Verhältnisse und fehlende Immunisierungsprogramme haben zu weit verbreiteter Unterernährung und dem Ausbruch von Krankheiten wie Cholera (die durch unsauberes Trinkwasser ausgelöst wird), Malaria, TBC, Typhus sowie weiteren Krankheiten, die durch Parasiten ausgelöst werden, geführt. Die Weltgesundheitsorganisation und andere Gesundheitsorganisationen arbeiten zusammen mit dem Ministerium für Gesundheit daran, das betreffende Bewusstsein für diese Krankheiten zu schärfen und insbesondere eine zeitnahe Behandlung solcher Krankheiten zu ermöglichen. Eine bessere medizinische Versorgung von Frauen und Kindern ist dringend geboten; die Sterblichkeit von Kindern unter 5 Jahren beträgt in Afghanistan 191 pro 1000 Geburten. Eine Behandlung in Krankenhäusern wird von Personen, die sich die entsprechende Anreise leisten können, gewöhnlich in angrenzenden Ländern, insbesondere in Peshawar (Pakistan) durchgeführt. Das Fehlen eines Gesundheitssystems trägt zur Ungleichheit in der Frage des Zugangs zu medizinischen Dienstleistungen bei. Medikamente, überwiegend Importe aus Pakistan und Iran, sind immer leichter erhältlich. Die Diskrepanz zwischen ländlichen und städtischen Gegenden ist in diesem Bereich jedoch nach wie vor auffällig. Es ist wichtig, frühzeitig die Verfügbarkeit von Medikamenten zu prüfen. Das Ministerium für Öffentliche Gesundheit will zur Verbesserung der Situation auf dem medizinischen Sektor folgende Schritte einleiten: Erhöhung der Anzahl von Gesundheitseinrichtungen mit weiblichem Personal, Etablierung von Zweigstellen in abgelegenen und ländlichen Regionen, Einsatz mobiler Teams in unterversorgten Gebieten, Trainingskurse für medizinisches Personal, Schulung und Einsatz von Gemeindearbeitern, um Frauen aufzuklären und zur Inanspruchnahme medizinischer Einrichtungen zu ermutigen, Geburtshilfekurse. Das Ministerium räumt die Notwendigkeit weiterer nationaler und ausländischer Ressourcen ein, um nachhaltige Fortschritte im Gesundheitssektor zu sichern. [BAMF_IOM, Länderinformationsblatt – Afghanistan, vom Oktober 2012, S. 15]

Zur Situation der Frauen in Afghanistan

Menschenrechtslage - allgemein

Die Situation der Frauen war bereits vor dem Taliban-Regime durch sehr strenge Scharia-Auslegungen und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes geprägt. So war die Burka auch vor der Taliban-Herrschaft bei der ländlichen weiblichen Bevölkerung ein übliches Kleidungsstück. Viele Frauen tragen sie noch immer, weil sie sich damit vor Übergriffen sicher fühlen. Während Frauenrechte in der Verfassung und teilweise im staatlichen Recht gestärkt werden konnten, liegt ihre Verwirklichung für den größten Teil der afghanischen Frauen noch in weiter Ferne (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 20, Stand: Jänner 2012). Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft wesentlich verbessert hat, bleibt die vollumfängliche Durchsetzung der Frauenrechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft schwierig. Die Lage der Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden. Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und im Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird, nur in wenigen Fällen möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage – oder aufgrund konservativer Wertevorstellungen nicht gewillt –, Frauenrechte zu schützen [Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage, vom 04.06.2013, S.12]. In den vergangenen Jahren hat sich die Situation der Frauen im Land drastisch verschlimmert [Die Presse vom 15.07.2012]. Anfang Juli 2012 wurde in einem Dorf in der Provinz Parwan, etwa eine Autostunde von Kabul entfernt, eine 22-jährige Frau als (angebliche) Ehebrecherin mit mehreren Schüssen vor einem teilweise jubelnden Publikum hingerichtet; die Provinzregierung beschuldigte die Taliban, die jedoch jede Verantwortung von sich wiesen [Der Spiegel-Online vom 08.07.2012, download am 31.07.2012].

Die Situation afghanischer Frauen hat sich seit dem Sturz der Taliban-Herrschaft teilweise verschlechtert. Die Bewegungsfreiheit bleibt, mit regionalen Unterschieden, stark eingeschränkt. Die registrierten Fälle physischer Gewalt gegenüber Frauen sind seit März 2007 um rund 40 Prozent gestiegen: 2374 registrierte Übergriffe im Jahr 2007 (Januar bis November 2006: 1545 Fälle). Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen. In diesem Zeitraum haben rund 626 Frauen einen Selbstmordversuch begangen. Erzwungene Heiraten, häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, Frauenhandel und Ehrenmorde gehören zu den gegen Frauen angewandten Gewaltformen. Die Täter sind meist männliche Familienmitglieder. Wenn Frauen Anzeige erstatten, werden sie oft genau den von ihnen angezeigten Männern ausgeliefert. Vieles deutet darauf hin, dass die staatlichen Akteure in Afghanistan nicht in der Lage oder wegen konservativ-islamischer Wertevorstellungen nicht gewillt sind Frauen zu schützen. Frauen bleiben meist ihrem Schicksal überlassen. Die Direktoren der Departemente für Frauenangelegenheiten in Kandahar, Helmand, Farah, Uruzgan, Wardak und Nuristan erhielten Gewaltandrohungen. Massoma Anwary, Vorsteherin des Departements für Frauenangelegenheiten, überlebte im November 2007 einen Anschlag auf ihr Leben: Täter sind meist bewaffnete Bewegungen oder Führer des konservativ-religiösen Establishments (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update Afghanistan, 21.08.2008).

Die Lage der Frauen unterscheidet sich je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark. Auch die unbefriedigende Sicherheitslage in weiten Landesteilen erlaubt es den Frauen nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihrer frauenverachtenden Vorschriften erwarteten Freiheiten wahrzunehmen. Die meisten Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird sowie kaum qualifizierte Anwälte zur Verfügung stehen, in den seltensten Fällen möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt Frauenrechte zu schützen. (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 20, Stand: Jänner 2012).

Frauen werden weiterhin in Familien-, Erb-, Zivilverfahren sowie im Strafrecht benachteiligt. Dies gilt vor allem hinsichtlich des Straftatbestandes "Ehebruch", wonach selbst Opfer von Vergewaltigungen bestraft werden können. Es gibt Berichte, dass Frauen wegen "Ehebruchs" von Ehemännern oder anderen Familienmitgliedern umgebracht werden (so genannte "Ehrenmorde", die besonders in den paschtunischen Landesteilen vorkommen können). Das durchschnittliche Heiratsalter von Mädchen liegt bei 15 Jahren, obwohl ein Mindestheiratsalter von 16 Jahren gesetzlich verankert ist. Zwangsheirat bereits im Kindesalter, "Austausch" weiblicher Familienangehöriger zur Beilegung von Stammesfehden sowie weit verbreitete häusliche Gewalt kennzeichnen die Situation der Frauen. Opfer sexueller Gewalt sind dabei auch innerhalb der Familie stigmatisiert. Das Sexualdelikt wird in der Regel als "Entehrung" der gesamten Familie aufgefasst. Sexualverbrechen zur Anzeige zu bringen hat aufgrund des desolaten Zustands des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet u. U. mit der Inhaftierung der Frau, sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau oder Tochter eingesperrt als ihr Ansehen beschädigt sehen will. Viele Frauen sind wegen so genannter Sexualdelikte inhaftiert, weil sie sich beispielsweise einer Zwangsheirat durch Flucht zu entziehen versuchten, vor einem gewalttätigen Ehemann flohen oder weil ihnen vorgeworfen wurde, ein uneheliches Kind geboren zu haben (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 20, 21, Stand: Jänner 2012).

Das Rechtssystem und die afghanische Gesellschaftsordnung diskriminieren Frauen in verschiedener Hinsicht. Insbesondere wegen folgender als Delikte geahndeter Handlungen droht Frauen aus politischen oder religiösen Gründen bzw. wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe eine unverhältnismäßig harte Bestrafung bis hin zu extralegalen Tötungen (auch Ehrenmorde): Verstöße gegen Kleidervorschriften und Moralvorschriften, z. B. berufliche Aktivitäten, Beziehungen zu einem Nichtmuslim, außereheliche sexuelle Kontakte, Zwangsheirat, Mitarbeit bei Frauenorganisationen (Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Asylsuchende aus Afghanistan vom 26.02.2009).

Die Situation der Frauen in Afghanistan hat sich seit dem Jahr 2007 nicht verbessert, Frauen sind besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben, beispielsweise solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind, werden nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen. Als Folge können sie Opfer von häuslicher Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von der Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte "Schande" reichen. Tatsächliche oder vermeintliche Überschreitungen der sozialen Verhaltensnormen umfassen nicht nur das Verhalten im familiären oder gemeinschaftlichen Kontext, sondern auch die sexuelle Orientierung, das Verfolgen einer beruflichen Laufbahn und auch bloße Unstimmigkeiten über die Art des Auslebens des Familienlebens.

Alleinstehende Frauen oder Frauen ohne männlichen Schutz (mahram) sind weiterhin in Bezug auf eine normale soziale Lebensführung eingeschränkt. Betroffen sind geschiedene, unverheiratete, jedoch nicht jungfräuliche Frauen und Frauen, deren Verlobung gelöst wurde. Außer wenn sie heiraten, was angesichts des gesellschaftlichen Stigmas sehr schwierig ist, sind soziale Unterdrückung und Diskriminierung üblich. Allein lebenden Frauen ohne männliche Unterstützung und Schutz fehlt es infolge der sozialen Einschränkungen, einschließlich der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, grundsätzlich an Mitteln zum Überleben. Dies spiegelt sich im Fall der wenigen Frauen wieder, die ein Frauenhaus aufsuchen konnten. Da es für sie keine Möglichkeit gibt, unabhängig zu leben, sehen sie sich mit einer jahrelangen haftähnlichen Situation im Frauenhaus konfrontiert und entscheiden sich deswegen vielfach für die Rückkehr in die durch Missbrauch geprägte familiäre Situation. Ergebnisse dieser "Versöhnungen" werden nicht weiter beobachtet und Misshandlungen oder Ehrenmorde, die nach der Rückkehr begangen werden, bleiben oft unbestraft. Zwangs- und Kinderheirat werden in Afghanistan nach wie vor weit verbreitet praktiziert und können in unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten. Auch ist der Zugang zu Bildung für Mädchen stark eingeschränkt. Darüber hinaus werden Frauenrechtsaktivisten bedroht und eingeschüchtert, insbesondere wenn sie ihre Stimme zu Frauenrechten, der Rolle des Islam oder das Verhalten von Befehlshabern erheben.

Angesichts der weit verbreiteten gesellschaftlichen Diskriminierung und der geschlechtsspezifischen Gewalt können afghanische Frauen und Mädchen - insbesondere in den vom bewaffneten Konflikt betroffenen oder sich unter der faktischen Kontrolle der bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppen befindlichen Gebieten - je nach ihrem individuellen Profil und ihren persönlichen Umständen einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein. Das Abweichen von den konventionellen Rollen oder die Überschreitung der gesellschaftlichen und religiösen Normen kann dazu führen, dass Frauen und Mädchen Gewalt, Schikanierungen und Diskriminierungen ausgesetzt sind. Frauen mit bestimmten Profilen können einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein, beispielsweise Opfer von häuslicher oder anderer Formen schwerwiegender Gewalt, alleinstehende Frauen oder weibliche Familienvorstände, Frauen mit erkennbaren gesellschaftlichen oder beruflichen Rollen wie Journalistinnen, Menschenrechtsaktivistinnen und in der Gemeindearbeit tätige Frauen (UNHCR's Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Afghan Asylum Seekers, Juli 2009 [deutsche Zusammenfassung vom 10. November 2009]).

Verletzende traditionelle Praktiken in Afghanistan, einschließlich Zwangsverheiratung und Verheiratung von Kindern, Ehrenmorde, Haft für formell nach nationalem Recht nicht strafbares Verhalten und Blutrache, betreffen sowohl Männer als auch Frauen. Letztgenannte jedoch unverhältnismäßig stark. Frauen ohne den effektiven Schutz von Männern oder die Unterstützung durch die Familie sowie allein stehende Frauen im heiratsfähigen Alter sind in Afghanistan rar und werden nach wie vor mit Argwohn betrachtet. Sie sind einem hohen Risiko ausgesetzt, von ihren Familien gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Allein stehende Frauen laufen Gefahr durch die afghanische Gemeinschaft geächtet oder Opfer von boshaften Gerüchten zu werden, die ihren Ruf und ihren gesellschaftlichen Status zerstören können. Dies setzt sie einem erhöhten Risiko von Missbrauch, Bedrohungen, Belästigungen und Einschüchterungen durch afghanische Männer aus, einschließlich des Risikos, entführt, sexuell missbraucht oder vergewaltigt zu werden. In der Mehrheit dieser Fälle ist die Regierung nicht in der Lage, diese Frauen effektiv zu schützen (UNHCR's Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Afghan Asylum Seekers, Dezember 2007).

Seit 2011 hat die afghanische Regierung wichtige Maßnahmen unternommen, um die Situation von Frauen im Land zu verbessern. Dennoch gibt die Situation von Frauen und Mädchen in vielen Bereichen weiterhin Anlass zu großer Sorge. Dies trifft besonders in Gebieten zu, die unter der effektiven Gewalt der Taliban und Hezb-i Islami (Gulbuddin) stehen, in welchen Frauen in einer Vielzahl von Berufen, einschließlich als Staatsbedienstete, Opfer von zielgerichteten Angriffen sind (UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, Zusammenfassende Übersetzung, 24.03.2011).

Soziale Gebräuche beschränkten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne einen männlichen Begleiter. Religiöse Organisationen verschärften in einigen Provinzen die soziale Inakzeptanz gegenüber alleine reisenden oder nur alleine das Haus verlassenden Frauen. Der Ulema-Rat für die westliche Region gab eine Deklaration heraus in der Frauen, die sich weiter als 54 Meilen [~87km] von ihrem Haus entfernen, einen männlichen Begleiter benötigen. Außerdem wurde es weiblichen Angestellten in ausländischen Organisationen untersagt, alleine mit einem ausländischen Mann in einem Raum zu arbeiten (US DOS - U.S. Department of State: 2010 Human Rights Report - Afghanistan, 08.04.2011).

AIHRC registrierte im Berichtszeitraum eine steigende Anzahl von Vergewaltigungen, Misshandlungen und ähnlichen v.a. gegen Frauen gerichtete Straftaten. Weitgehend besteht aber Einigkeit darüber, dass diese Zunahme im Wesentlichen darauf zurückzuführen ist, dass solche Straftaten vermehrt angezeigt werden. Auch eine erhöhte Sensibilisierung auf Seiten der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Dennoch geschieht es immer wieder, dass Frauen, die entweder eine solche Straftat zur Anzeige bringen oder aber von der Familie aus Gründen der Ehrenrettung angezeigt werden, wegen sog. Sittenverbrechen oder „Verlassen der ehelichen Wohnung“ inhaftiert werden. Laut einem Bericht von Human Rights Watch von März 2012 befanden sich in Afghanistan ca. 400 Frauen wegen solcher „Verbrechen“ in Haft. Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt oder Vergewaltigungen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es Frauenhäuser, deren Angebot reichlich in Anspruch genommen wird. Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen seien in Wahrheit Prostituierte. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste „Generation“ von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes bisher undenkbar. [Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage, vom 04.06.2013, S.12-13].

Das afghanische Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das Männern, die Frauen misshandeln, faktisch Straffreiheit garantiert. Präsident Karzai muss es nur noch unterzeichnen; 05.02.2014. Dem Gesetz zufolge ist es Verwandten künftig verboten, gegen die Peiniger in der eigenen Familie auszusagen. Dies würde die Verfolgung von häuslicher Gewalt erheblich erschweren. Da die Mehrheit der Afghanen in mit Lehm ummauerten Anlagen im Rahmen von Großfamilienstrukturen lebt, könnten durch das Gesetz somit faktisch alle potentiellen Zeugen von einer Aussage ausgeschlossen werden. (Frankfurter Allgemeine Politik, Afghanistan Neues Gesetz beschneidet Frauenrechte drastisch, .faz.net/aktuell/politik/ausland/asien/afghanistan-neues-gesetz-beschneidet-frauenrechte-drastisch-12785948.html, download am 12.03.2014)

Bildung/Berufstätigkeit

Frauen waren unter den Taliban (1996-2001) von jeglicher Bildung ausgeschlossen. Die Alphabetisierungsrate bei Frauen liegt Schätzungen zufolge in der Größenordnung von 10%. Nach Angaben von UNICEF können nur 18% der Mädchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren lesen und schreiben. Für die wenigen hochqualifizierten Afghaninnen hat sich jedoch der Zugang zu adäquaten Tätigkeiten bei der Regierung verbessert. Die Entwicklungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen bleiben durch die strenge Ausrichtung an Traditionen und fehlender Schulbildung weiterhin wesentlich eingeschränkt. Wiederholte Gasangriffe auf Mädchenschulen (zuletzt am 25.08.2010, Totja-Oberschule, Kabul - der fünfte mutmaßliche Gasangriff auf eine Mädchenschule in Kabul 2010; 2011 wurden keine derartigen Vorkommnisse bekannt) bestätigen, dass Schulbildung für Mädchen immer noch von einem Teil der Bevölkerung abgelehnt wird (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 22, Stand: Jänner 2012).

Der Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit steht jedoch vielen Frauen nur theoretisch offen, praktisch sind sie die am meisten von der Armut, Diskriminierung und Rechtlosigkeit betroffene Bevölkerungsgruppe geblieben. In vielen Landesteilen sind sie vom öffentlichen Leben weiterhin weitgehend ausgeschlossen. Gezielte Übergriffe radikal-muslimischer Kräfte auf Frauen und Mädchen sind alltäglich. So soll der Schulbesuch von Mädchen verhindert werden (Gesellschaft für bedrohte Völker, Menschenrechtsreport 53, Juni 2008).

Einige lokale Behörden schließen Frauen von jeglicher Erwerbstätigkeit außerhalb des Haushalts oder der Landwirtschaft aus (US Department oft State, Human Rights Report 2008, Afghanistan vom 25.02.2009).

Bedrohungen und Einschüchterungen gegen Frauen im öffentlichen Leben sind dramatisch angewachsen. Die besten Berufsaussichten für Frauen finden sich im öffentlichen Dienst und in internationalen Organisationen. Die Abteilung für Frauenangelegenheiten berichtet von Bedrohungen gegenüber berufstätigen Frauen. Die Lage der Frauen hat sich insofern im Gegensatz zur Zeit vor 2007 verschlechtert, dass die Frauen sich jetzt weniger trauen sich in der Öffentlichkeit zu äußern und die Möglichkeiten, die ihnen in der Öffentlichkeit zu Verfügung stehen, in Anspruch zu nehmen. Früher, vor 2007, sind sie z. B. in den Städten teilweise ohne Begleitung einkaufen gegangen. Heute, wenn möglich, meiden sie die Öffentlichkeit. Es wurden bis jetzt mehrere weibliche Abgeordnete und Journalistinnen getötet. Viele Frauen, die früher im Rahmen der internationalen Organisationen und im Rahmen der Regierungsprogramme in der Öffentlichkeit gearbeitet haben, haben ihre Jobs aufgegeben, weil die Fundamentalisten über sie Schlechtes verbreitet haben. Deshalb wurden sie von ihren Familien eingeschränkt, weil sie dem psychischen Terror der Gesellschaft unterlegen waren, z.B. wenn in der Gesellschaft verbreitet wird, dass die Frau mit dem Chauffeur eine Beziehung hat, kommt das einem Rufmord gleich, sodass die Familie die Frau nicht mehr arbeiten schickt (Human Rights Watch, Word Report 2009 vom 14.01.2009 [Zugriff am 19.05.2009]; UNHCR, Annual Report vom 16.01.2009 [Zugriff am 20.02.2009]; Sachverständigengutachten in der Beschwerdeverhandlung vom 12.12.2008, C6 267.439-0/2008/8E [Zugriff am 19.05.2009]).

Zwangsverheiratungen

Jedes Jahr töten sich mehrere hundert Frauen aus Verzweiflung über Entführungen, Zwangsheirat und Gewalt selbst. Sogar Mädchen im Alter von nur sechs Jahren werden zwangsweise verheiratet. Sie werden nicht nur durch ihre Männer sondern auch durch deren Familienangehörige mit Vergewaltigung und einem Leben in Sklaverei bedroht. Oft dürfen sie nach der Heirat die eigenen Eltern und andere Familienangehörige nicht mehr sehen und es wird ihnen der Schulbesuch verboten. Da viele dieser Mädchen ihre Rechte entweder gar nicht kennen oder zumindest nicht wissen, wie sie diese einfordern können, sehen sie als einzigen Ausweg allzu oft nur die Selbstverbrennung. Gemäß einer Studie der Organisation "Womankind" beklagen 87 Prozent der Frauen, Opfer von Gewalt in der Ehe oder im öffentlichen Leben geworden zu sein (Independent, 25.02.2008). Die Hälfte aller Übergriffe sei sexuell motiviert. Seit März 2007 hat nach UN-Angaben die Zahl der offiziell registrierten Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen um 40 Prozent zugenommen (IRIN, 08.03.2008). Diese erschreckenden Zahlen sind vermutlich auf eine gestiegene Bereitschaft bei Frauen zurückzuführen, Gewalttaten anzuzeigen, die zuvor in der hohen Dunkelziffer verschwanden. Mehr als 60 Prozent aller Eheschließungen erfolgten laut "Womankind" unter Zwang. 57 Prozent der Bräute seien jünger als 16 Jahre alt (Gesellschaft für bedrohte Völker, Menschenrechtsreport 53, Juni 2008).

Entsprechend den Berichten der Afghanistan Independent Human Rights Commission sind 68-80 % der Ehen in Afghanistan sog. "Zwangsehen" (South Asia Human Rights Index 2008). Nach den afghanischen Traditionen/Gebräuchen wird eine Witwe an ihren Schwager oder sonstige nahe Verwandte ihres verstorbenen Ehegatten (zwangs)verheiratet (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 30.06.2005 [u.a.] betreffend zwangsweise Wiederverheiratung von Witwen).

Gesundheitliche Situation für Frauen

Der Gesundheitszustand der afghanischen Bevölkerung gehört zu den schlechtesten weltweit. Die Lebenserwartung der afghanischen Bevölkerung gehört mit 42 Jahren zu den tiefsten der Welt. Im ganzen Land stehen der afghanischen Bevölkerung lediglich 210 Gesundheitseinrichtungen mit Betten zur Hospitalisierung zur Verfügung. Mit Ausnahme von vier Provinzen beträgt die Ärztedichte landesweit ein Arzt auf 10'000 Einwohner. Gemäß Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes besteht in weiten Landesteilen keine medizinische Versorgung. Kinder und Frauen gehören zu den speziell vernachlässigten Personengruppen. Die Müttersterblichkeitsrate ist mit 1600 - 1900 auf 100.000 Geburten weltweit die zweithöchste. Bei rund 70 - 85 Prozent der Geburten war keine dafür ausgebildete Person anwesend. Der Zugang zu medizinischen Einrichtungen ist für Frauen kulturell bedingt schlechter als für Männer. Dies gilt insbesondere dann, wenn kein weibliches Gesundheitspersonal anwesend ist. Im Bereich der psychischen Erkrankungen existieren in Afghanistan nur sehr limitierte Einrichtungen und eine höchst rudimentäre Behandlung (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update Afghanistan, 21.08.2008). [Auch] für werdende Mütter ist die gesundheitliche Situation noch immer katastrophal. Aufgrund mangelnder ärztlicher Versorgung stirbt eine von neun Müttern bei der Geburt ihres Kindes. Nur im westafrikanischen Staat Sierra Leone ist die Situation ebenso dramatisch. Alle 27 Minuten stirbt in Afghanistan eine Frau aufgrund von Komplikationen während der Schwangerschaft. Nur 14 Prozent aller Frauen wurden im Jahr 2006 während der Geburt von ausgebildetem medizinischen Personal begleitet (Radio Free Asia, 10.05.2008, IRIN, 30.01.2008; Gesellschaft für bedrohte Völker, Menschenrechtsreport 53, Juni 2008). Die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen in Afghanistan liegt bei ca. 44 bis 46 Jahren (South Asia Human Rights Index 2008, bzw. Human Rights Watch, Country Summary Afghanistan, January 2008).

Eine bessere medizinische Versorgung von Frauen und Kindern ist dringend geboten; die Sterblichkeit von Kindern unter 5 Jahren beträgt in Afghanistan 191 pro 1000 Geburten. Eine Behandlung in Krankenhäusern wird von Personen, die sich die entsprechende Anreise leisten können, gewöhnlich in angrenzenden Ländern, insbesondere in Peshawar (Pakistan) durchgeführt (IOM - International Organization for Migration: Länderinformationsblatt Afghanistan, Oktober 2010).

Der vorhandene Anteil an Ärztinnen (23 %) stellt insofern ein Problem dar, da sich Frauen nur von Frauen behandeln lassen wollen bzw. die Ehemänner und Väter nur eine Behandlung durch Frauen zulassen. Ein Grund für den Mangel an weiblichen Ärzten liegt in der schlechten Sicherheitslage in vielen ländlichen Gebieten. In Kabul selbst gibt es zwei Entbindungsstationen.

Vor allem am Land ist die medizinische Behandlung für Frauen deshalb schwierig. Sie erhalten medizinische Hilfe meist von älteren Frauen ohne entsprechende medizinische Instrumente. Dies ist auch ein Grund für die hohe Kinder- und Müttersterblichkeit (BAA: Bericht zur Fact Finding Mission Afghanistan, 20-29. Oktober 2010, Dezember 2010).

Rechtliche Gleichstellung/Diskriminierung

Die Verfassung enthält einen umfangreichen Menschenrechtskatalog, der politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte umfasst. Gemäß Art. 22 haben Männer und Frauen gleiche Rechte und Pflichten. [Es] ist davon auszugehen, dass insbesondere Schuras die Rechte von Frauen tendenziell weniger achten, oft überhaupt nicht. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird und in dem kaum qualifizierte Anwältinnen oder Anwälte zur Verfügung stehen, in den seltensten Fällen möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt - Frauenrechte zu schützen (AA - Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Februar 2011).

Obwohl von der Regierung Anstrengungen unternommen werden, um die Gleichberechtigung der Geschlechter voranzutreiben, sind Frauen auf Grund der fortbestehenden Klischees und der herrschenden, sie marginalisierenden Praktiken nach wie vor weit verbreiteten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Alleinstehende Frauen oder Frauen ohne männlichen Schutz (mahram) - einschließlich geschiedenen Frauen, unverheirateter, jedoch nicht jungfräulicher Frauen und Frauen, deren Verlobung gelöst wurde - sind weiterhin gesellschaftlicher Stigmatisierung und allgemeiner Diskriminierung ausgesetzt. Alleinlebende Frauen ohne männliche Unterstützung und Schutz fehlt es grundsätzlich an Mitteln zum Überleben, das sie auf Grund der existierenden sozialen Normen Einschränkungen ausgesetzt sind, einschließlich Einschränkungen der Bewegungsfreiheit (UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, Zusammenfassende Übersetzung, 24.03.2011).

Die Diskriminierung ist speziell in ländlichen Gebieten und Dörfern stark. Gesellschaftliche Diskriminierung gegen Frauen bestand fort und umfasste häuslichen Missbrauch, Vergewaltigung, Zwangsehe, Zwangsprostitution, den Tausch von Mädchen zur Streitbeilegung, Kidnapping und Ehrenmorde. Es gibt kein spezielles Gesetz gegen sexuelle Belästigung. Frauen erfuhren schwere Diskriminierung durch das Justizsystem. Lokale Praktiken waren diskriminierend, vor allem da in weiten Teilen des Landes die Stammesältesten ihre Entscheidungen auf der Basis der Scharia und Gewohnheitsrechten treffen, die generell gegenüber Frauen diskriminierend sind. Die meisten Frauen haben nur einen beschränkten Zugang zu den lokalen Schuras. Frauenrechtsgruppen berichteten, dass die Regierung aber informell zugunsten von Frauen intervenierte. Amnesty International berichtete, dass nur Anwälte von NGOs weibliche Opfer vor Gericht vertraten. In den meisten Provinzen werden nur ein oder zwei Fälle von häuslicher Gewalt im Jahr strafrechtlich verfolgt (US DOS - U.S. Department of State: 2010 Human Rights Report - Afghanistan, 08.04.2011).

Einige Frauen versuchen mittels Selbstverbrennung Selbstmord zu begehen um ihrer Situation zu entfliehen. In den ersten neun Monaten des Jahres 2010 dokumentierte die AIHRC 111 Fälle von Selbstverbrennungen. Der Berater des Präsidenten für Gesundheit, gab an, dass geschätzte 2.400 Frauen jährlich Selbstmord begehen (US DOS - U.S. Department of State: 2010 Human Rights Report - Afghanistan, 08.04.2011).

Staatliche Vorgehensweise

Lokale Behörden inhaftierten manchmal Frauen auf Wunsch von Familienmitgliedern, da sie sich den Wünschen der Familie hinsichtlich Wahl des Ehemanns widersetzten. Frauen können außerdem dem Vorwurf der Bigamie ausgesetzt sein, wenn ihr verschwundener Ehemann wieder auftaucht, nachdem die Frau wieder geheiratet hat.

Polizistinnen wurden speziell ausgebildet um Opfern von häuslicher Gewalt zu helfen. Sie beschwerten sich aber, dass sie angewiesen worden wären in den Polizeistationen auf die Opfer zu warten. Dies würde ihre Arbeit behindern, da Anzeigen wegen häuslicher Gewalt nicht gesellschaftlich anerkannt sind und viele Frauen nicht alleine auf die Polizeistationen kommen können. Außerdem gibt es Berichte, dass diese Polizeieinheiten schlecht ausgestattet würden. Insgesamt gibt es 42 so genannte Family Response Units, 29 davon alleine in Kabul, sieben in Mazar, vier in Kunduz und zwei in Bamyan. Drei weitere sollen in Jalalabad entstehen. Diese Einheiten bestehen primär aus Polizistinnen und sollen sich um Gewalt gegen Frauen und Kinder kümmern (US DOS - U.S. Department of State: 2010 Human Rights Report - Afghanistan, 08.04.2011).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerinnen stützen sich auf deren glaubwürdige Angaben und ihre vorgelegten Dokumente.

2.2. Die Feststellung, dass die Erstbeschwerdeführerin als „westlich-orientierte Frau“ zu bezeichnen ist, beruht auf ihren diesbezüglich nachvollziehbaren Aussagen, ihrem nachgewiesenen Studium und ihrem Auftreten in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Hervorzuheben ist dabei etwa, dass die Erstbeschwerdeführerin sich auch in Österreich weiterbildet und die Sprache erlernt und wenn möglich studieren oder arbeiten will, ihre Einstellung an ihre Tochter weitergibt und diese darin fördert, die ihnen in Österreich zukommenden Freiheiten (wie insbesondere freie Berufs- und Partnerwahl) auszuüben.

Die Feststellung, dass die Erstbeschwerdeführerin auf Grund ihrer westlichen Orientierung eine asylrelevante Verfolgungsgefahr glaubhaft gemacht hat, ergibt sich einerseits daraus, dass die Aussagen der Erstbeschwerdeführerin in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht stimmig und schlüssig waren und sie einem in der Gesamtschau persönlichen Eindruck glaubhaft machen konnte.

Entscheidend ist, dass das Kernvorbringen sowohl in den Einvernahmen beim Bundesasylamt als auch in der Beschwerdeverhandlung dasselbe ist und die Erstbeschwerdeführerin ihre Fluchtgeschichte immer kohärent erzählt hat sowie dass ihre Schilderungen der Berichtslage und der Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts entsprechen.

Im Übrigen ist es auch für das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die vorgelegten Fotos von der Sponsion der Erstbeschwerdeführerin nachvollziehbar, dass diese über eine entsprechende Qualifikation verfügt.

Dass die Erstbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr Gefahr laufen würde Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu sein, kann derzeit in diesem Zusammenhang auch im Hinblick des mangelnden Schutzes der Strafverfolgungsbehörden nicht ausgeschlossen werden.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der Beschwerdeführerinnen basiert auf den oben unter Punkt I.9. angeführten Auskünften aus dem Strafregister.

2.2. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan stützen sich auf die zitierten Quellen. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen, denen (auch) die Verfahrensparteien nicht entgegengetreten sind, besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Die Einzelrichterzuständigkeit ergibt sich aus § 6 Bundesverwaltungsgericht BGBl. I Nr. 10/2013 (BVwGG), wonach das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter entscheidet, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 75 Abs. 19 AsylG 2005 i.d.g.F. sind alle mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beim Asylgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren ab 1. Jänner 2014 vom Bundesverwaltungsgericht zu Ende zu führen; dies trifft auf die vorliegenden Verfahren zu.

3.2. Zu Spruchpunkt A):

3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.

Flüchtling i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK (i.d.F. des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) – deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politi-schen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 15.3.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Gemäß § 3 Abs. 3 Z. 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann („innerstaatliche Fluchtalternative“). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK vorliegen kann (vgl. zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 z.B. VwGH 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist – wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert – nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „inländischen Flucht- oder Schutzalternative“ (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal wirtschaftliche Benachteiligungen auch dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.9.1999, 98/01/0614, 29.3.2001, 2000/20/0539).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.3.1995, 95/19/0041; 27.6.1995, 94/20/0836; 23.7.1999, 99/20/0208; 21.9.2000, 99/20/0373; 26.2.2002, 99/20/0509 m.w.N.; 12.9.2002, 99/20/0505; 17.9.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256 m.w.N.).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen wer-den, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht – unter dem Fehlen einer solchen ist nicht „zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht“ (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256) –, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichen Schutzes einen – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (vgl. VwGH 22.3.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 2. Auflage [1996] 73; weiters VwGH 26.2.2002, 99/20/0509 m.w.N.; 20.9.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert wird. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat „nicht gewillt oder nicht in der Lage“ sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.2.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.3.2000, 99/01/0256; 13.11.2008, 2006/01/0191).

3.2.2. Aus nachstehenden Gründen besteht für die Erstbeschwerdeführerin eine objektiv nachvollziehbare Verfolgungsgefahr:

Für sie kann nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass sie aufgrund ihrer „westlichen“ Orientierung Opfer von Übergriffen und Einschränkungen wird. Denn für sie tritt – wie sich aus den Feststellungen ergibt – zum generellen, alle afghanischen Frauen treffenden Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines sonstigen Übergriffs bzw. Verbrechens zu werden, die spezifische Gefahr hinzu, bei nonkonformem Verhalten (d.h. bei Verstößen gegen gesellschaftliche Normen wie beispielsweise Bekleidungsvorschriften) Übergriffen ausgesetzt zu sein (vgl. auch EGMR, Case N. gegen Schweden, 20.7.2010, Application Nr. 23505/09, wonach Frauen in Afghanistan einem besonderen Risiko von Misshandlung ausgesetzt sind, wenn sie als sich nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benehmend wahrgenommen werden).

Sie fallen auch in eine von UNHCR angeführte Risikogruppe (siehe Punkt 1.2. – vgl. zusätzlich dessen „Eligibility Guidelines for assessing the international Prote

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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