TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/13 W105 2149885-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.01.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

13.01.2021

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W105 2149885-2/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BENDA über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.11.2019, Zl: 1077181805/191019429, zu Recht:

A)

I.       Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II.      Gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 13.01.2022 erteilt.

III.    Die Spruchpunkte III. bis VIII. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) reiste spätestens am 07.07.2015 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz.

2. Der BF brachte im Rahmen seiner Erstbefragung vor, dass seine Eltern schon vor vielen Jahren wegen des Krieges in Afghanistan in den Iran gezogen seien. Er sei dort geboren, habe aber dort keine Papiere erhalten. Er habe dort keine Schule besuchen und nicht arbeiten können. Das Leben im Iran sei für Afghanen schwer und hätten sie immer wieder Probleme mit Behörden bekommen.

3. Im Rahmen seiner Einvernahme vor dem BFA am 11.04.2016 machte der BF geltend, dass er den Iran verlassen habe, da er dort die notwendige Freiheit, die er haben hätte wollen, nicht bekommen hätte. Er habe im Iran keinen Status gehabt und sei von Seiten der Regierung und von Seiten der Gesellschaft unterdrückt worden. Nach Afghanistan sei er nicht gegangen, weil er in Afghanistan Krieg herrsche.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde (BFA) vom 16.02.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Ziffer 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.) und ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat und führte aus, dass der BF keinerlei individuelle Verfolgungsgefahr durch seinen Herkunftsstaat glaubhaft machen habe können bzw. auch nicht behauptet habe. Dies ergebe sich daraus, dass er im Iran geboren sei und sein gesamtes selbstbestimmtes Leben außerhalb seines Herkunftsstaates verbracht habe. Es sei somit auch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit schlichtweg kein Grund für eine individuelle Bedrohung/Gefährdung seiner Person in seinem Herkunftsstaat anzunehmen. Es konnte insgesamt keine GFK-relevante Verfolgung des BF festgestellt werden, noch drohe dem BF bei Rückkehr eine reale Gefahr einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), oder der Prot. Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

5. Gegen den Bescheid erhob der BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides. Begründend wurde ausgeführt, die belangte Behörde habe es unterlassen, auf sein individuelles Vorbringen einzugehen. Auch wäre eine Gesamtbeurteilung anhand der verfügbaren herkunftsstaatspezifischen Informationen und entsprechend der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes verabsäumt worden.

6. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.03.2019, Zl. W260 2149885-1/18E, wurde die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

Begründend wurde ausgeführt, dass keine Hinweise dafür vorliegen würden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keine Lebensgrundlage mehr vorfinden würde. Es wäre ihm möglich, in die Stadt Mazar-e Sharif als innerstaatliche Fluchtalternative zurückzukehren.

7. Am 07.10.2019 stellte der BF sodann seinen nunmehr zweiten Antrag auf internationalen Schutz, zu welchem er am selben Tag vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt wurde.

Im Rahmen der Erstbefragung gab er auf die Frage, warum er neuerlich einen Asylantrag stelle und was sich seit der Rechtskraft gegenüber seinem bereits entschiedenen Verfahren geändert habe, an, dass er in Österreich gelernt habe, wie man „Instagram“-Accounts sperren würde. Er wäre von einem Bekannten der afghanischen Sängerin „ XXXX “ beauftragt worden, die Instagram-Seite von General „ XXXX “ zu sperren, da dieser die Sängerin belästigt habe. Er habe sodann den Account von XXXX gesperrt, was der General erfahren habe und hätte ihm der General sodann per Telefon seine Ermordung angedroht. Er habe weiters den Instagram-Account von „ XXXX “, welcher ein afghanischer Sänger wäre sowie auch Mitglied der afghanischen Mafia, gesperrt. Auch von diesem sei er in der Folge mit dem Tod bedroht worden. Er kenne Afghanistan nicht bzw. könne sich das Leben dort auch nicht vorstellen, da er im Iran geboren und aufgewachsen sei. Österreich und Afghanistan könne man nicht vergleichen. Er komme mit der afghanischen Denkweise nicht zurecht. Außerdem sei er nicht sehr religiös.

8. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme am 09.10.2019 gab der BF in Bezug auf etwaige verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat an, dass seine Eltern sowie ein Bruder sowie fünf Schwestern im Iran leben würden. In Afghanistan habe er keine Familienangehörigen. Er nutze Social Media und stehe auf diesem Wege mit seiner Familie in Kontakt. In Österreich würden die Familienangehörigen seines Onkels, welcher selbst verstorben wäre, leben.

9. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme des BF vor dem BFA am 15.10.2019 gab dieser zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass er gelernt habe, wie man auf Instagram Accounts löschen könne. Er habe vor ca. 7 Monaten den Account von General XXXX gelöscht. Dieser habe auf instagram eine afghanische Sängerin namens XXXX beleidigt. Ein Fan dieser Künstlerin habe ihn aufgefordert, den Account zu löschen. Ein oder zwei Tage später habe er einen Anruf vom General bekommen, der ihm gesagt habe, dass er ihn getötet hätte, wenn er in Afghanistan wäre. Er habe den Account gelöscht, indem er das Foto vom General per Fotoshop nachgemacht habe. Konkret habe er einen gefälschten Reisepass fotografieren lassen. Er habe für den General einen falschen Reisepass und eine falsche Identität besorgt. Er habe dann eine e-mail an instagram geschickt und gemeint, dass diese Person ihn beleidigt bzw. seine Fotos ohne seine Erlaubnis verwendet hätte. Dann sei seine Instagram-Seite gelöscht worden. Dadurch, dass er auf seiner Instagram-Seite eine Story hochgeladen habe, in welcher er seine Aktion dargestellt habe, hätte der General davon erfahren.

Befragt, weshalb er nicht im Vorverfahren von dieser Aktion berichtet habe, gab er an, dass er Angst gehabt habe, da diese Handlung illegal gewesen sei und wäre er überdies zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus gewesen, da sein Onkel in stationärer Behandlung gewesen sei. Der Verein für Menschenrechte (VMÖ) hätte ihm außerdem gesagt, dass er keine Chance mehr hätte. Außerdem hätte der VMÖ seinen Fall nicht übernehmen wollen, da er inzwischen bei einem privaten Anwalt gewesen sei. Befragt, weshalb er den Sachverhalt nicht sofort in Österreich als neuen Asylgrund angegeben habe, sondern er im Mai 2019 nach Deutschland weitergereist sei, gab er an, dass er kein Geld dafür gehabt hätte und sein Anwalt keine Beschwerde mehr schreiben hätte wollen. Er habe wirklich Angst gehabt und zweitens wäre es illegal gewesen, was er getan habe. Er sei auch von einer anderen Person namens XXXX bedroht worden. Dieser habe via Instagram angerufen, da er beleidigt gewesen wäre, weil er den Account eines Freundes von ihm sperren habe lassen. In Bezug auf seinen Gesundheitszustand gab er an, dass sich sein Asthma in den letzten 8 Monaten drastisch verschlechtert habe. Er verwende diesbezüglich einen Spray.

10. Im Rahmen der niederschriftliche Einvernahme des BF am 21.10.2019 vor dem BFA gab dieser zusammenfassend an, dass General XXXX in Afghanistan sehr bekannt und einflussreich sei. Er sei eine „Mafia-Person“ und habe ihm vor wenigen noch einmal eine Drohnachricht übermittelt. Er habe wieder über instagram eine Voice-Nachricht erhalten. Er habe von Instagram nach der Löschung des Accounts des Generals eine Nachricht über die erfolgte Löschung erhalten und habe er von dieser einige Tage vor der letzten Einvernahme einen screenshot von seiner Seite am Computer gemacht. Nach Rückfrage, weshalb der BF der Aufforderung, die übermittelte Nachricht von Instagram nach der erfolgten Löschung des Accounts des Generals nicht vorzeigen könne, gab dieser an, dass die Nachricht schon längst gelöscht wäre. Er finde das nicht, weil er das Handy in Deutschland gekauft habe.

Nach Vorhalt, dass der BF letztlich als einziges Beweismittel, die Rückantwort von Instagram, dass sich das soziale Netzwerk bei ihm bedanke, dass er den behaupteten Missstand bezüglich des Generals aufgedeckt hätte, nicht erbracht habe, gab er an, dass das einzige Wort, das fehle, „Spam“ wäre. Nach Vorhalt, dass beabsichtigt sei, seinen Asylantrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen, gab er an, dass er nicht gelogen habe und so viele Beweise vorgelegt habe. Bezüglich seines Gesundheitszustandes gab er an, dass er in der Früh Tabletten und am Abend Schlaftabletten einnehme. Er leide an Schlafstörungen und habe Albträume.

11. Mit Bescheid vom 07.11.2019 wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 07.10.2019 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.), sein Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Ab. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 6 FPG wurde jeweils nur gegen den BF ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.). Weiters wurde dem BF gemäß § 15b Abs. 1 AsylG 2005 aufgetragen, ab 25.06.2019 in einem namentlich genannten Quartier Unterkunft zu nehmen (Spruchpunkt VIII.).

Begründend wurde zusammenfassend ausgeführt, dass sich aus den Feststellungen sowie der Beweiswürdigung ergebe, dass er im Zuge des Verfahrens keinen neuen Sachverhalt glaubwürdig vorgebracht habe. Es habe daher im Vergleich zu den Feststellungen des Erstverfahrens kein neuer Sachverhalt festgestellt werden können. Es stehe daher die Rechtskraft des ergangenen Bescheides vom 16.02.2017 sowie des ergangenen Erkenntnisses vom 29.03.2019 seinem neuerlichen Asylantrag sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten und des Status des subsidiär Schutzberechtigten entgegen, weswegen sein Antrag zurückzuweisen wäre. Ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG sei nicht zu erteilen. Eine Rückkehrentscheidung sei bereits im Erstverfahren für zulässig erklärt worden. Da sich zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung keine Änderung der Situation seines Privat- und Familienlebens ergeben habe, könne eine Rückkehr in seinen Herkunftsstaat auch in diesem Verfahren keinen Eingriff in Art. 8 EMRK darstellen, sodass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei. Weiters sei auszusprechen, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 Abs. 1 Z. 1 bis 4 FPG zulässig sei. Es bestehe im Falle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG keine Frist für die freiwillige Ausreise. Da er seiner Ausreiseverpflichtung nicht freiwillig nachgekommen sei und sich durch sein Untertauchen freiwillig in die Mittellosigkeit begegeben habe, sei gegen ihn ein Einreiseverbot in der Dauer von 2 Jahren zu erlassen. Gemäß § 15 b Abs. 1 letzter Satz AsylG habe das BFA im verfahrensabschließenden Bescheid über die Anordnung der Unterkunft abzusprechen und wäre ihm aus Gründen der zügigen Bearbeitung und wirksamen Überwachung seines Asylantrages aufgetragen worden, in der o. angeführten Betreuungsstelle Unterkunft zu nehmen.

12. Mit Schriftsatz vom 21.11.2019 erhob der BF durch seinen bevollmächtigten Rechtsvertreter Beschwerde gegen den Bescheid vom 07.11.2019 in vollem Umfang. Begründend wurde ausgeführt, dass für ihn nicht nachvollziehbar sei, dass sich die Behörde auf mehreren Seiten mit seinem Fluchtgrund auseinandergesetzt habe, gleichzeitig aber feststelle, dass bei ihm eine rechtskräftig entschiedene Sache vorliege, weshalb der Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen und sich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen Fluchtgründen erübrigen würde. Zu seiner Glaubwürdigkeit sei zu sagen, dass er der Behörde mehrere Beweismittel vorgelegt habe. Die beweiswürdigenden Erwägungen der belangten Behörde würden sich auf hypothetische Aussagen stützen und würden diese Erwägungen nicht seine Glaubwürdigkeit entkräften. Unabhängig davon habe sich die belangte Behörde nirgendwo im Bescheid mit der derzeitigen Lage in Afghanistan auseinandergesetzt, geschweige denn mit der Tatsache, dass er als im Iran Geborener mit erheblichen Schwierigkeiten in Afghanistan zu kämpfen hätte. Auch sei den aktuellen Länderfeststellungen zu Afghanistan zu entnehmen, dass ein soziales, ethnisches und familiäres Netzwerk für einen Rückkehrer „unentbehrlich“ sei. Auch sei auf die katastrophalen Zustände in Afghanistan verwiesen. Jedenfalls zu Unrecht habe die Behörde ein auf zwei Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen.

13. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.01.2020 wurde zentral die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II., III., IV., V. und VIII. als unbegründet abgewiesen. Das verhängte Einreisverbot wurde auf ein Jahr herabgesetzt.

14. Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 09.06.2020, E587/2020-11, wurde das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.01.2020 soweit damit die Beschwerde des Antragstellers gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels, gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan sowie gegen das Einreiseverbot und gegen die Anordnung der Unterkunftnahme abgewiesen wurde, aufgehoben.

Begründet wurde die Entscheidung zentral wie folgt:

„[…] Im vorliegenden Fall stützt das Bundesverwaltungsgericht seine Feststellungen, dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif als innerstaatliche Fluchtalternative möglich und zumutbar sei, im Wesentlichen auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation auf dem Stand vom 29. Juni 2018 einschließlich der dazu ergänzten Kurzinformation, hinsichtlich der Situation von Rückkehrern in Afghanistan im Speziellen auf Informationen der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl auf dem Stand von April 2018 sowie insbesondere in Bezug auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative für den Beschwerdeführer auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 und auf die „Country Guidance: Afghanistan – Guidance note und common analysis“ des EASO auf dem Stand 2018; aus letzteren Richtlinien des EASO gibt das Bundesverwaltungsgericht wieder, EASO prüfe spezielle Personenprofile in Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit einer internen Schutzalternative in den afghanischen Städten Mazar-e Sharif, Herat und Kabul und komme dabei für das Personenprofil der alleinstehenden, gesunden und erwerbsfähigen Männer, welche früher schon einmal in Afghanistan gelebt hätten, zum Ergebnis, dass diesen eine interne Schutzalternative zumutbar sein könnte, selbst wenn sie über kein familiäres oder sonstiges Unterstützungsnetzwerk innerhalb des als interne Schutzalternative geltenden Gebietes verfügten.

Vor diesem Hintergrund und unter Berufung auf die individuellen Umstände des Beschwerdeführers (insbesondere unter Bezugnahme darauf, dass der Beschwerdeführer mit dem Iran in einem islamischen Land aufgewachsen sei, in einem afghanischen Haushalt groß geworden sei, nicht von einer kulturellen Entwurzelung des Beschwerdeführers ausgegangen werden könne, er volljährig und arbeitsfähig sei und Arbeitserfahrung als Arbeiter und Verkäufer habe) geht das Bundesverwaltungsgericht im Ergebnis davon aus, dass dem Beschwerdeführer auch ohne unmittelbar in Mazar-e Sharif bestehende soziale bzw. familiäre Anknüpfungspunkte eine Ansiedlung in dieser Stadt möglich und zumutbar sei. Individuelle, gefahrenerhöhende Umstände, aus denen sich eine spezifische Gefährdung des Beschwerdeführers ableiten ließe, seien nicht erkennbar.

Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Erwägungen zwar grundsätzlich auch auf die „Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis“ des EASO auf dem Stand Juni 2018 und steht mit seiner Einschätzung auch auf dem Boden der zu im Iran geborenen und aufgewachsenen, alleinstehenden, jungen und arbeitsfähigen afghanischen Männern ohne familiäres Netzwerk in Afghanistan ergangenen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfSlg. 20.228/2017); dabei übersieht das Bundesverwaltungsgericht allerdings, dass diese Judikatur auf einer veralteten Berichtslage beruht (VfGH 12.12.2019, E 3369/2019), da die vom Bundesverwaltungsgericht im Übrigen selbst herangezogene „Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis“ des EASO auf dem Stand Juni 2018 von der durch das Bundesverwaltungsgericht in der angefochtene Entscheidung zitierten Annahme, für alleinstehende, gesunde und erwerbsfähige Männer sei eine interne Schutzalternative in den afghanischen Städen Mazar-e Sharfi, Herat und Kabul auch ohne familiäres oder sonstiges Unterstützungsnetzwerk möglich, Ausnahmen macht und eine spezifische Beurteilung gerade für jene Gruppen von Rückkehrern enthält, die, wie der Beschwerdeführer, entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben (S. 109):

EASO nimmt für die genannten Personengruppe an, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative könne dann nicht zulässig sein, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existentieller Bedürfnisse unterstützen könnte. Es bedürfe einer Prüfung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw. Verbindungen zu Afghanistan, sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund (insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung, Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans).

Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Passage der „Country Guidance: Afghanistan – Guidance note und common analysis“ des EASO und die darin enthaltene spezifische Länderinformation völlig unberücksichtigt lässt und den konkreten Sachverhalt zu dieser nicht in Beziehung setzt, hat es wesentliche Aspekte des konkreten Sachverhalts außer Acht gelassen (VfGH 12.12.2019, E3369/2019). Mit Blick auf die dargestellte Berichtslage und die zitierte Rechtsprechung bedarf es daher im fortgesetzten Verfahren einer Begründung, auf Grund welcher außergewöhnlicher Umstände im Sinne des EASO in der zitierten Passage es dem Beschwerdeführer dennoch möglich sein könnte, nach Afghanistan zurückzukehren, ohne dass er in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art. 2 EMRK auf Leben sowie gemäß Art. 3 EMRK, weder der Folter, noch erniedrigender oder unmenschlicher Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt wird (vgl. hiezu VfGH 12.12.2019, E3369/2019 unter Hinweis auf VwGH 17.09.2019/14/0160).

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts erweist sich daher im Hinblick auf die Beurteilung einer dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr drohenden Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art. 2 und 3 EMRK schon aus diesen Gründen als verfassungswidrig. Soweit die Entscheidung sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung bzw. der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan sowie auf die Verhängung des Einreiseverbotes und auf die Anordnung der Unterkunftnahme bezieht, ist sie mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben. […]“

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er ist im Iran geboren, wo er bis zu seiner Ausreise nach Europa gelebt hat. Er reiste spätestens am 07.07.2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am selben Tag seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Dieser erste Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des BFA vom 16.02.2017 abgewiesen. Gegen die Spruchpunkte II. bis IV. dieses Bescheides erhob der BF fristgerecht Beschwerde und wurde die Beschwerde in weiterer Folge vom BVwG als Rechtsmittelinstanz mit Erkenntnis vom 29.03.2019 rechtskräftig abgewiesen. Spruchpunkt I. war mangels einer Beschwerdeerhebung mit 08.03.2019 in Rechtskraft erwachsen.

Der BF verließ im Mai 2019 das österreichische Bundesgebiet und reiste nach Deutschland weiter, von wo aus er sodann am 07.10.2019 nach Österreich rücküberstellt wurde.

Am 07.10.2019 stellte der BF den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Der gegenständliche Antrag wurde in der Folge mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 07.11.2019 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.

Der BF spricht Dari und Farsi, ist in einem traditionell afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen und mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut. Die Eltern und Geschwister des BF leben nach wie vor im Iran in Teheran. In Afghanistan leben vier Tanten und Onkeln des BF, zu welchen dieser jedoch keinen Kontakt hat.

Der BF lebt in Österreich von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er hat in Österreich keine nennenswerten Kontakte zu Einheimischen. Der BF hat Deutschkurse im Bundesgebiet besucht, jedoch keine entsprechenden Sprachdiplome erworben. Er ist strafrechtlich unbescholten. In Österreich leben die Ehegattin des mittlerweile verstorbenen Onkels des BF sowie deren gemeinsame vier Kinder. Ein Cousin des BF lebt in XXXX .

Der BF leidet an Asthma bronchiale und Schlafstörungen. Er nimmt bezüglich seiner Schlafstörungen laut eigenen Angaben Medikamente ein (Mirtazapin sowie Seroquel) und verwendet in Bezug auf seine Asthmaerkrankung einen Cortisonspray.

Der BF ist arbeitsfähig.

Der BF hat betreffend Afghanistan keinerlei Ortskenntnisse, keinerlei Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan und keinerlei Verbindungen zu Afghanistan. Der BF hat keine staatliche Schule besucht, sondern hat er für zwei Jahre eine afghanische Schule in Teheran besucht. Er hat im Iran als Straßenverkäufer gearbeitet. Weiters hat er gemeinsam mit seinem Onkel Holzkohle hergestellt und verkauft.

Der Beschwerdeführer verfügt über keinerlei anderweitige Ausbildung oder berufliche Kenntnisse oder Erfahrungen.

1.2. Feststellungen zum Herkunftsstaat:

Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Afghanistan vom 13.11.2019, mit letzter Information vom 21.07.2020:

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

•        

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

(UNAMA 2.2020)

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weite

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten