TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/15 W172 2170491-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.02.2021
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Entscheidungsdatum

15.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §32 Abs1 Z2

Spruch


W172 2170491-3/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über den Antrag von XXXX , geboren am XXXX 1990, StA. Afghanistan, auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.01.2018, Zl. W270 2170491-1/15E, formell rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens auf internationalen Schutz:

A)

I. Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens des mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.01.2018, Zl. W270 2170491-1/15E, formell rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens auf internationalen Schutz wird gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG, als unbegründet abgewiesen.

II. Der Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung nach dem Unionsrecht auf Gewährung eines vorübergehenden Aufenthaltsrechts bzw. Hintanhaltung der Abschiebung bis zur Entscheidung über den Antrag auf Wiederaufnahme wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Antragsteller (im Folgenden auch: „ASt“) stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am XXXX 2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 i.d.g.F. (im Folgenden auch: „AsylG 2005“).

Am XXXX 2015 erfolgte die Erstbefragung des Antragstellers durch die LPD Niederösterreich.

2. Der Antragsteller wurde am XXXX 2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: „BFA“) niederschriftlich einvernommen.

3. Mit oben im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 21.08.2017 wurde der Antrag des Antragstellers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und es wurde gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (im Folgenden auch: „BFA-VG“) eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden auch: „FPG“) erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) sowie dass die Frist für seine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

4. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.01.2018, Zl. W270 2170491-1/15E, als unbegründet abgewiesen, die mit 12.02.2018 in Rechtskraft erwuchs.

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Beschwerdeführer keinen asylrelevanten Grund glaubhaft machen konnte.

Bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes unter anderem ausgeführt:

„Die allgemeine Situation in Afghanistan ist nämlich nicht so gelagert, dass schon alleine die Rückkehr eines Antragstellers dorthin eine ernsthafte Bedrohung für die durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte bedeuten würde (VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307, mwN und Hinweisen insbesondere auch auf Rechtsprechung des EuGH sowie des EGMR).

[…]

Die Stadt Kabul ist als Heimatort (Heimatregion) und Zielort für eine Rückkehr fallbezogen geeignet: Sie ist für Normalbürger, die nicht mit Ausländern zusammenarbeiten, eine vergleichsweise sichere und über den Flughafen gut erreichbare Stadt. Aufgrund der getroffenen Feststellungen zur Lage in Afghanistan ist Kabul als vergleichsweise sicher und stabil zu bezeichnen, auch wenn es dort zu vereinzelten Anschlägen kommt. Innerhalb dieser Stadt existieren demnach in verschiedenen Vierteln unterschiedliche Sicherheitslagen. Die afghanische Regierung behält jedoch die Kontrolle über Kabul. Aus den entsprechenden Länderberichten ergibt sich, dass sich die in der Stadt Kabul verzeichneten Anschläge hauptsächlich im Nahbereich staatlicher Einrichtungen (etwa Regierungs- und Polizeigebäude) oder Nichtregierungsorganisationen ereignen. Diese Gefährdungsquellen sind jedoch in reinen Wohngebieten nicht anzunehmen, weshalb die Sicherheitslage in der Stadt Kabul als ausreichend sicher zu bewerten ist. Somit kann nicht geschlossen werden, dass das Ausmaß der Gewalt bereits ein Ausmaß erreicht hat, wonach es geradezu wahrscheinlich wäre, dass auch der Beschwerdeführer tatsächlich und durch seine bloße Anwesenheit in der Stadt Kabul Opfer eines Gewaltaktes werden würde.

Davon abgesehen hat der Beschwerdeführer nicht aufgezeigt, dass bei ihm besondere Umstände vorliegen würden, dass es gerade bei ihm ein - im Vergleich zur sonstigen Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen (hier der Bevölkerung der Stadt Kabul) - höheres Risiko bestünde, einer dem Art. 2 oder 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nach den getroffenen Länderfeststellungen keinesfalls, dass die wirtschaftliche Situation für Rückkehrer, schwierig ist. Dennoch hat der Beschwerdeführer nicht substantiiert dargelegt, dass bei ihm nach einer Rückkehr nicht einmal die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden könnten:

Nach den Feststellungen sind die allgemeine Versorgungslage und die allgemeine Infrastruktur in Kabul in Summe als befriedigend zu bewerten. Alle notwendigen Infrastrukturen sind im ausreichenden Umfang vorhanden und es gibt keine gravierenden Engpässe und Mängel in der allgemeinen Versorgungslage.

So wäre der Beschwerdeführer sicherlich in der Lage, nach einer gewissen Orientierungsphase in der Lage eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und für XXXX und die beiden Töchter eine Existenz zu ermöglichen: Erst ist jung, gesund und verfügt über eine Berufserfahrung als Tischler bzw. im Möbelbau.

Für die Anfangszeit besteht – wie festgestellt – auch die Möglichkeit, staatliche Rückkehrhilfen zu beziehen. Darüber hinaus könnte – wenngleich nur in sehr geringem Umfang – auch die im Iran lebenden Bruder des Beschwerdeführers ihn und seine Familie finanziell unterstützen.

Dazu kommt, dass der Beschwerdeführer grundsätzlich mit der Lage in Kabul bereits vertraut ist und selbst bereits viele Jahre dort gelebt hat.

Bei einer Gesamtschau dieser Umstände ergibt sich für das erkennende Gericht, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokolle Nr. 6 und Nr. 13 verletzt wird. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein „reales Risiko“ einer Verletzung der oben genannten, von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.“

5. Die gegen dieses Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes erhobene Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof lehnte dieser mit Beschluss vom 14.03.2018, E 839/2018-5, ab.

6. Die gegen dieses Erkenntnis ebenfalls erhobene außerordentliche Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 12.06.2018, Ra 2018/20/0177-4, zurückgewiesen.

7. Am XXXX 2018 stellte der Antragsteller erneut einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer wurde dazu am selben Tag einer Erstbefragung unterzogen.

8. Mit Datum vom 16.08.2018 erließ das BFA den nunmehr angefochtenen Bescheid, in welchem der Antrag des Antragstellers auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurde (Spruchpunkt I.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt III.).

9. Gegen diesen Bescheid brachte der Antragsteller am 18.09.2018 eine Beschwerde ein. Die Beschwerdeschrift enthielt auch einen Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung. Die Beschwerde langte am 21.09.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

10. Mit Beschluss vom 27.09.2018, Zl. W172 2170488-2/3E, erkannte das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zu. Die erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.03.2019, Zl. W172 2170488-2/5E, als unbegründet abgewiesen, die mit 20.03.2019 in Rechtskraft erwuchs.

11. Am 28.05.2019 lange beim Bundesverwaltungsgericht der Antrag vom 27.05.2019 auf Wiederaufnahme des mit dem im Spruch genannten Erkenntnis abgeschlossenen Verfahrens ein. Dieser wurde wesentlich damit begründet, dass das Gericht seine Beurteilung, wonach dem Antragsteller eine innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in den afghanischen Städten offen stünde, nicht auf das Gutachten von XXXX vom XXXX 2017 gestützt hätte, wenn dem Gericht das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.05.2019, in welchem XXXX die Eigenschaft als allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger entzogen wurde, bekannt gewesen wäre. Damit verbunden war ein Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung nach dem Unionsrecht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

Der relevante Sachverhalt ergibt sich aus den unter Punkt I. getroffenen Ausführungen.

2. Beweiswürdigung

Der relevante Sachverhalt ergibt sich aus der Aktenlage zweifelsfrei.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1. Zur Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts und zum anzuwendenden Recht

Gemäß § 6 BVwGG, BGBl. I Nr. 10/2013 i.d.g.F. entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da weder im BFA-VG noch im AsylG 2005 eine Senatsentscheidung vorgesehen ist, liegt in der vorliegenden Rechtssache Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 i.d.g.F. (VwGVG) geregelt (§ 1 leg. cit.). Gemäß § 58 Abs. 1 leg. cit. trat dieses Bundesgesetz mit 01.01.2014 in Kraft. Nach § 58 Abs. 2 leg. cit. bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Das Verwaltungsgericht hat gemäß Abs. 2 leg. cit. über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

3.2. Zu Spruchpunkt A) betreffend

die Abweisung des Antrags auf Wiederaufnahme

3.2.1. Gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Erkenntnis herbeigeführt hätten.

Gemäß § 32 Abs. 2 VwGVG ist der Antrag auf Wiederaufnahme binnen zwei Wochen beim Verwaltungsgericht einzubringen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Erkenntnisses und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Erkenntnisses kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.

Gemäß § 32 Abs. 3 VwGVG kann die Wiederaufnahme des Verfahrens unter den Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 VwGVG auch von Amts wegen verfügt werden. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Erkenntnisses kann die Wiederaufnahme auch von Amts wegen nur mehr aus den Gründen des § 32 Abs. 1 Z 1 VwGVG stattfinden.

In der Regierungsvorlage zum Verwaltungsgerichtsbarkeits-Ausführungsgesetz 2013 (2009 der Beilagen, XXIV. GP) ist festgehalten, dass die Bestimmungen über die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im VwGVG weitgehend den Bestimmungen der §§ 69 bis 72 AVG mit den entsprechenden Anpassungen auf Grund der Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz entsprechen. Durch den Ausschluss der Anwendung des IV. Teiles des AVG ist das AVG in diesem Bereich für unanwendbar erklärt worden, wobei aufgrund der inhaltlichen Übereinstimmung und ähnlichen Formulierung der Bestimmung des § 32 Abs. 1-3 VwGVG mit § 69 AVG die bisher ergangenen höchstgerichtlichen Entscheidungen sinngemäß anzuwenden sind bzw. die bisherigen Judikaturrichtlinien zu § 69 AVG herangezogen werden können.

Der gegenständliche Antrag zielt darauf ab, das mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.01.2018 in Hinblick auf Asyl und subsidiären Schutz rechtskräftig abgeschlossene Verfahren der antragstellenden Partei aufgrund neu hervorgekommener Beweismittel im Sinne des § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG wieder aufzunehmen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 69 Abs. 1 Z 2 AVG nur auf solche Tatsachen, das heißt Geschehnisse im Seinsbereich (vgl. VwGH 15.12.1994, 93/09/0434; 04.09.2003, 2000/17/0024) oder Beweismittel, das heißt Mittel zur Herbeiführung eines Urteiles über Tatsachen (vgl. VwGH 16.11.2004, 2000/17/0022; 24.04.2007, 2005/11/0127), gestützt werden, die erst nach Abschluss eines Verfahrens hervorgekommen sind und deshalb von der Partei ohne ihr Verschulden nicht geltend gemacht werden konnten (Reisner in Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Das neue Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte [2017], § 32 Rz. 19).

Es muss sich also um Tatsachen und Beweismittel handeln, die beim Abschluss des wieder-aufzunehmenden Verfahrens schon vorhanden waren, deren Verwertung der Partei aber ohne ihr Verschulden erst nachträglich möglich wurde („nova reperta“), nicht aber um erst nach Abschluss des seinerzeitigen Verfahrens neu entstandene Tatsachen und Beweismittel („nova producta“ bzw „nova causa superveniens“) (vgl. VwGH 17.2.2006, 2006/18/0031; 07.04.2000, 96/19/2240, 20.06.2001, 95/08/0036; 18.12.1996, 95/20/0672; 25.11.1994, 94/19/0145; 25.10.1994, 93/08/0123; 19.02.1992, 90/12/0224 u.a.).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es zwar notwendig, aber nicht ausreichend, dass die Tatsachen oder Beweismittel im wieder aufzunehmenden Verfahren nicht geltend gemacht worden sind; es ist darüber hinaus auch erforderlich, dass sie – allenfalls auch im Verfahren vor der höheren Instanz – nicht geltend gemacht werden konnten und dass die Partei daran kein Verschulden trifft (Reisner in Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Das neue Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte [2017], 32 Rz 19). Jegliches Verschulden, dass die Partei an der Unterlassung ihrer Geltendmachung trifft, auch leichte Fahrlässigkeit, schließt den Rechtsanspruch auf Wiederaufnahme des Verfahrens aus (vgl. VwGH 19.03.2003, 2000/08/0105).

Gegenständlich begründet der Antragsteller den Wiederaufnahmeantrag damit, dass das Gericht seine Beurteilung, wonach dem Antragsteller eine innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in den afghanischen Städten offen stünde, nicht auf das Gutachten von XXXX vom XXXX 2017 gestützt hätte, wenn dem Gericht das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.05.2019, in welchem XXXX die Eigenschaft als allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger entzogen wurde, bekannt gewesen wäre.

Die in der späteren Entscheidung vorgenommene Beweiswürdigung und die daraus gewonnene Sachverhaltsfeststellung zählen aber – da sie erst nachträglich entstanden sind – nicht zu den Tatsachen und Beweismitteln die beim Abschluss des wieder-aufzunehmenden Verfahrens schon vorhanden waren (VwGH 20.04.1995, 92/13/0076). Auch kommt eine gerichtliche oder verwaltungsbehördliche Entscheidung als solche als „Beweismittel“ nicht infrage, weil sie nur das Ergebnis eines Denkprozesses über ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis und dessen rechtliche Beurteilung darstellt (VwGH 30.09.1985, 85/10/0067).

Schon aus diesem Grund war daher der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens abzuweisen.

Im Übrigen wird darauf verwiesen, dass dem Antrag auch inhaltliche nicht stattzugeben gewesen wäre, weil das Hervorkommen neuer Tatsachen und Beweise allein nicht genügt, um das Verfahren wieder aufzunehmen. Es handelt sich bei diesem „Neuerungstatbestand“ nämlich um einen relativen Wiederaufnahmegrund (Reisner in Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Das neue Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte [2017], § 32 Rz 23) und für eine Wiederaufnahme ist weiters erforderlich, dass die neuen Tatsachen und Beweise voraussichtlich auch zu einem anderen Verfahrensergebnis führen würden (vgl. VwGH 14.06.1993, 91/10/0107; 27.09.1994, 92/07/0074; 22.2.2001, 2000/04/0195; 26.04.2013, 2011/11/0051; 18.01.2017, Ra 2016/18/0197; ferner VfGH 28.09.2017, E 2821/2017).

Die neuen Tatsachen müssen die Richtigkeit des angenommenen Sachverhaltes in einem wesentlichen Punkt als zweifelhaft erscheinen lassen (nova reperta). Neue Beweismittel dürfen nur geltend gemacht werden, wenn die zu beweisende Tatsache im abgeschlossenen Verfahren geltend gemacht wurde, die in Rede stehenden Beweismittel aber erst nach Abschluss des Verfahrens hervorkamen (Reisner in Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Das neue Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte [2017], § 32 Rz. 22; Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens6, § 69 Rz. 7).

Es muss sich also um neu hervorgekommene Tatsachen oder Beweismittel handeln, die den Sachverhalt betreffen und die, wenn sie schon im wiederaufzunehmenden Verfahren berücksichtigt worden wären, zu einer anderen Feststellung des Sachverhalts und voraussichtlich zu einem im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid bzw. anders lautenden Erkenntnis (anders lautenden Beschluss) des Verwaltungsgerichts geführt hätten (VwGH 30.06.1998, 98/05/0033; 20.12.2005, 2005/12/0124; 24.06.2014, Ro 2014/05/0059; 25. 01.2017, Ra 2016/12/0119; Mannlicher/Quell, AVG § 69 Anm. 6).

Aus dem klaren und unmissverständlichen Gesetzeswortlaut und dem Gesetzeszweck, durch das Institut der Wiederaufnahme ein Korrektiv gegen aus bestimmten in § 69 Abs. 1 AVG näher ausgeführten Gründen unrichtige rechtskräftige Bescheide einzurichten, ergibt sich, dass die Relevanz des behaupteten Wiederaufnahmetatbestandes immer am in der Sache selbst ergangenen rechtskräftigen Bescheid zu messen ist, keinesfalls aber lediglich an den Inhalten und Ergebnissen von diesem Bescheid folgenden und dem gegenständlichen Antrag vorangegangenen Wiederaufnahmeverfahren (VwGH 20.10.1995, 94/19/1353).

Das Wiederaufnahmeverfahren hat nicht den Zweck, allfällige Versäumnisse einer Partei in einem Ermittlungsverfahren oder die Unterlassung der Erhebung eines Rechtsmittels im Wege über die Wiederaufnahme eines Verfahrens zu sanieren (VwGH 20.06.2002, 2002/07/0055).

Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH bilden weder ein einem Sachverständigen in seinem Gutachten unterlaufener Irrtum noch neue Schlussfolgerungen eines dem Verwaltungsverfahren nicht beigezogenen Sachverständigen einen Wiederaufnahmegrund. (vgl. VwGH 16.10.2007, 2004/18/0376).

Verfahrensgegenständlich hätte das nun geltend gemachte Beweismittel weder allein, noch in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens, eine im Hauptinhalt des Spruches anders lautende Entscheidung herbeigeführt:

Das Gericht hat sich zur Beurteilung einer innerstaatlichen Fluchtalternative insbesondere auf die Feststellungen gestützt, dass es sich bei dem Antragsteller um einen arbeitsfähigen und jungen Mann handelt, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann und der grundsätzlich mit der Lage in Kabul bereits vertraut ist und selbst auch bereits viele Jahre dort gelebt hat. Diese Tatsachen wurden weder vom Antragssteller, noch durch die Tatsache, dass XXXX die Eigenschaft als Sachverständiger aberkannt wurde, bestritten. Nach der Rechtsprechung des VwGH ist die allgemeine Situation in Afghanistan nicht so gelagert, dass die Ausweisung dorthin automatisch gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Rechtsprechung ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend.

Weiter sei erwähnt, dass das Gericht nicht ausschließlich das Gutachten von XXXX , sondern auch das Länderinformationsblatt zur Feststellung und Beweiswürdigung der „wirtschaftlichen Lage in Kabul“, der allgemeinen Versorgungslage und der allgemeinen Infrastruktur in Kabul herangezogen hat. Selbst ein Wegfall des Gutachtens von XXXX hätte daher auf den Sachverhalt und damit auch auf den Spruch keinen Einfluss gehabt.

Die Vorgebrachten Beweise hätten auch keine im Hauptinhalt des Spruches anders lautende Entscheidung herbeiführen können, da weder der Antragsteller noch das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes den Feststellungen entgegengetreten ist. Es wurden somit keine inhaltlichen Äußerungen zum Sachverhalt getroffen (Reisner in Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Das neue Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte [2017], § 32 Rz. 20). Es handelt sich damit um ein Anzweifeln der Richtigkeit der Beweiswürdigung, nicht um inhaltliches Vorbringen zum entscheidungsrelevanten Sachverhalt. Eine Änderung der Beweiswürdigung vermag jedoch eine Wiederaufnahme nicht zu rechtfertigen.

Der Antrag auf Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens des Antragstellers war sohin spruchgemäß abzuweisen.

3.2.2. Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit dem Antrag auf Wiederaufnahme als geklärt erschien und es sich bei der Einordnung, ob die Eignung eines vorgebrachten Wiederaufnahmegrundes vorliegt, um eine Rechtsfrage handelt (vgl. VwGH 19.04.2007, 2004/09/0159; Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren2 (2018) § 32 VwGVG, Anm. 9), konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben (vgl. VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018; VfGH 14.03.2012, U 466/11 u.a.).

3.3. Zu Spruchpunkt B) betreffend

die Abweisung des Antrags auf Erlassung einer einstwilligen Anordnung nach dem Unionsrecht

Der Antragsteller beantragt zur Absicherung des Verfahrens die Erlassung einer einstweiligen Anordnung nach dem Unionsrecht, um ihm vorläufiges Aufenthaltsrecht zu gewähren bzw. die Abschiebung bis zur Entscheidung über den Antrag auf Wiederaufnahme hintanzuhalten.

Grundsätzlich kann eine einstweilige Anordnung nach dem Unionsrecht erlassen werden, auch wenn eine ausdrückliche innerstaatliche Rechtsgrundlage dafür fehlt. Diese kann auf die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts gestützt werden. Sie dient in jedem Fall lediglich dazu, einen Rechtszustand zu verunmöglichen, der den Ausgang des Verfahrens sinnlos macht und allenfalls einer Entscheidung im Verfahren vorgreift. Nach einer Entscheidung in der Sache ist daher eine einstweilige Anordnung jedenfalls unzulässig.

Mit Spruchpunkt A) des gegenständlichen Erkenntnisses hat das Bundesverwaltungsgericht bereits über den Antrag auf Wiederaufnahme entschieden. Eine Absicherung dieses Verfahrens ist daher nicht mehr erforderlich, da es bereits inhaltlich entschieden ist. Damit ist eine Absicherung des Ausgangs dieses Verfahrens nicht mehr notwendig und eine einstweilige Anordnung kann unterbleiben, wobei ihre rechtliche Zulässigkeit im konkreten Fall gar nicht mehr geprüft werden muss.

3.4. Zu Spruchpunkt C)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Insoweit die in der Begründung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Bezüglich der näheren Begründung mit Judikatur-Verweisen wird auf die obigen Ausführungen verwiesen (s. zu Spruchpunkt A).

Schlagworte

Beweismittel einstweilige Anordnung nova reperta Wiederaufnahme

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W172.2170491.3.00

Im RIS seit

21.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

21.06.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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