TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/18 W226 2148918-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.02.2021
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Entscheidungsdatum

18.02.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52

Spruch


W226 2148918-1/16E

W226 2148916-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX (BF1), geb. XXXX und 2.) XXXX (BF2), geb. XXXX , beide StA: Russische Föderation, vertreten durch RA Mag. Martin DOHNAL, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.01.2017, Zlen. 1.) 810860303-1385326 und 2.) 810860009-1385369, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.10.2020 zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerden werden gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 und 57 AsylG als unbegründet abgewiesen.

II. Im Übrigen wird den Beschwerden stattgegeben und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt. XXXX (BF1) und XXXX (BF2) wird jeweils eine „Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 und § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

Das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF1) und der Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF2) ist untrennbar miteinander verknüpft bzw. beziehen sich die Beschwerdeführerinnen (im Folgenden: BF) auf dieselben Fluchtgründe, weshalb die Entscheidung unter Berücksichtigung des Vorbringens beider BF gemeinsam abzuhandeln war.

Die BF sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehören der Volksgruppe der Osseten an und bekennen sich zum orthodoxen Glauben.

1. Zum Verfahren der BF1:

1.1. Die BF1 reiste im August 2011 legal ins Bundesgebiet ein und stellte am 08.08.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Am 09.08.2011 fand ihre Erstbefragung statt.

Die BF1 gab zum Grund für das Verlassen des Herkunftsstaates an, sie werde wegen ihrer Ausbildung und ihrer Diplomarbeit von den russischen Sicherheitsbehörden in XXXX verfolgt. Sie sei XXXX in XXXX in Haft gewesen und XXXX in der Psychiatrie in XXXX eingesperrt gewesen. Seit damals werde sie von den Behörden ständig in psychiatrische Behandlung geschickt. Das letzte Mal sei im März 2006 gewesen. Ihr Reisepass sei ihr nie abgenommen worden, sie hätte jedoch bei der Behörde unterschreiben müssen, das Land nicht zu verlassen. Dies habe bis Ende des Jahres 2006 gegolten. Sie habe zu Hause keine Ruhe und befürchte bei einer Rückkehr eine politische Verfolgung.

Zu ihren persönlichen Verhältnissen gab die BF1 an, sie habe in XXXX gelebt und sei geschieden. Ihre Muttersprache sei Ossetisch, sie spreche auch Russisch. Ihr Sohn lebe in Österreich.

Zu ihrer Reiseroute gab sie an, sie sei am 25.06.2011 legal mit dem Flugzeug nach XXXX und am 27.06.2011 weiter nach XXXX geflogen. Sie habe im Jänner/Februar 2011 ein Schengenvisum der spanischen Botschaft aus Studienzwecken beantragt, da sie an ihrer Doktorarbeit habe arbeiten wollen. Sie sei bereits im Februar in Barcelona, Prag und XXXX gewesen. Sie habe eine Europareise geplant und habe sie im Zuge der Reise ihren Sohn besucht.

Der russische Auslandsreisepass der BF1 wurde sichergestellt.

1.3. Im Zuge des Zulassungsverfahrens wurde betreffend die BF1 am 17.08.2011 eine gutachterliche Stellungnahme eingeholt, wobei als psychisches Krankheitssyndrom eine „Anhaltende wahnhafte Störung F.22.0“ diagnostiziert und therapeutische/medizinische Maßnahmen angeraten wurden.

1.4. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 11.10.2011 wurde das Asylverfahren der BF1 gemäß § 38 AVG zur Bestellung eines Sachwalters ausgesetzt.

1.5. Das Bundesasylamt holte betreffend die im Zuge des Verfahrens vorgelegte Arbeit der BF1 ein Gutachten eines Professors der Universität XXXX (Institut für Philosophie) ein, wobei dieser in dem Gutachten vom 20.10.2011 zusammengefasst ausführte, dass die darin entwickelten Konzepte höchst fragwürdig seien und seiner Einschätzung nach esoterischen und mythischen Überlegungen entspringen würden. Die Arbeit folge der „Logik“ einer Zahlenmystik, deren „Logik“ jedoch – zumindest an rationalen Parametern gemessen – völlig willkürlich und undurchschaubar sei. Es handle sich um ein in sich geschlossenes Zahlensystem, dessen Basis und Nachvollziehbarkeit nicht gegeben sei. Die Wissenschaftlichkeit dieser Arbeit sei nicht gegeben und könne keinerlei wissenschaftlich, wirtschaftlich oder politisch verwertbares Material in dieser Arbeit gefunden werden.

1.6. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX wurde das Verfahren betreffend die Bestellung eines Sachwalters für die BF1 eingestellt, wobei ausgeführt wurde, dass diese mit der Unterstützung ihres Sohnes und ihres Anwaltes in der Lage sei, ihre Angelegenheiten selbstständig wahrzunehmen.

1.7. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.09.2012 wurde ein Facharzt für Psychiatrie gemäß § 52 Abs. 4 AVG als nichtamtlicher Sachverständiger für das Asylverfahren der BF1 bestellt. In dem vom Sachverständigen erstellten psychiatrisch-neurologischen Gutachten vom 13.09.2012 wurde ausgeführt, dass bei der BF1 am ehesten das fassbare Bild im Sinne einer anhaltenden wahnhaften Störung (ICD-10: F22.0) zu sehen sei.

1.8. Am 21.12.2012 fand eine niederschriftliche Einvernahme der BF1 vor dem Bundesasylamt statt.

Die BF1 gab an, in Österreich nicht in medizinischer Behandlung zu sein.

Zu ihrem Lebenslauf befragt, gab die BF1 an, sie habe in XXXX gelebt, habe dort 10 Jahre Schule und die medizinische Akademie absolviert. 1977 habe sie das Medizinstudium abgeschlossen. Ihre Eltern seien bereits verstorben, ihr Bruder lebe in XXXX und sei als Lungenfacharzt tätig. Sie sei geschieden, aus der Ehe entstamme ein Sohn. Von 1979 bis 1984 sei sie an der medizinischen Universität in XXXX tätig gewesen, habe Kranke betreut und darüber eine wissenschaftliche Dissertation verfasst. Dann sei sie nach XXXX zurückgekehrt und habe an der medizinischen Akademie als Lehrbeauftragte gearbeitet. 1988 sei von ihr eine weitere wissenschaftliche Qualifikation gefordert worden und sei sie nach XXXX an die Akademie der Wissenschaften gegangen und habe sie im Fachbereich Pädiatrie gearbeitet. Sie habe die Arbeit fertiggestellt, aber nicht verteidigen können. 1994 sei sie wieder nach XXXX zurückgekehrt und habe sie dort bis zu ihrer Ausreise gelebt. Nach ihrer freiwilligen Kündigung im Jänner 1995 habe sie nicht mehr an der medizinischen Akademie in XXXX gearbeitet.

Zu ihren Fluchtgründen brachte die BF1 zusammengefasst vor, dass der damalige Rektor des Instituts und die damalige Leiterin der biomedizinischen Forschung in XXXX hinter der Verfolgung ihrer Person stecken würden. Diese hätten - weil sie an den Inhalt/die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiten der BF1 herankommen hätten wollen - veranlasst, dass zwei Strafverfahren gegen die BF eingeleitet und die BF1 zwangsinterniert worden sei.

Das erste Strafverfahren sei im Jahr XXXX in XXXX wegen eines angeblich bewaffneten Raubüberfalles gewesen. Diesen habe es gar aber nie gegeben. Sie sei in XXXX 10 Tage lang verhaftet worden. Das Strafverfahren sei dann eingestellt und die BF1 freigesprochen worden. Die BF2 sei deswegen in XXXX verhaftet worden.

Das zweite Strafverfahren sei XXXX wegen Betruges in Zusammenhang mit Hypnosesitzungen veranlasst worden. Eine Zeugin habe ausgesagt, dass sie Leute unter Hypnose gesetzt und dann Sachen aus ihren Häusern entwendet hätten. Sie und die BF2 seien ins Gefängnis gekommen und zu drei Jahren bedingter Haft verurteilt worden. Die BF1 sei auch in die Psychiatrie in XXXX eingewiesen und ein Zwangsgutachten erstellt worden, wonach sie als psychisch krank eingestuft worden sei. Es sei verfügt worden, dass sie sich monatlichen psychiatrischen Kontrollen unterziehen müsse. Die BF2 sei von Juni XXXX bis Mai 1999 und von November 1999 bis März 2000 in Haft gewesen. Im Jahr 2006 habe der Bruder der BF1 einen Psychiater aus XXXX eingeschaltet und sei die Verfügung im Jahr 2007 aufgehoben worden und ihre Krankenakte richtiggestellt worden. Die BF1 habe auch nach dem psychiatrischen Gutachten inoffiziell in ihrem Fachgebiet weitergearbeitet.

Bis zur Ausreise aus Russland habe es immer wieder Probleme im Zusammenhang mit den erwähnten Personen gegeben. Ihnen sei etwa das Recht entzogen worden, Nordossetien zu verlassen und habe sie unterzeichnen müssen, sich der Behörde zur Verfügung zu halten.

Von der belangten Behörde befragt, warum sich die BF1 dazu entschlossen habe, ihre Heimat zu verlassen, wenn ohnehin alle Maßnahmen gegen sie aufgehoben worden seien, gab die BF1 an, sie habe nicht vorgehabt, ihre Heimat zu verlassen, sondern hätten sie zum Zwecke der Veröffentlichung ihrer Arbeit das „ XXXX “ gegründet. Nach der Teilnahme an diversen Kongressen und der Veröffentlichung ihrer Arbeit sei es aber wieder zu Problemen gekommen. Am 01.06.2011 sei ein Staatsanwalt mit zwei Mitarbeitern des Justizministeriums zum Zwecke der Wirtschaftsprüfung unangemeldet ins Informationszentrum gekommen und habe verlangt, dass die BF am selben Tag bei der Staatsanwaltschaft erscheinen. Der Staatsanwalt habe ihnen – mit dem Verweis auf einen Mord, welcher zwei Wochen zuvor in der Stadt passiert sei – gedroht, die nächsten zu sein. Die BF1 habe die Ladung abgelehnt und sich an einen Rechtsanwalt gewandt, der den Termin abwenden habe können. Noch am selben Tag sei ein Mitarbeiter des Staatsanwaltes vorbeigekommen und habe den BF schriftliche Ladungen für denselben Tag übergeben, wobei die BF den Ladungen keine Folge geleistet hätten. Es habe betreffend die Ladungen keine Folgen gegeben, da diese rechtswidrig gewesen seien.

Nach weiteren Vorfällen befragt, berichtete die BF1 noch von einem Vorfall von November 2010, wonach ein aggressiver Mitarbeiter des Innenministeriums zu den BF in das Haus habe kommen wollen, die BF aber nicht geöffnet hätten. Zudem seien im November 2011 zweimal Mitarbeiter der Strafvollzugsabteilung gekommen und hätten ihnen vorgeworfen, flüchtige Gefangene aus dem Gefängnis zu verstecken bzw. die BF zwecks einer Aussage mitkommen sollen. Man habe ihnen gedroht, ihre Organisation zu vernichten. Die BF seien aber nicht mitgekommen, sondern hätten sie eine Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft gemacht. Ihre Organisation sei nach ihrer Ausreise von einem Gericht aufgelöst worden und seien die beiden Häuser der BF2 seit Dezember 2012 beschlagnahmt worden.

Zu ihrem Leben in Österreich gab die BF1 an, mit der BF2 und ihrer Familie in einer gemeinsamen Wohnung zu leben. Sie lebe von Erspartem, da sie in Russland eine Wohnung verkauft habe. Auch der Bruder überweise Geld.

Im Zuge der Einvernahme legte die BF1 diverse Unterlagen betreffend ihre Verfolgung in Russland vor (Briefe von Privatpersonen, Benachrichtigung über die Einverleibung eines Grundstückes, Internetauszüge, Urkunde betreffend die staatliche Registrierung des „ XXXX “, Zivilurteil des Obersten Gerichts vom XXXX ).

1.9. Am selben Tag wurden der BF1 die Länderfeststellungen zur Russischen Föderation und das eingeholte Sachverständigengutachten übermittelt und ihre eine Frist zur Übermittelung einer Stellungnahme eingeräumt.

1.10. Am 21.01.2013 langte eine Stellungnahme ein, in welcher ausgeführt wurde, dass der Konflikt mit hohen Beamten der Republik Nord Ossetia-Alania nunmehr schon 18 Jahre dauere und es zuletzt zwischen der BF1 und dem ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Gerichtes des sowjetischen Bezirkes XXXX zu Gesprächen bzw. Auseinandersetzungen gekommen sei. Die Weigerung der BF1 das Innovationszentrum zu schließen und die von ihr betriebenen wissenschaftlichen Arbeiten hätten nicht nur die Diskreditierung, sondern auch falsche Anschuldigungen, die Verfälschung von psychiatrischen Diagnosen und die Bedrohung ihres Lebens zur Folge gehabt. In der Folge wurden 19 einflussreiche Personen aufgelistet, durch welche die BF1 eine ernste Bedrohung für ihre persönliche Freiheit sowie ihre körperliche Unversehrtheit befürchte. Die BF1 sei nicht nur durch Privatpersonen verfolgt, sondern seien die genannten Repressalien durch Vertreter der Staatsmacht durchgeführt worden. Bei einer Rückkehr habe sie Repressalien rechtlicher Natur, die Verletzung der körperlichen Indentikrität sowie die Einweisung in eine geschlossene Anstalt zu befürchten.

Mit der Stellungnahme sowie mit Urkundenvorlage vom 25.02.2013 wurden – zum Beweis des Vorbringens der BF1 bzw. der Gefährdungslage in der Heimat - weitere Schreiben in russischer Sprache vorgelegt, für welche in weiterer Folge durch das BFA die deutsche Übersetzung veranlasst wurde.

1.11. Am 09.06.2016 fand eine Einvernahme vor dem nunmehr zuständigen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) statt, in welcher die BF1 ihre wissenschaftliche Arbeit in Vorlage brachte.

Sie gab an, es handle sich dabei um eine interdisziplinäre Wissenschaft, welche das Ziel habe, dass die nächste Generation zu einer gesunden Generation werde. Die Thematik sei nicht neu, aber die Beschreibung der Informationsstrukturen der einzelnen Strukturen sei einzigartig. Die Theorie beziehe sich auf alle Staaten der Welt und sie die Lösung aller Probleme.

Zu den Strafverfahren befragt, gab die BF1 an, sie sei beim ersten Vorfall im Jahr XXXX von unbekannten Personen angezeigt worden, weil sie diese Personen angeblich in einen Hypnosezustand versetzt habe und zu einem bewaffneten Überfall mit Waffen geschickt habe. Sie sei vom Gericht freigesprochen worden, aber im Gefängnis gewesen. Im Jahr 2000 hätten ihr unbekannte Personen vorgeworfen zwei Mädchen in einen Hypnosezustand versetzt zu haben und aus ihrer Wohnung Wertsachen entwendet zu haben. Eines der Mädchen sei die Tochter einer Anwältin, das zweite Mädchen die Tochter des Rektors der Hochschule XXXX . Die BF1 sei zudem jahrelang in einer psychiatrischen Klinik zwangsbehandelt worden, obwohl sie nie unter einer psychischen Störung gelitten habe. Sie habe die ihr vorgeworfenen Straftaten nie begangen. Den Reisepass und das Visum habe sie bekommen, weil ihre Verwandten sehr viel Geld bezahlt hätten.

Der Grund für die Verfolgung sei, dass zwei Professoren ( XXXX und XXXX ) ihre wissenschaftlichen Arbeiten haben hätten wollen bzw. die BF1 kein Teil des korrupten Systems habe werden wollen. Die BF1 habe an der wissenschaftlichen Akademie die Fälschung wissenschaftlicher Arbeiten aufgedeckt, wobei die Direktorin 2015 verhaftet und verurteilt worden sei. Auch die Kinder der BF, welche eine Ausbildung an der Akademie gemacht hätten, seien deshalb unter Druck gesetzt worden.

Zur gegründeten Organisation befragt, gab die BF1 zusammengefasst erneut an, ein Staatsanwalt habe im Jahr 2011 einen Überfall durchgeführt, sie und die BF2 hätten bei der Staatsanwaltschaft erscheinen sollen und seien sie damit bedroht worden, dass man ihnen den Kopf abschneiden würde. Ihre Organisation sei daraufhin auch vom Obersten Gericht geschlossen worden, es habe aber keinen Grund für die Auflösung gegeben. Zudem berichtete die BF1 erneut über den Überfall aus dem Jahr 2010, wo man Dokumente ihrer Organisation beschlagnahmen habe wollen. Man habe die Organisation schließen wollen, damit die BF1 nichts mehr veröffentliche. Es sei eine Lügenanzeige erstattet worden, wonach die BF geflohene Straftäter verstecken würden und sei deswegen die Untersuchung gemacht und seien die Dokumente beschlagnahmt worden.

Die BF1 gab weiters an, ihr Bruder sei in XXXX keinen Repressalien ausgesetzt gewesen. Dieser habe keine Namensänderung machen müssen, ansonsten hätten sie alle – wegen der Verfolgung - ihre Familiennamen ändern lassen müssen.

Abschließend schilderte sie noch einen Vorfall aus dem Jahr 2015, von welchen sie vom Bruder der BF2 erfahren habe. Dabei habe es erneut einen Überfall auf ihr Haus gegeben und habe der Staatsanwalt das Dokument ihrer Anwältin gesucht.

Im Zuge der Einvernahme legte die BF1 erneut ein Konvolut an Beweismaterial zu den von ihr geschilderten Vorfällen und Gerichtsverfahren vor.

1.12. Am 10.10.2016 legte die BF1 ein Psychiatrisches Sachverständigengutachten (Untersuchung am 30.09.2016) vor, wonach bei der BF1 eine „Posttraumatische Belastungsstörung ICD 10: F 43.1 und eine Reaktive Depression ICD 10: F 32.0“ diagnostiziert wurden.

1.13. Mit Bescheid des BFA vom 24.01.2017 wurde der Antrag der BF1 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und unter Spruchteil II. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. dieser Antrag auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen. Unter Spruchteil III. wurde der BF1 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF1 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF1 in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist. In Spruchpunkt IV. wurde die First für die freiwillige Ausreise gem. § 55 Abs. 1-3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

Das BFA führte aus, dass die Identität der BF1 feststehe. Bei ihr sei mittels Gutachten eine anhaltende wahnhafte Störung diagnostiziert worden. Sie befinde sich nicht in ärztlicher Behandlung.

Die von ihr angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes seien nicht glaubhaft. Eine Gefährdung oder Verfolgung iSd GFK habe nicht festgestellt werden können. Ebenso habe nicht festgestellt werden können, dass sie einer Verfolgung durch private Dritte ausgesetzt wäre. Die BF1 habe konfuse und widersprüchliche Angaben gemacht. Die von ihr vorgelegten Beweismittel seien nicht geeignet, ihre Verfolgungsbehauptungen zu untermauern. Die Angaben der BF1 würden nicht den Behauptungen in den vorgelegten Schreiben entsprechen. Die von der BF1 vorgelegte Arbeit sei einem Wissenschaftstheoretiker der Uni XXXX vorgelegt worden und sei dieser zum Schluss gekommen, dass es sich dabei um „Auswüchse einer krankhaften Fantasie handle“. Die Schlussfolgerungen des Gutachters seien nachvollziehbar und plausibel. Aus dem vorgelegten Urteil des Obersten Gerichtshofes sei ersichtlich, dass der Organisation der BF mehrere maßgebliche Satzungsverstöße vorgeworfen worden seien, welche letztendlich zu dem erstinstanzlichen Sistierungsbeschluss geführt hätten. Strafrechtliche Aspekte würden dabei keine Rolle spielen. Die weiters dazu vorgelegten Ladungen und Prüfberichte würden mit dem Urteil korrelieren. Das Urteil sei plausibel und nachvollziehbar, zumal die Organisation in Wirklichkeit keine satzungsmäßige Tätigkeit entfaltet habe und auch keine buchhalterisch nachvollziehbaren Gebarungen vorgelegt worden seien. Bei der behaupteten Zwangseinweisung handle es sich nicht um eine Verfolgung von staatlicher Seite. Die behauptete Verfolgung möge zwar subjektiv bestehen, sei objektiv aber Ausdruck der Erkrankung der BF1. Auch sei sie legal ausgereist, was ebenso gegen eine politische Verfolgung spreche. Zudem habe die BF1 laut ihrem Reisepass ein Visum von Tschechien und Spanien erhalten und habe sie sich laut den Ein- und Ausreisestempel mehrere Tage in diesen Ländern aufgehalten, was insgesamt auf eine organisierte Ausreise und nicht auf ein fluchtartiges Verlassen hindeute. Zudem habe die BF1 den Asylantrag auch erst mehrere Monate nach ihrer erstmaligen Einreise ins Bundesgebiet gestellt. Wäre sie tatsächlich verfolgt, dann hätte sie gleich nach ihrer ersten Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass die BF1 in Russland über ein soziales Netz verfüge und ihre Krankheit – so sie dies wolle – dort behandeln lassen könne. Sie wäre bei einer Rückkehr keiner unmenschlichen Behandlung ausgesetzt. Eine völlig aussichtslose Situation sei nicht zu erwarten.

Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung kam die belangte Behörde zu Schluss, dass die öffentlichen Interessen an der Ausreise der BF1 gegenüber den persönlichen Interessen überwiegen würden und nicht von einer umfassenden Integration ausgegangen werden könne.

1.14. Gegen diesen Bescheid brachte die BF1 fristgerecht eine Beschwerde ein, worin Mangelhaftigkeit des Verfahrens und eine falsche Beweiswürdigung geltend gemacht wurden. Die Behörde habe sich nur auf das veranlasste Gutachten (Dozent XXXX ), nicht aber auf das von der BF1 im Verfahren selbst vorgelegte Gutachten sowie den fachärztlichen Befund gestützt, welche beide nicht davon ausgehen würden, dass die BF1 „wahnhaft“ sei oder an einer Schizophrenie leide, sondern sei darin lediglich eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert worden. Bei Erstattung des Gutachtens von Dozent XXXX sei ein nicht verifizierter Dolmetscher zur Begutachtung zur Verfügung gestellt worden und habe dieser die Fragen und Antworten des Sachverständigen nicht ordnungsgemäß widergegeben. Zudem sei im Zuge des Sachwalterschaftsverfahrens attestiert worden, dass die BF1 keinen Sachwalter benötige, was bei Schizophrenen oder Wahnvorstellungen jedoch durchaus üblich sei. Die Behörde sei daher nicht nachvollziehbar auf die widersprüchlichen Gutachten eingegangen und habe auf die Vorwürfe der BF1 vom 17.10.2016 nicht reagiert. Es hätte entweder die Zertifizierung der Dolmetscherin oder die Richtigkeit des Gutachtens durch ein Obergutachten überprüft werden müssen und wäre die Behörde dann zu einer anderen Einschätzung gelangt, welche wesentliche Auswirkungen auf das gesamte Verfahren habe. Auch sei die Begründung des beigezogenen Uni-Professors betreffend die Arbeit der BF1 nicht nachvollziehbar, zumal nicht ersichtlich sei, was einen Philosophen dazu befähigen sollte, ihre Arbeit als (nicht) nachvollziehbar zu qualifizieren. Die Behörde habe sich mit dem Akteninhalt nicht auseinandergesetzt und sei der Tochter der BF2 von der Behörde mitgeteilt worden, dass eine „rasche Entscheidung“ ergehen müsse bzw. man sich nicht mit allen Details auseinandersetzen könne bzw. wolle. In weiterer Folge wurde das Vorbringen der BF1 wiederholt und ausgeführt, dass bei den der BF1 vorgeworfenen Verbrechen – trotz zahlreicher Ermittlungen - die Sachbeweise für das begangene Verbrechen fehlen würden bzw. die Aussagen der Ankläger widersprüchlich seien und damit die vorgeworfenen Verbrechen eine Fiktion seien. Die Anklagen hätten nur das Ziel gehabt, die BF zu verfolgen. Als Grundlage der psychiatrischen Diagnose der BF1 in Russland seien nur die Aussagen der Person herangezogen worden, mit welchen ein Interessenskonflikt bestanden habe. Die BF1 sei von der Psychiaterin mehrfach mit „lebenslanger Isolation“ im Falle der Anfechtung der Strafanklage oder der psychiatrischen Diagnose, bedroht worden. Im Jahr 2015 sei auch mehrfach verweigert worden, einen Auszug der Krankenakte der BF1 zu bekommen und sei die BF1 vom Ermittler – der die wichtigste handelnde Person der Fälschung der strafrechtlichen Anklagen gewesen sei – (etwa mit dem Entzug ihrer elterlichen Rechte) bedroht worden. Die BF1 habe daraufhin beschlossen die Dokumente für die Rehabilitation von Strafsachen zu sammeln und sie dem Gericht vorzulegen. Auch der Angriff auf das Büro der Organisation sowie die Bedrohungen durch die Staatsanwaltschaft seien Beweise für die Verfolgung der BF durch die Strafverfolgungsbehörden Russlands. Wenn seitens der belangten Behörde entgegen all den vorgelegten Beweisen behauptet werde, dass die russischen Verfahren korrekt ablaufen würden und die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt rechtens sei, so ließe sich dies durch ein zweifelsfreies Gutachten aus dem Fach der Psychiatrie einwandfrei feststellen. Das von der Behörde geführte Verfahren sei daher mit schweren Mängeln behaftet.

1.15. Am 13.08.2018 wurde betreffend die BF1 ein ÖSD-Zertifikat A2 vom 08.05.2018 in Vorlage gebracht.

1.16. Am 31.07.2019 legte die BF1 ein Zeugnis zur Integrationsprüfung (Niveau A2) vom 18.06.2019 vor.

2. Zum Verfahren der BF2:

2.1. Die BF2 reiste am 02.08.2011 ins Bundesgebiet ein und stellte am 08.08.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.2. Am 09.08.2011 fand eine Erstbefragung statt.

Zum Grunde für das Verlassen des Herkunftsstaates gab sie an, die BF1 und sie hätten die Entdeckung gemacht, wonach in Russland das Lehrsystem nicht stimme und habe die BF1 das Gefundene in der Zeitung veröffentlicht. Seither seien sie verfolgt worden. Sie sei mehrmals in Haft gewesen, dann habe sie zwei Jahre bedingte Haft bekommen und habe sie sich jeden Tag bei der Polizei melden müssen. Seit dem Ablauf der bedingten Strafe sei sie nicht mehr inhaftiert worden. Ihren Reisepass habe sie nicht abgeben müssen. Da sie wieder von der Prokuratur unter Druck gesetzt worden sei, habe sie sich dazu entschlossen zu den Kindern nach XXXX zu reisen. Bei einer Rückkehr befürchte sie eine Verfolgung durch die russischen Behörden.

Zu ihren persönlichen Verhältnissen gab die BF2 an, sie sei geschieden, ihre Muttersprache sei Ossetisch, sie spreche auch Russisch. Zuletzt sei sie Verkäuferin gewesen. In Österreich würden ihre Tochter und ihre beiden Söhne leben.

Sie sei am 29.07.2011 mit dem Flugzeug nach XXXX und am 02.08.2011 weiter nach Ungarn geflogen, wo sie vom Sohn der BF1 abgeholt worden sei und dann weiter nach Österreich gereist sei.

Der russische Auslandsreisepass der BF2 wurde sichergestellt.

2.3. Am 28.09.2011 wurde die BF2 niederschriftlich vom Bundesasylamt einvernommen.

Die BF2 gab zu ihrem Gesundheitszustand an, Schmerzmittel gegen Gelenksschmerzen einzunehmen.

Sie sei Mitglied der „Einheitliches Russland-Partei“ und Präsidentin der „ XXXX “, welche sie seit 2003 leite. Sie hätten die Wohnung der BF1 in XXXX verkauft, davon würden sie nun leben. Die BF2 habe bis zur Ausreise in XXXX gelebt. Sie habe dort ein Haus, wo ihre Mutter wohne und von ihrer Pension lebe.

Sie sei Anfang Mai 2011 schon in XXXX gewesen, um ihre Kinder zu besuchen bzw. wegen der Veröffentlichung ihres Buches. Sie sei dann am 27.05.2011 wieder zurück nach XXXX geflogen und habe sie nicht beabsichtigt, länger hier zu bleiben.

Zu ihren persönlichen Verhältnissen gab sie ergänzend an, sie habe die Matura und eine Handelsakademie abgeschlossen. Sie habe zuletzt in dieser Organisation gearbeitet, ihre jüngere Schwester besitze ein Modestudio in XXXX , dort habe sie als Näherin gearbeitet. Sie habe telefonischen Kontakt zu ihrer Schwester.

Zur BF1 befragt, gab sie an, diese habe in Russland eine Rente erhalten. Seit 1995 habe die BF1 nicht mehr in der medizinischen Akademie gearbeitet, sondern mache sie zu Hause ihre Dissertation. Eine Etappe der Arbeit sei seit Jänner 2011 abgeschlossen, im September hätten sie eine Kleinigkeit noch geändert. Einige Kapitel der Arbeit hätten sie bei medizinischen Kongressen in XXXX und Tschechien bekannt gemacht. Es habe ein Strafverfahren gegen sie und die BF1 wegen einem bewaffnetem Überfall gegeben. Sie seien unschuldig gewesen. Sie seien festgenommen und die BF1 in eine psychiatrische Klinik gebracht worden. Der Vater der BF1 lebe mit dem Bruder in XXXX .

Hinsichtlich der verfassten Arbeit befragt, gab die BF2 an, darin gehe es um die Erschaffung eines Komplementärsystems in der Welt. Die Arbeit (in russischer Sprache und übersetzt in deutscher Sprache) wurde vorgelegt und zum Akt genommen.

Sie könne nicht nach Russland zurück, da sie nicht am Leben bleiben würden. Am 26.05. sei ein Professor geköpft worden und habe der Staatsanwalt am 01. Juni ihnen gegenüber persönliche Drohungen ausgesprochen und gesagt, dass sie die nächsten sein würden. Zudem gebe es auch den georgisch-ossetischen Konflikt. In einem anderen Teil der Russischen Föderation hätten sie nicht leben können, da die BF1 im September XXXX auch in XXXX festgenommen worden sei. Wegen dieser Arbeit würden sie in Russland nicht leben können. Sie habe nicht das Ziel gehabt, Russland zu verlassen, sondern hätten sie nur das Ziel, die Forschung an dieser Arbeit zu beenden. Am 02.06. seien sie der „Einheitlichen Front Putins“ beigetreten.

Die BF2 brachte in weiterer Folge diverse Unterlagen betreffend die gegründete Organisation sowie Unterlagen betreffend die Ausbildung und Beschäftigungen der BF1 in Vorlage.

2.4. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.11.2011 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der BF2 vom 08.08.2011 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russland abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Die BF2 wurde nach Russland ausgewiesen und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkte III. und IV.).

2.5. Gegen diesen Bescheid brachte die BF2 fristgerecht eine Beschwerde ein und wurden ein Brief eines Professors der Universität von XXXX (in russischer Sprache) sowie ein Brief eines in Österreich tätigen Facharztes für Zahn-, Mund-, Kieferheilkunde betreffend die vorgelegte Arbeit der BF in Vorlage gebracht. Weiters wurde ein Brief des Rechtsanwaltes (in russischer Sprache), welcher die Organisation vertretet habe, vorgelegt und gleichzeitig beantragt, diesen – nunmehr in Österreich lebenden – Rechtsanwalt einzuvernehmen.

2.6. Mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom 22.12.2011 wurde der Beschwerde der BF2 die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

2.7. Mit weiterem Beschluss des Asylgerichtshofes vom 23.05.2013 wurde der bekämpfte Bescheid der BF2 behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Begründend wurde ausgeführt, es seien Hinweise hervorgekommen, dass die Verhandlungsfähigkeit der BF2 eingeschränkt sein könnte; die belangte Behörde aber bezüglich des Gesundheitszustandes der BF2 keine Ermittlungen durchgeführt habe. Im fortgesetzten Verfahren habe das Bundesasylamt daher einen Facharzt für Psychiatrie beizuziehen, um den aktuellen Gesundheitszustand und die Verhandlungsfähigkeit der BF2 untersuchen zu können. Zudem müsse auch auf das Verfahren der BF1 Bedacht genommen werden.

2.8. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.06.2013 wurde ein Facharzt für Psychiatrie gemäß § 52 Abs. 4 AVG als nichtamtlicher Sachverständiger für das Asylverfahren der BF2 bestellt. In dem vom Sachverständigen erstellten psychiatrisch-neurologischen Gutachten vom 03.08.2013 wurde ausgeführt, dass eine neurologische Erkrankung nicht fassbar sei. Auch eine psychiatrische Erkrankung, welche die BF2 daran hindern würde, ihre Interessen im Verfahren wahrzunehmen oder sie in ihrem Erinnerungsvermögen beeinträchtigen würde, sei nicht fassbar. Aus psychiatrischer Sicht sei die BF2 als verhandlungs- und vernehmungsfähig zu bezeichnen.

2.9. Am 20.06.2016 wurde die BF2 vom BFA erneut niederschriftlich einvernommen.

Die BF2 legte diverse weitere Beweise aus Russland betreffend das gegen sie geführte Strafverfahren vor.

Sie wurde erneut zu ihren Fluchtgründen befragt, wobei die BF2 wiederum über die in Russland geführten Strafverfahren/ die Verurteilungen, den Überfall auf ihre Organisation/die dortige Beschlagnahmung von Dokumenten, die Schließung der Organisation durch das Gerichtsurteil sowie die vorgelegte Arbeit berichtete.

Ihre Probleme hätten mit dieser Arbeit begonnen, da es zwischen der BF1 und anderen Professoren der Akademie zu einem Interessenskonflikt gekommen sei. Man habe die BF1 aufgefordert, die BF2 nicht mehr als Koautorin in der Arbeit zu führen und hätten sich die Professoren die Veröffentlichung aneignen wollen. Die BF2 werde wegen ihrer politischen Ansichten und wegen ihrer Organisation – deren Mitglieder sich zu einer sozialen Gruppe formiert hätten – verfolgt. Die Fortsetzung ihrer politisch-wissenschaftlichen Forschung sei im Konflikt zu der allgemeinen Doktrin des russischen Staates gestanden.

Die BF2 legte Befunde zu ihrem Gesundheitszustand vor. Sie habe seit 2012/2013 Prothesen, habe sich mit Hepatitis C infiziert und sei ein halbes Jahr lang behandelt worden.

Zu ihrem Leben in Österreich gab sie an, mit ihren Verwandten in einem Haus bzw. einer Wohnung zu wohnen. Sie seien eine Familie.

2.10. Mit Bescheid des BFA vom 24.01.2017 wurde der Antrag der BF2 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und unter Spruchteil II. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. dieser Antrag auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen. Unter Spruchteil III. wurde der BF2 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF2 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF2 in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist. In Spruchpunkt IV. wurde die First für die freiwillige Ausreise gem. § 55 Abs. 1-3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

Das BFA führte aus, dass die Identität der BF2 feststehe. Sie sei gesund und sei laut dem eingeholten Gutachten keine psychische Erkrankung fassbar. Sie befinde sich nicht in ärztlicher Behandlung.

Die von ihr angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes seien nicht glaubhaft. Eine Gefährdung oder Verfolgung iSd GFK habe nicht festgestellt werden können. Ebenso habe nicht festgestellt werden können, dass sie einer Verfolgung durch private Dritte ausgesetzt wäre. Ihr Vorbringen stütze sich auf die behaupteten Probleme der BF1 wegen einer revolutionären wissenschaftlichen Erkenntnis der BF1, an welcher die BF2 seit Mitte der 1990er Jahre mitgearbeitet habe bzw. die russischen Behörden ihre Rückkehr erzwingen wollen würden, um sie zu töten und auch ihre Organisation unter diesem Vorwand geschlossen worden sei. Die BF2 sei aber – genau so wenig wie ihre Angehörigen, welche sich auf dieselben Fluchtgründe bezogen hätten – dazu in der Lage gewesen, diese Behauptungen zu untermauern bzw. schlüssig darzulegen. Sie habe keine über Spekulationen hinausgehende Verfolgungsbefürchtungen darlegen können. Vielmehr sei die BF2 infolge der Ausstellung eines Visums in die Dublinstaaten ein- und ausgereist und habe sie weder bei der legalen Ausreise aus Russland, noch davor ernsthafte Probleme gehabt. Die BF2 sei – trotz ihrer Behauptung jahrelang an der Arbeit mitgewirkt zu haben - nicht dazu im Stande gewesen annähernd zu erklären, warum es bei der Arbeit gehe. Hinsichtlich der Schließung ihrer Organisation sei darauf hinzuweisen, dass dieser mehrere maßgebliche Satzungsverstöße vorgeworfen worden seien; strafrechtliche Aspekte – im Gegensatz zu ihrer Behauptung – dabei jedoch keine Rolle gespielt hätten. Die BF2 habe sich bei ihren Ausführungen darüber hinaus auch in Widersprüche verstrickt, eine Verfolgungsgefahr iSd GFK sei daher insgesamt nicht glaubhaft gemacht worden.

Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass die BF2 arbeitsfähig und gebildet sei. Sie könne selbst für ihr Auskommen sorgen und verfüge in Russland über Angehörige bzw. ein soziales Netzwerk. Sie wäre bei einer Rückkehr keiner unmenschlichen Behandlung ausgesetzt. Eine völlig aussichtslose Situation sei nicht zu erwarten.

Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung kam die belangte Behörde zum Schluss, dass die öffentlichen Interessen an der Ausreise der BF1 gegenüber den persönlichen Interessen überwiegen würden und nicht von einer umfassenden Integration ausgegangen werden könne.

2.11. Gegen diesen Bescheid hat die BF2 fristgerecht vollinhaltliche Beschwerde erhoben, worin Mangelhaftigkeit des Verfahrens und eine falsche Beweiswürdigung geltend gemacht werden. In der Beschwerde der BF2 wurden im Wesentlichen die gleichen Ausführungen wie in jener der BF1 gemacht, wobei zusätzlich darauf hingewiesen wurde, dass sich die Behörde nicht mit dem gesamten Akteninhalt auseinandergesetzt habe, ansonsten die Behörde wissen müsste, dass es sich bei der BF1 nicht um die Schwester, sondern die Schwägerin der BF2 handle.

2.12. Am 13.08.2018 wurde betreffend die BF2 ein ÖSD-Zertifikat A2 vom 08.05.2018 in Vorlage gebracht.

2.13. Am 31.07.2019 legte die BF2 ein Zeugnis zur Integrationsprüfung (Niveau A2) vom 18.06.2019 vor.

3. Gemeinsam geführtes Verfahren der BF1 und BF2 vor dem erkennenden Gericht:

3.1. Die BF1 und die BF2 wurden im Zuge einer Beschwerdeverhandlung vom 01.10.2020 durch das erkennende Gericht nochmals ergänzend zu der verfassten wissenschaftlichen Arbeit, ihren Problemen im Heimatland, zu den in Russland geführten Verfahren bzw. Anzeigen, der von ihnen gegründeten Organisation, ihren Verwandten in der Russischen Föderation, zu ihrem Gesundheitszustand sowie zu ihrer Integration und ihren Verwandten in Österreich befragt.

Im Zuge der Verhandlung legten die BF ua. folgende Unterlagen vor:

-        Persönliche Schreiben der BF zu ihrer Integration in Österreich;

-        ÖSD-Zertifikate Deutsch A1 vom 30.01.2018 für beide BF;

-        diverse Zertifikate/Bestätigungen der BF betreffend den Besuch von Deutschkursen bis zum Niveau B1;

-        Bestätigung der Hausärztin der BF2 vom 29.09.2020, wonach diese im Oktober 2012 eine Totalendoprothese (TEP) links und im Jänner 2014 eine TEP rechts gehabt habe. Zudem leide die BF2 an chronischen Rückenschmerzen und werde deshalb von einem Facharzt für Orthopädie behandelt. Als Medikamente wurden „Novalgin, Ibuprofen, Tramalgtt (bei Bedarf), Pantoloc 40mg und Oleovit“ angeführt;

-        Bestätigung der Hausärztin der BF1 vom 29.09.2020, wonach diese im Juli 2017 wegen Herzproblemen und hohem Blutdruck stationär im Krankenhaus gewesen sei, im April 2019 sei eine beidseitige Katarakt-OP (grauer Star) und im Jänner 2020 eine Magenbypass-OP durchgeführt worden. Sie sei wegen chronischer Rückenschmerzen bei einem Facharzt für Orthopädie in Behandlung. Als Medikamente wurden: „Valsacomp, Cocor 5mg, Atorvadivid 40mg, Pantoloc 40mg, Thrombo-Ass 100mg und Ibuprofen sowie Novalgin bei Bedarf“ angeführt;

-        diverse Unterlagen betreffend die in Österreich aufhältigen Kinder/Enkelkinder der BF.

3.2. Am 23.11.2020 wurde für die BF eine Stellungahme eingebracht. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Länderfeststellungen hinsichtlich der vorliegenden Corona-Pandemie nicht aktuell seien. Die BF1 gehöre aufgrund ihres Alters (65) und ihrer Herzerkrankung bzw. dem Übergewicht vermutlich einer Risikogruppe an. Auch die BF2 sei bereits 61 Jahre alt, habe eine beiderseitige Hüftprothese, leide an starken Schmerze an der Wirbelsäule und benötige ständig Injektionen gegen die Schmerzen. Die BF würden Familie in Österreich haben und für diese den gesamten Haushalt führen. Betreffend die in der mündlichen Verhandlung erörterten Beschwerde wurde ergänzend vorgebracht, dass es keinen Sinn gehabt hätte, eine solche zu erheben, da russische Gerichte nicht unabhängig seien. Zudem wurde auf diverse Online-Artikel verwiesen, worin über die Einweisung diverser Personen in russische Psychiatrien berichtet werde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat nach Durchführung einer Beschwerdeverhandlung wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

Feststellungen zu den BF:

Die BF sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der Volksgruppe der Osseten und bekennen sich zum orthodoxen Glauben. Ihre Identität steht nach Vorlage unbedenklicher Dokumente fest.

Die BF halten sich seit ihrer legalen Einreise im August 2011 (mittels Visa) durchgehend im Bundesgebiet auf. Beide stellten am 08.08.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Nicht festgestellt werden kann, dass den BF in der Russischen Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung maßgeblicher Intensität – oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität – in der Vergangenheit gedroht hat bzw. aktuell droht.

Nicht festgestellt werden kann, dass die BF im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in ihrem Recht auf Leben gefährdet wären, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würden oder von der Todesstrafe bedroht wären.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass die BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat in eine existenzgefährdende Notlage geraten würden und ihnen die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Die BF1 hat in Russland eine medizinische Ausbildung an der Universität absolviert. Sie war ua. bis zum Jahr 1995 an der medizinischen Akademie in XXXX tätig. Nach ihrer dortigen Kündigung hat sie selbstständig an ihrer Arbeit weitergeforscht.

Die BF2 hat in Russland die Matura und eine Handelsakademie abgeschlossen. Sie hat Berufserfahrung als Näherin im Modegeschäft ihrer Schwester gesammelt und war zuletzt „Präsidentin“ der von den BF in XXXX gegründeten Organisation.

Die BF waren zuletzt gemeinsam in einem Eigentumshaus in XXXX wohnhaft und waren dazu in der Lage, sich ihren Lebensunterhalt – mit Unterstützung durch Verwandte -- zu sichern. Die BF hatten keine finanziellen Probleme. In der Russischen Föderation halten sich zudem mehrere Verwandten der BF auf. So lebt eine Tante der BF1 in XXXX und ein Bruder der BF1 in XXXX . Auch die Mutter der BF2 und ihre Schwester leben in Russland bzw. XXXX . Es ist den BF zuzumuten, den Kontakt zu ihren Verwandten wiederherzustellen.

Die BF leiden an keinen dermaßen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen würden. In der Russischen Föderation besteht eine ausreichende medizinische Grundversorgung.

Die unbescholtenen BF halten sich seit August 2011, sohin seit mehr als 9 Jahren im Bundesgebiet auf. Sie haben mehrere Deutschkurse (bis zum Niveau B1) besucht und jeweils am 18.06.2019 die Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 bestanden. Sie beziehen seit ihrer Einreise ins Bundesgebiet Leistungen aus der Grundversorgung und haben freundschaftliche Bekanntschaften geschlossen.

In Österreich halten sich mehrere Familienangehörige der BF auf.

So hält sich der volljährige Sohn der BF1 ( XXXX ) seit dem Jahr 2008 in Österreich auf. Er hat im Jahr 2015 eine kirgisische Staatbürgerin geheiratet, im Jahr 2014 wurde die gemeinsame Tochter im Bundesgebiet geboren. Der Sohn der BF1 sowie auch dessen Frau und Tochter sind zum dauerhaften Aufenthalt in Österreich berechtigt. Sie verfügen über eine „Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“.

Die beiden volljährigen Söhne der BF2 ( XXXX ) halten sich seit dem Jahr 2009 in Österreich auf, sind zum dauerhaften Aufenthalt in Österreich berechtigt und verfügen jeweils über eine „Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“.

Die volljährige Tochter der BF2 ( XXXX ) hält sich ebenso seit dem Jahr 2009 in Österreich auf. Sie hat im Jahr 2011 einen russischen Staatsbürger geheiratet, im Jahr 2012 und 2014 wurden die beiden gemeinsamen Kinder im Bundesgebiet geboren. Die Tochter der BF2 sowie auch ihr Mann und die beiden gemeinsamen Kinder sind zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigt und verfügen jeweils über eine „Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“.

Die beiden BF und ihre Familienmitglieder leben im selben Wohnhaus, aber in 3 unterschiedlichen Wohnungen. Die BF haben zu ihren Kindern und Enkelkindern eine sehr innige Beziehung, die über das üblicherweise zwischen Erwachsen und ihren volljährigen Kindern bzw. Enkelkindern bestehende Verhältnis hinausgeht. Die beiden BF führen den Haushalt der gesamten Familie und betreuen die Enkelkinder.

Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat der BF:


1.         Politische Lage

Letzte Änderung: 21.07.2020

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).


Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020

-        CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 17.7.2020

-        Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020

-        Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020

-        MDR 16.7.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html, Zugriff 21.7.2020

-        ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020

-        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020

-        Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020

-        RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020

-        Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020

-        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020

-        Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020

1.1.    Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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