TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/18 L524 2003078-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.02.2021
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Entscheidungsdatum

18.02.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4

Spruch


L524 2003078-3/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER LL.B. über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Dr. Helmut BLUM, Mozartstr. 11/6, 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundeamtes für Fremdenwesen Asyl vom 24.11.2017, Zl. 590381005-140144695, betreffend Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz und Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.02.2020, zu Recht:

A) Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte 1., 2. und I. wird gemäß § 3, § 8 und § 57 AsylG als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte 3., 4. und 5. wird stattgegeben und festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 9 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist. Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte Anfang Februar 2012 beim Österreichischen Generalkonsulat in Istanbul einen Antrag auf Erteilung einer „Aufenthaltsbewilligung – Studierender“ im Sinn des § 64 NAG, der in der Folge am 21.03.2012 bei der zuständigen österreichischen Bezirksverwaltungsbehörde einlangte. Mit 13.09.2012 erteilte diese Behörde eine vorläufige Zusage über die Ausstellung des beantragten Aufenthaltstitels.

2. Am 02.10.2012 reiste der Beschwerdeführer legal in das österreichische Bundesgebiet ein und erhielt am 15.11.2012 eine für ein Jahr gültige Aufenthaltsbewilligung für Studierende.

3. Mit Schreiben vom 06.08.2013 wurde der Beschwerdeführer von der zuständigen österreichischen Bezirksverwaltungsbehörde darüber in Kenntnis gesetzt, dass wider ihn ein Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbots gemäß § 63 FPG iVm § 53 Abs. 2 Z 1 FPG eingeleitet wurde. Der Beschwerdeführer gab hierzu eine schriftliche Stellungnahme ab.

4. Mit Bescheid der zuständigen österreichischen Bezirksverwaltungsbehörde vom 24.10.2013, Zl. Sich40-330-2012, wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 63 FPG iVm § 61 FPG ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung, die mit Beschluss des Unabhängigen Verwaltungssenats des Landes Oberösterreich vom 04.12.2013 als verspätet zurückgewiesen wurde. Am 02.01.2014 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gemäß § 71 AVG und brachte zugleich nochmals die Berufung vom 13.11.2013 zur Vorlage. Mit Bescheid vom 30.04.2014 wies das (nunmehr zur Entscheidung über den Antrag berufene) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gemäß § 71 Abs. 1 AVG als unbegründet ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.09.2014, L502 2003078-2/12E, gemäß § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG mit der Maßgabe abgewiesen, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 71 Abs. 2 AVG zurückgewiesen wurde.

5. Der Beschwerdeführer stellte im Anschluss am 06.11.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 07.11.2014 erfolgte eine Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Am 26.07.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA einvernommen.

6. Mit Bescheid des BFA vom 24.11.2017, Zl. 590381005-140144695, wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt 1.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt 2.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt 3. und 4.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt 5.).

7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.

8. Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde am 25.02.2020 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an der nur der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Das BFA entsandte keinen Vertreter.

9. Der Beschwerdeführer wurde mit Note des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.04.2020 aufgefordert, einen aktuellen türkischen Strafregisterauszug und zwei im Verfahren thematisierte türkische Gerichtsurteile vorzulegen. Der Beschwerdeführer entsprach dieser Aufforderung teilweise.

II. Feststellungen:

Der 37jährige Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, Kurde und Moslem. Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX im Landkreis XXXX in der ostanatolischen Provinz Mu? geboren. Er zog ca. 1994 mit seiner Familie in den gleichnamigen Hauptort dieses Landkreises, wo er aufwuchs und – abgesehen von den Zeiten seiner universitären Ausbildung und einem etwa sechs- bis siebenmonatigen Aufenthalt in Istanbul vor seiner Ausreise – lebte. Der Beschwerdeführer besuchte in der Türkei von 1989 bis 2000 im Landkreis XXXX die Schule (Grundschule und Gymnasium) und schloss diese mit Matura ab. Seine universitäre Ausbildung absolvierte der Beschwerdeführer – mit Ausnahme eines dreimonatigen Aufenthalts in der Stadt XXXX etwa 2003 oder 2004 – von 2006 bis 2010 in der Stadt XXXX in Südostanatolien an der dortigen Universität. Er schloss das Bachelorstudium Geschichte an der Fakultät für Literaturwissenschaften erfolgreich ab. Dass er auch ein Bachelorstudium Literatur betrieben bzw. beendet hat, kann nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer war vor seiner Ausreise ehrenamtlich als Geschichtelehrer tätig. Er spricht Türkisch und Kurmandschi (Nordkurdisch).

Der Beschwerdeführer hat in seinem Herkunftsstaat Familie/Verwandte. Seine Eltern leben weiterhin im Landkreis XXXX und sein Bruder wohnt in Istanbul. Eine Schwester lebt im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland und ein Bruder in den Kurdengebieten in Syrien. Vier weitere Geschwister des Beschwerdeführers sind bereits verstorben. Dass sich der Vater des Beschwerdeführers derzeit in Haft befindet, die vier Geschwister verstorben sind und sein in Syrien lebender Bruder dort für die Volksverteidigungseinheiten kämpft(e), weil sich die Familie für die kurdischen Belange einsetzt und/oder Familienangehörige bei der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) als Mitglieder aktiv (gewesen) sind, kann nicht festgestellt werden. Die Eltern bestritten in der Vergangenheit ihren Lebensunterhalt mit einer Landwirtschaft, mittlerweile befinden sie sich im Ruhestand. Die Mutter führt weiterhin den Haushalt. Der in Istanbul lebende Bruder arbeitet als Lehrer. Der Beschwerdeführer hat gelegentlich mit seiner Mutter und seinem in Istanbul lebenden Bruder Kontakt.

Der Beschwerdeführer verließ die Türkei Anfang Oktober 2012 und reiste am 02.10.2012 mit einem Visum D zur Abholung eines Aufenthaltstitels legal in das österreichische Bundesgebiet ein. Am 15.11.2012 erhielt der Beschwerdeführer eine für ein Jahr – somit bis zum 14.11.2013 – gültige Aufenthaltsbewilligung für Studierende. Die zuständige österreichische Bezirksverwaltungsbehörde erließ mit Bescheid vom 24.10.2013 gemäß § 63 FPG iVm § 61 FPG wider den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot, welches am 29.10.2013 in Rechtskraft erwuchs. Am 06.11.2014 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und hält sich somit als Asylwerber rechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Er gehört keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung an. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführ hat mehrere Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache besucht: „A1 Deutsch Integrationskurs Stufe 1“ des Wirtschaftsförderungsinstituts Oberösterreich von 08. Oktober 2012 bis 15. November 2012 im Ausmaß von 75 Trainingseinheiten; „Deutsch Integrationskurs Stufe 5“ des Berufsförderungsinstituts Oberösterreich von 25. Juni 2013 bis 31. Juli 2013 im Ausmaß von 75 Unterrichtseinheiten; „Deutsch B1 Integrationskurs Teil 6“ des Wirtschaftsförderungsinstituts Oberösterreich von 10. Februar 2014 bis 05. März 2014 im Ausmaß von 75 Trainingseinheiten. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 25.02.2020 besuchte der Beschwerdeführer zudem einen Deutschkurs Niveau B2 des Berufsförderungsinstituts Oberösterreich. Eine Bestätigung über die vollständige Absolvierung dieses Kurses übermittelte der Beschwerdeführer bislang nicht. Er hat ferner den Deutschtest des Österreichischen Integrationsfonds auf dem Niveau A2 am 09.02.2013 und die Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz (Niveau: B1) und zu Werte- und Orientierungswissen des Österreichischen Integrationsfonds am 08.08.2018 bestanden. Die Verständigung mit dem Beschwerdeführer in deutscher Sprache ist problemlos möglich.

Der Beschwerdeführer war im Wintersemester 2012/13, im Sommersemester 2013 und im Wintersemester 2013/14 als außerordentlicher Studierender an der XXXX für die Ablegung der Ergänzungsprüfung für den Nachweis der Kenntnis der deutschen Sprache bzw. für das Bachelorstudium XXXX inskribiert. Abgesehen von einer von Seiten des Roten Kreuzes organisierten Unterstützung älterer Menschen ist der Beschwerdeführer weder ehrenamtlich noch gemeinnützig tätig. Der Beschwerdeführer ist nicht in Vereinen oder Organisationen aktiv; er ist ansonsten auch nicht Mitglied von Vereinen oder Organisationen in Österreich.

Der Beschwerdeführer war von 24.04.2013 bis 20.08.2013, 04.12.2013 bis 15.07.2014, am 17.08.2014 und am 11.05.2017 als Arbeiter bei verschiedenen Arbeitgebern geringfügig beschäftigt, wobei er jedenfalls die erste Beschäftigung ohne die erforderliche Bewilligung nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz ausübte. In den Zeiträumen von 26.08.2015 bis 31.01.2017 und ab 10.08.2017 war bzw. ist der Beschwerdeführer selbständig erwerbstätig. Der Beschwerdeführer betreibt aktuell gemeinsam mit einer anderen Person in Form einer Offenen Gesellschaft ein Gastgewerbe. Der Beschwerdeführer ist zur Sicherstellung seines Auskommens nicht mehr auf Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber angewiesen.

Der Beschwerdeführer verfügt hier über einen Freundes- und Bekanntenkreis, dem auch österreichische Staatsangehörige bzw. in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigte Personen angehören. Er pflegt, insbesondere im Rahmen seiner Freizeitaktivitäten, zahlreiche soziale Kontakte. Der Beschwerdeführer legte im gegenständlichen Verfahren auch Unterstützungserklärungen seiner Freunde und Bekannten vor.

Eine Großcousine und deren zwei volljährige Kinder – allesamt österreichische Staatsangehörige – leben im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer lebt mit diesen Personen nicht in einem gemeinsamen Haushalt. Es besteht kein (wechselseitiges) Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Personen. Ein Onkel des Beschwerdeführers, ebenfalls österreichischer Staatsangehöriger, ist im Sommer 2017 in die Bundesrepublik Deutschland verzogen. Der Beschwerdeführer ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Er führt seit Ende November 2019 eine Beziehung. Zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Freundin besteht ebenfalls kein (wechselseitiges) Abhängigkeitsverhältnis, die beiden haben keine Kinder, die Freundin des Beschwerdeführers ist nicht schwanger und leben sie nicht in einem gemeinsamen Haushalt.

Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2003 mit Urteil eines türkischen Gerichts wegen eines Strafrechtsdelikts verurteilt. Der Inhalt dieses Urteils kann nicht festgestellt werden. Dem Beschwerdeführer wurde ferner im Jahr 2008 wegen Plakatierens im Bereich der Hochschule durch den Rektor der Besuch der Universität in XXXX für einen Monat untersagt. Weitere Konsequenzen gab es aus diesen Entscheidungen/Sanktionen wider den Beschwerdeführer nicht und sind auch weder gegenwärtig noch für den Fall der Rückkehr in den Heimatstaat zu erwarten.

Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Fluchtgrund, dass er wegen seines Engagements beziehungsweise des Engagements seiner Familie für die kurdischen Belange sowie der Nähe von Familienangehörigen zur PKK mehrfach in Gewahrsam genommen und inhaftiert, hierbei teilweise misshandelt und von einem türkischen Erstgericht in diesem Zusammenhang in den Jahren 2008 – und nach einer Kassation – im Jahr 2012 zu einer Haftstrafe verurteilt worden sei, wird der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt.

Der Beschwerdeführer möchte den Wehrdienst nicht ableisten. Er unterliegt als männlicher türkischer Staatsangehöriger der allgemeinen Wehrpflicht in der Türkei. Er wird im Fall einer Rückkehr in der Türkei seinen Wehrdienst ableisten müssen, wenn er für tauglich befunden werden sollte. Der Beschwerdeführer wurde bislang weder der Musterung unterzogen, noch erhielt er einen Einberufungsbefehl.

Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

Sicherheitslage

Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie – in sehr viel geringerem Ausmaß – auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in XXXX und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Ar? (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein ?hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen A?r?, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbak?r, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, ?anl?urfa, Siirt, ??rnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).

Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).

Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei, PKK, die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 haben PKK-Attentate und Operationen mehr als 40.000 militärische und zivile Opfer gefordert. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2019).

Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 6.2019).

2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch HDP-Politiker zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der AKP im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2019). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2019).

Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den südostanatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich im Berichtszeitraum (2018) fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH-D 6.2019).

Terroristische Gruppierungen: DHKP-C - Devrimci Halk Kurtulu? Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)

Die marxistisch-leninistische „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP-C) spricht sich für eine revolutionäre Zerschlagung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung in der Türkei aus. Als Hauptfeinde betrachtet die DHKP-C die als „faschistisch“ und „oligarchisch“ bezeichnete Türkei und den „US-Imperialismus“, der die Türkei in politischer, wirtschaftlicher und vor allem militärischer Hinsicht dominiere. Ihr Ziel, die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in der Türkei, ist laut Parteiprogramm der DHKP-C nicht durch Wahlen zu erreichen, sondern ausschließlich durch den „bewaffneten Volkskampf“ unter der Führung der DHKP-C beziehungsweise ihres militärischen Arms, der „Revolutionären Volksbefreiungsfront“ (DHKC). Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIBH 7.2018, vgl. CEP 15.10.2018).

Die DHKP-C hat ihre terroristischen Aktivitäten in der Türkei im Jahr 2017 zwar fortgesetzt, jedoch ging das Ausmaß im Vergleich zum Vorjahr erneut zurück. Die seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 weiterhin verschärfte Sicherheitslage in der Türkei und die damit verbundenen umfangreichen staatlichen Maßnahmen hatten unmittelbare Auswirkungen auf die DHKP-C, etwa durch die Festnahme von Mitgliedern (BMIBH 7.2018). So wurden im Jänner 2018 sieben mutmaßliche Mitglieder der DHKP-C in Istanbul (Anadolu 9.1.2018) bzw. im Mai 2019 zwei mit ihr in Verbindung stehende Personen beim versuchten Eindringen in das türkische Parlament in Ankara festgenommen (DS 15.5.2019). Eine im Frühjahr 2019 durchgeführte Operation gegen die DHKP-C warf die Frage auf, ob die Gruppe noch im Land aktiv ist. Zu den Verhafteten der Operation am 26.2.2019 gehörten Ümit Ilter, der Generalsekretär der DHKP-C, und Caferi Sadik Ero?lu, der Anführer der DHKP-C in der Türkei. Nach den Verhaftungen sah Innenminister Süleyman Soylu die Präsenz der DHKP-C in den ländlichen Gebieten der Türkei als ausgelöscht (Anadolu 2.3.2019).

Rechtsschutz/Justizwesen

Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019, vgl. PACE 24.1.2019). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Türkei verzeichnet weiterhin eine schwere Rückwärtsentwicklung hinsichtlich des Funktionierens des Justizwesens. Die Bedenken bezüglich der Unabhängigkeit der türkischen Justiz, die unter anderem auf die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch von 2016 zurückzuführen ist, bleiben bestehen (EC 29.5.2019, vgl. USDOS 13.3.2019). Obgleich Richter gelegentlich immer noch gegen die Regierung entscheiden, haben sowohl die Ernennung von tausenden neuen, regierungstreuen Richtern als auch die potenziellen beruflichen Konsequenzen für ein Urteil gegen die Interessen der Exekutive in einem größeren Rechtsfall sowie die Auswirkungen der laufenden Säuberung die Unabhängigkeit der Justiz insgesamt stark geschwächt (FH 4.2.2019).

Die Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems trug zu den Bedenken bei, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden. Die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz ist nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) zu stärken. An der Einrichtung der Friedensrichter in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i), die zu einem parallelen System werden könnten, wurden keine Änderungen vorgenommen (EC 29.5.2019). Das Europäische Parlament (EP) verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind (EP 13.3.2019).

Die Entlassung von mehr als 4.800 Richtern und Staatsanwälten führt auch zu praktischen Problemen, da für die notwendigen Nachbesetzungen keine ausreichende Zahl an entsprechend ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung steht (Erfordernis des zweijährigen Trainings wurde abgeschafft). Die im Dienst verbliebenen erfahrenen Kräfte sind infolge der Entlassungen häufig schlichtweg überlastet. In einigen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonierten Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa denjenigen betreffend Terrorismusvorwürfe, leidet die Qualität der Urteile häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und oberflächlicher Beweisführung (ÖB 10.2019).

Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Art. 138 der Verfassung regelt die Unabhängigkeit der Richter (AA 14.6.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die EU-Delegation in der Türkei kritisiert jedoch, dass diese Verfassungsbestimmung durch einfach-rechtliche Regelungen unterlaufen wird. U.a. sind die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2019). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert (AA 14.6.2019).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi) (ÖB 10.2019). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 14.6.2019).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde in der Hauptsache auf Strafkammern übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen (ÖB 10.2019). Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (EC 29.5.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019). Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2019).

Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Auch andere höhere Gerichte werden von untergeordneten Instanzen der Rechtsprechung ignoriert. Entgegen dem Urteil des Obersten Kassationsgerichtes bestätigte im November 2019 ein untergeordnetes Gericht in Istanbul seine Verurteilung von zwölf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, denen unterschiedliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen wurden (AM 21.11.2019).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Beweisanträge dazu werden zurückgewiesen. Insgesamt kann – jedenfalls in den Gülenisten-Prozessen – nicht von einem unvoreingenommenen Gericht und einem fairen Prozess ausgegangen werden (AA 14.6.2019).

Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 13.3.2019). So wird gegen Anwälte strafrechtlich ermittelt, sie werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft. Die Gerichte beteiligen sich an diesem Angriff gegen die Anwaltschaft, indem sie die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilen. Die Beweislage hierbei ist meist dürftig und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Dieser Missbrauch der Strafverfolgung gegen Anwälte wurde von Gesetzesänderungen begleitet, die das Recht auf Rechtsbeistand für diejenigen untergraben, die willkürlich wegen Terrorvorwürfen inhaftiert wurden (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 gibt es eine Verhaftungskampagne, die sich gegen Anwälte im ganzen Land richtet. In 77 der 81 Provinzen der Türkei wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und 599 Anwälte festgenommen. Bisher wurden 321 Anwälte wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (CCBE 1.9.2019).

Nach Änderung des Antiterrorgesetzes vom Juli 2018 soll eine in Polizeigewahrsam (angehaltene) befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer U-Haft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung der Polizeigewahrsam ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, z.B. bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal, zu je vier Tagen, möglich, insgesamt daher maximal zwölf Tage Polizeigewahrsam. Während des Ausnahmezustandes waren es bis zu 14 Tagen, mit einmaliger Verlängerung nach sieben Tagen. Die maximale U-Haftdauer beträgt gem. Art. 102 (1) der türkischen Strafprozessordnung (SPO) bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, ein Jahr. Aufgrund von besonderen Umständen kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) SPO beträgt die U-Haftdauer höchstens zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (A??r Ceza mahkemeleri) fallen (Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen). Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden (insgesamt maximal drei Jahre). Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz 3713 betreffen, beträgt die maximale U-Haftdauer höchstens sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Diese Gesetzesänderung erfolgte mit dem Dekret 694 vom 15.08.2017, das am 1.2.2018 zu Gesetz Nr. 7078 wurde (Art. 136) (ÖB 10.2019).

Wesentliche Regelungen der Dekrete des Ausnahmezustandes wurden in die reguläre Gesetzgebung überführt. So wurden z.B. Teile der Notstandsvollmachten auf die Provinzgouverneure übertragen, die vom Staatspräsidenten ernannt werden (AA 14.6.2019). Das nach Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 angenommene Gesetz Nr. 7145 sieht keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen. Entlassene Akademiker haben selbst nach Wiedereinsetzung nicht mehr die Möglichkeit, an ihre ursprüngliche Universität zurückzukehren (ÖB 10.2019).

Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR. Bis Mai 2019 wurden 126.000 Anträge eingebracht. Davon bearbeitete die Kommission bislang 70.406. Lediglich 5.250 Personen wurden wiedereingesetzt. Die Kommission wies 65.156 Beschwerden ab, 55.714 Beschwerden sind weiter anhängig (ÖB 10.2019).

Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen. Den Beschwerdeführern fehlt es an Möglichkeiten, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. Umgekehrt verwendet die Kommission schwache Beweise zur Aufrechterhaltung der Entlassungsentscheidungen. Herangezogen werden oftmals rechtmäßige Handlungen der Betroffenen als Beweis für rechtswidrige Aktivitäten (Interaktionen mit Banken, Wohltätigkeitsorganisationen, Medien etc.). Es besteht eine Beweislastumkehr. Die Betroffenen müssen widerlegen, dass sie Verbindungen zu verbotenen Gruppen hatten. Irrelevant ist, dass die getätigten Handlungen zum Zeitpunkt ihrer Vornahme legal waren. Die Wartezeiten bis zur Entscheidung der Berufungsverfahren reichten bislang von vier bis zehn Monaten, während viele entlassene Beschäftigte im öffentlichen Sektor noch keine Antwort der Kommission erhielten, obwohl sie ihre Anträge vor über einem Jahr eingereicht haben. Die Kommission ist an keine Fristen für Entscheidungen gebunden (AI 25.10.2018, vgl. ÖB 10.2019).

Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert (ÖB 10.2019).

Vorwürfe über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Strafanstalten sowie das Fehlen einer adäqaten Untersuchung dieser Vorwürfe geben weiterhin Anlass zu großer Sorge (HRW 17.1.2019, vgl. EC 29.5.2019). Solche Vorwürfe gab es seit Ende des offiziellen Besuchs des UN-Sonderberichterstatters zu Folter im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur PKK zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu nötigen, andere zu belasten (OHCHR 27.2.2018, vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018, vgl. EC 29.5.2019).

Laut Menschenrechtsinstitutionen seien Fälle von Folterungen und rechtswidrigen Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden. Zudem mehrten sich Berichte über Entführungen von Personen und die Existenz informeller Anhaltezentren, in denen es auch zu Fällen von Folter komme. Vertreter des Europarates in Ankara konnten die Existenz solcher Anhaltezentren jedoch nicht bestätigen. Folter bleibt, insbesondere wegen der Abschaffung von Garantien im Zuge des Ausnahmezustands sowie wegen der Nichtdurchführung von effektiven Untersuchungen, in vielen Fällen straflos, wenngleich es vereinzelt Anklagen und Verurteilungen gibt. Von systematischer Anwendung der Folter kann nach hiesigem Wissensstand dennoch nicht die Rede sein (ÖB 10.2019).

Gemeinsame Recherchen des ZDF-Magazins Frontal 21 und acht internationaler Medien, koordiniert von dem gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm, bei dem der Geheimdienst M?T nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF11.12.2018, vgl. Correctiv 11.12.2018, Ha’aretz 11.12.2018). Laut einem Bericht der Tageszeitung Cumhuriyet soll eine Frau wegen Terrorismus inhaftiert worden sein. Die Frau behauptete bei einer Anhörung am 5.2.2019, dass sie sechs Monate lang in einem geheimen Zentrum in Ankara gefoltert wurde, welches vom türkischen Geheimdienst M?T betrieben wird (IPA 14.6.2019). Der Vorfall führte im März 2019 zu einer diesbezüglichen parlamentarischen Anfrage im Europaparlament an die Europäische Kommission (EP 11.3.2019).

Während nach Angaben des türkischen Menschenrechtsverbandes (?HD) 2017 insgesamt 2.682 Menschen Folter und Misshandlungen laut Meldungen ausgesetzt waren (?HD 6.4.2018), stieg diese Zahl 2018 auf insgesamt 2.719 Personen. Hiervon gaben 1.149 Personen an, dass sie in Gefängnissen gefoltert und misshandelt wurden (?HD 16.4.2019).

Berichte über Folter und Misshandlungen hielten auch 2019 an. So wurden infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa beispielsweise 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Rechtsbeistände und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der erwachsenen Inhaftierten in der Gendarmerie-Wache von Bozova Yaylak in der Provinz Urfa von Angehörigen der Polizei gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen im Zuge einer Razzia verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019, vgl. WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung XXXX berichtete auf der Basis von Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elaz?? durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden. Statt auf Beschwerden gegen das Wachpersonal Untersuchungen vorzunehmen, wurden gegen 40 Häftlinge Untersuchungen wegen Disziplinarverstöße eingeleitet (SCF 19.8.2019).

Wehrdienst

In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Januar des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden. Türkische Staatsbürger, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Ausland haben, sind ab dem Jahr, in dem sie 19 Jahre alt werden, bis zum Ende des Jahres, in dem sie 38 Jahre alt werden, verpflichtet, der Einberufung zu folgen. Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird weiter durch das Los bestimmt (ÖB 10.2019).

Am 25.6.2019 trat ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wird von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Gemäß dem neuen Gesetz müssen männliche türkische Staatsbürger im Alter von über 20 Jahren (bis 41) eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren. Von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes können sie sich unter Zahlung von 31.000 Lira (ca. 4.755 €) freikaufen. Männer, die gerade ihren Wehrdienst ableisten, haben die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Über 100.000 Soldaten werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes vorzeitig entlassen [da sie bereits sechs oder mehr Monate gedient haben], während etwa 460.000 Männer berechtigt sind, sich frei zu kaufen. Das Gesetz sieht überdies vor, dass Wehrpflichtige nach den sechs Monaten ihren Militärdienst freiwillig gegen ein monatliches Gehalt von 2.000 Lira verlängern können. Leisten die Betreffenden ihre zusätzlichen sechs Monate in den südöstlichen und östlichen Provinzen wie Gaziantep, ??rnak und Hakkari ab, erhalten sie zusätzlich monatlich 1.000 Lira. Der Staatspräsident ist befugt, die Dauer der Wehrpflicht zu ändern, wobei die gegebenen sechs Monate nicht unterschritten werden dürfen (HDN 25.6.2019, vgl. DS 25.6.2019, IPA News 26.6.2019). Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteure sind von der neuen Regelung ausgeschlossen (Connection e.V. 11.7.2019).

Die Freikaufsregelung bzw. Ableistung eines stark verkürzten Militärdienstes gegen die Zahlung eines Geldbetrages wird im neuen Rekrutierungsgesetz (Kanun 7179) für zwei Gruppen neu gefasst: Artikel 9 definiert unter der Bezeichnung "Bezahlter Militärdienst" die Regelungen für türkische wehrpflichtige Staatsbürger, die in der Türkei leben; Artikel 39 definiert unter der Bezeichnung „Militärdienst mit Devisenzahlung“ (Dövizle Askerlik) Regelungen für türkische wehrpflichtige Staatsbürger, die auf Dauer im Ausland leben bzw. die eine doppelte Staatsbürgerschaft haben. Mit dem neuen Gesetz ist die Freikaufsumme nun auch in Höhe von 31.000 Türkische Lira nach dem jeweiligen Devisenkurs vom 1.1. des Jahres zu zahlen, und zwar auf einmal (Connection e.V. 11.07.2019). Es gibt keine Altersbegrenzung für die Zahlung. Es ist auch kein Militärdienst in der Türkei abzuleisten. (Connection e.V. 11.7.2019, vgl. MFA-NL 11.7.2019). Jedoch müssen im Ausland lebende Wehrpflichtige einen Online-Kurs beim türkischen Verteidigungsministerium absolvieren, bevor sie sich freikaufen können (MFA-NL 11.7.2019, vgl. ÖB 10.2019).

Es wurden keine Änderungen am militärischen Disziplinarsystem oder an den medizinischen Vorschriften vorgenommen, die Homosexualität als "psychosexuelle Störung/Krankheit" definieren. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (EC 29.5.2019). Transsexuelle, Transvestiten und Homosexuelle konnten unter der Bezeichnung „psycho-sexuelle Störungen“ nach Vorsprache bei der Wehrdienstbehörde und Untersuchungen vom Militärdienst befreit werden. Im Gesundheitsgesetz der türkischen Streitkräfte vom 12.11.2015 wird Homosexualität wie folgt beschrieben: „Sexuelle Verhaltensweisen und Einstellungen, die im militärischen Umfeld die Harmonie und Funktionalität beeinträchtigen könnten.“ Homosexualität führte daher im Grundsatz zur Wehrdienstuntauglichkeit, die jedoch bis zum gescheiterten Putschversuch vom 15.7.2016 durch ärztliches Gutachten in Militärkrankenhäusern festgestellt werden musste. In Folge des gescheiterten Putschversuchs wurden alle militärischen Krankenhäuser geschlossen; das Personal wurde entweder verhaftet, entlassen oder in zivile Einrichtungen überführt. Die medizinische Versorgung der türkischen Streitkräfte obliegt seitdem dem türkischen Gesundheitsministerium, sodass die Untersuchungen seither durch den Familienarzt am Wohnort oder durch die nächstgelegene Gesundheitseinrichtung durchgeführt werden (AA 3.8.2018).

Neu hinzugekommen ist die Regelung, dass für türkische Doppelstaatsangehörige die Ableistung eines Grundwehrdienstes oder Wehrersatzdienstes außerhalb der Türkei nicht mehr anerkannt wird und damit die Dienstpflicht durch die Türkei als nicht erfüllt angesehen wird (ÖB 10.2019). Medienberichten zufolge erlitten einige Rekruten, die ihren Wehrdienst ableisteten, schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmord führten (USDOS 13.3.2019).

Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee

Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MFA-NL 11.7.2019). Es gibt keine Hinweise darauf, dass kurdisch-stämmige Rekruten alleine wegen ihrer Abstammung anders behandelt werden (VB 4.6.2019). Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen. Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019).

Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär, weder die kurdische, noch die alevitische Minderheit betreffend. Es existieren aber Einzelfälle (ÖB 10.2019). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer missbraucht, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. In einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto auf seinem Smartphone von Selahattin Demirta? hatte, dem inhaftierten Führer der pro-kurdischen HDP (MFA-NL 11.7.2019). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MFA-NL 11.7.2019, K24 10.5.2018).

Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion

Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor. Eine Person, die sich nicht zur Wehrpflicht meldet, gilt als Wehrdienstverweigerer und kann auf dieser Grundlage bestraft werden. Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçakç?l???), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (MFA-NL 11.7.2019).

Wehrdienstverweigerung bleibt strafbar und Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nach wie vor nicht möglich. Derzeit besteht für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen nur die Möglichkeit, eine Haftstrafe abzusitzen; danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden. Im März 2012 wurde erstmals ein Urteil des Militärgerichts von dem Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen vom Europäischen Gericht für Menschenrechte beeinflusst. Der angeklagte Wehrdienstleistende war nach fünf Monaten im Militärdienst geflohen und teilte seine Dienstverweigerung aus Gewissensgründen mit. Dieser wurde vom Militärgericht angeklagt, aber nicht wegen Wehrdienstverweigerung, sondern wegen Desertion zu zehn Monaten Haft verurteilt. Das Militärgericht nahm in seinem Urteil das erste Mal auf die Entscheidung des EGMR Bezug, welches die Rechte von Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen schützt (Art. 9 EMRK). Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Verweigerung der Anerkennung von Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen verurteilt (ÖB 10.2019).

Seit Änderung von Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Die Verjährungsfrist beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen (AA 14.6.2019).

Das türkische Gesetz zu Desertion definiert in Artikel 66 die Strafe für Desertion. Militärpersonal wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen einem und drei Jahren belegt: wenn die betreffende Person sich von ihrer Einheit oder ihrem Einsatzort ohne Urlaub für mehr als sechs Tage entfernt hat; oder wenn die betreffende Person nach einem absolvierten Urlaub nicht innerhalb von sechs Tagen zum Dienst zurückkehrt und keine Entschuldigung dafür hat. Die Strafe beläuft sich auf mindestens zwei Jahre Gefängnis, wenn die Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn die Person während des Dienstes desertiert; wenn die Person die Übertretung wiederholt. Artikel 67 definiert, dass Militärpersonal, das ins Ausland geflohen ist, mit drei bis fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann, und zwar nach einer Absenz von drei Tagen, falls die betreffende Person das Land ohne Erlaubnis verlässt. Die Strafe soll mindestens fünf Jahre betragen und auf bis zu zehn Jahre erhöht werden: wenn die ins Ausland geflohene Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn sie während des Dienstes desertiert; wenn sie die Übertretung wiederholt; oder wenn sie während einer Mobilisierung (im Falle eines Krieges) desertiert. Schließlich können desertierte Militärangehörige für Befehlsverweigerung angeklagt und bestraft werden. Für andauernden Ungehorsam in der Öffentlichkeit drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Wer andere Soldaten zum Ungehorsam anstiftet, kann mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden. Das im Rahmen des Ausnahmezustands erlassene Dekret 691 vom 2.6.2017 hält unter anderem fest, dass Soldaten, die sich mehr als drei Tage ohne offizielle Erlaubnis im Ausland aufhalten, als Deserteure betrachtet und entsprechend bestraft werden. Ein ins Ausland geflohener Deserteur muss mit einer Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von mindestens fünf Jahren rechnen. Eine Strafe von zehn Jahren ist jedoch auch möglich (SFH 22.3.2018).

Haftbedingungen

Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. Kritik an den Haftbedingungen gibt es vor allem hinsichtlich der Hochsicherheitsgefängnisse (Typ F). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem „Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter“ besucht. Zu den unbestreitbaren Problemen in den Haftanstalten zählen, insbesondere bedingt durch eine große Zahl an Verhaftungen nach dem Putschversuch 2016, die Überbelegung und die damit zusammenhängenden Probleme: unzulängliche Umsetzung der Bestimmungen über Gemeinschaftsaktivitäten, Beschränkungen des Briefverkehrs, nicht durchwegs ausreichende Gesundheitsversorgung etc. Die 353 Gefängnisse in der TR verfügen über eine Gesamtkapazität von 218.950 Plätzen. Die Zahl der Insassen betrug im Dezember 2018 260.000, dürfte aber seither noch mehr angestiegen sein (ÖB 10.2019). Die türkischen Gefängnisse waren in den letzten Jahren regelmäßig überfüllt (Nov. 2018: 118%; Nov. 2016: 104%). Diese landesweiten Durchschnittszahlen täuschen darüber hinweg, dass einzelne Gefängnisse deutlich stärker, bis zu 200%, überbelegt sind (AA 14.6.2019). Beispielsweise befanden sich in der Haftanstalt in Izmir laut Justizministerium durchschnittlich 18 Personen in einer Zelle, wobei einige auf dem Boden schlafen mussten, und sich 23 Häftlinge eine Toilette teilen mussten (Duvar 25.10.2019). Die Regierung bemüht sich jedoch mit ersten Erfolgen um Entlastung, indem die Kapazität der Haftanstalten gesteigert und Häftlinge in weniger belegte Gefängnisse verlegt werden (AA 14.6.2019).

Mit Stand Dezember 2018 befanden sich 57.000 Personen ohne Anklageerhebung in Haft bzw. in Untersuchungshaft, d.h. über 20% der Gesamtzahl der Gefängnisbevölkerung. Ebenfalls mehr als ein Fünftel aller Gefängnisinsassen, das sind rund 45.000 von mehr als einer viertel Million, befindet sich wegen terroristischer Anschuldigungen in Haft (EC 29.5.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die Bestimmungen über die Einzelhaft für Personen, die zu einer lebenslänglichen Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt wurden, sind nach wie vor in Kraft. Derartige Haftbedingungen dürfen nur über einen möglichst kurzen Zeitraum hinweg angeordnet werden, wobei eine individuelle Risikobewertung in Bezug auf den jeweiligen Häftling vorzunehmen ist (ÖB 10.2019).

Gegenwärtig befinden sich über 740 Kindern im Alter von sechs oder weniger Jahren mit ihren Müttern in Haft (DW 23.6.2019, vgl. EC 29.5.2019). Das türkische Strafgesetzbuch sieht unterdessen vor, dass Haftstrafen für Mütter mit Kindern unter sechs Monaten ausgesetzt werden. Diese Regel gilt jedoch nicht, wenn Personen wegen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden (DW 23.6.2019).

In den Gefängnissen gibt es zahlreiche Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte von Gefangenen und die Anwendung von Folter, Misshandlung und Einzelhaft als Disziplinarmaßnahmen (EC 29.5.2019, vgl. HRW 17.1.2019). Fallweise untersuchen die Behörden glaubwürdige Vorwürfe von Missbrauch und unmenschlichen oder erniedrigenden Bedingungen in den Haftanstalten, veröffentlichen die Ergebnisse solcher Untersuchungen jedoch in der Regel nicht und ergreifen keine Maßnahmen, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen (USDOS 13.3.2019). In Gesuchen, die 2018 aus Gefängnissen an die türkische Menschenrechtsvereinigung ?HD geschickt wurden, gaben 1.149 Personen an, dass sie in verschiedenen Gefängnissen Folter und Misshandlung ausgesetzt waren (?HD 19.4.2019).

Laut Berichten wird kranken Insassen regelmäßig der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt. Im Jahr 2018 gingen bei der Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten 877 Beschwerden über Folter und Misshandlung ein. Bis Dezember 2018 wurden rechtliche und administrative Maßnahmen gegen 543 Mitarbeiter ergriffen. Die Gefängnisaufsichtsbehörden bleiben jedoch weitgehend ineffizient. Besorgniserregend ist auch der mangelnde Zugang zivilgesellschaftlicher Organisationen zu den Gefängnissen. Da der nationale Präventionsmechanismus nicht voll funktionsfähig ist, gibt es keine Kontrollaufsicht hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen (EC 29.5.2019).

Todesstrafe

Die Türkei schaffte 2004 die Todesstrafe für alle Straftaten ab. Die letzte Hinrichtung erfolgte 1984 (AI 7.2018). Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019).

Ethnische Minderheiten

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei - primär über die Religion definierten - nicht-muslimischen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Azeris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 13.3.2019).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 6 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner) (AA 3.8.2018). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (wengier als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018).

Bis heute gibt es im

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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