Entscheidungsdatum
26.02.2021Norm
AsylG 2005 §55Spruch
W272 1248996-2/5E
IM NAMEN DER RUPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland, vom 21.12.2020, Zahl XXXX zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gem. Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig, reiste spätestens am 31.08.2003 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Verfahren wurde zunächst eingestellt, da der BF abgängig war. Der BF gab zunächst eine Aliasidentität an. Mit Überstellung durch die französischen Behörden stellte der BF wiederum nunmehr am 25.03.2004 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz.
2. Bei seiner Befragung am 25.03.2004 vor dem Bundesasylamt, gab er im Wesentlichen zunächst an, dass seine Muttersprache Russisch sei. Er gehöre der tschetschenischen Volksgruppe an, sei Moslem und verheiratet. Im Heimatland befinde sich seine Eltern und sieben Geschwister. Er habe in XXXX 10 Jahre die Grundschule besucht und danach fünf Jahre ein College in XXXX . Danach habe er von 1997 bis 2000 selbständig als LKW-Chauffeur gearbeitet. Als Fluchtgrund gab er im Wesentlichen an, dass er eines Tages im Jahr 2003 als LKW-Fahrer von den russischen Soldaten aufgehalten worden sei. Diese seien betrunken gewesen und hätte ihn verdächtigt Waffen zu liefern. Er habe jedoch nicht sein Ladegut, welches Ziegeln gewesen seien, zeigen können. Man habe ihn einen Sack über den Kopf gezogen und hätte ihn woanders hingebracht. Dort sei er geschlagen worden. Am nächsten Tag habe er drei Blankozetteln unterschreiben müssen, wobei nicht die russischen Soldaten schlimm seien sondern die Söldner. Einer der Soldaten sei ein Deserteur gewesen und habe ihm mitgeteilt, dass er die Familie des BF informiert habe. Diese sei zur Polizei gegangen. Am vierten Tag sei die Polizei gekommen, die Soldaten hätten in die Luft geschossen und der BF sei schließlich gegen 14.00 freigekommen. Der Leiter der Bezirksabteilung für innere Angelegenheiten habe gewusst, dass der BF nur seine Familie ernähre und nichts mit dem Widerstand zu tun habe. Die Soldaten seien wiedergekommen und haben den BF verdächtigt Munition geladen zu haben. Er sei nicht verhaftet oder inhaftiert gewesen, kein Mitglied einer Partei, keine Verfolgung aufgrund religiöser Gründe. Er befürchte, dass die russischen Soldaten ihn fassen und ihn töten werden. Er sei so spät geflüchtet, da er der Älteste gewesen sei und sein Vater schon alt gewesen sei.
2. Bescheid des Bundesasylamtes vom 31.03.2004 wurde der Asylantrag vom 31.08.2003 gem. § 7 AsylG 1997 abgewiesen. Die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 8 AsylG als nicht zulässig erklärt. Gem. § 15 Abs. 1 iVm § 15 Abs. 3 AsylG 1997 wurde dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 31.03.2005 erteilt. Begründet wurde die Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der BF die Gründe für das Verlassen seiner Heimat nicht glaubhaft vorbringen konnte. Aufgrund des anhaltenden Bürgerkrieges in Tschetschenien sei jedoch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation nicht zulässig. Dagegen brachte der BF mit Schreiben vom 13.04.2004 Berufung ein. Die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung erfolgte mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.04.2005 bis zum 31.03.2006, mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.04.2006 bis zum 31.03.2007, mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 19.04.2007 bis zum 30.04.2008 und mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.05.2008 bis zum 30.04.2009.
3. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 19.09.2008, GZ B14 248.996-0/2008/16E wurde der Beschwerde stattgegeben und gemäß § 7 AsylG dem BF Asyl gewährt. Weiters wurde festgestellt, dass der BF gem. § 12 leg cit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Begründet wurde die Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der BF aufgrund eines ihm im Lauf einer willkürlichen Festnahme, im Zuge derer er körperliche Übergriffen ausgesetzt war, seitens der Sicherheitsbehörden unterstellten Waffenbesitzes ins Blickfeld der russischen Behörden geraten war und aufgrund dessen in asylrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sein wird.
4. Mit Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau, 36 Hv 29/16i, vom 12.07.2016 wurde der BF wegen dem Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 269 Abs. 1 1 Fall StGB, dem Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB, dem Vergehen der schweren Sachbeschädigung nach §§ 125, 126 Abs. 1 Z 5 und 7 StGB, dem Vergehen der Gefährdung der körperlichen Sicherheit nach § 89 StGB und dem Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 10 Monaten verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.
5. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Zwettl, 9C 42/16g-13, vom 18.01.2017 wurde die Ehe des BF aus dem gleichteilige Verschulden der Streitteile geschieden.
6. Mit Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau, 16 Hv 103/16z, vom 27.03.2017 wurde der BF wegen dem Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, dem Vergehen der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs. 1 StGB und dem Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf (5) Monaten verurteilt. Eine dagegen erhobene Berufung wegen Nichtigkeit wurde durch das Oberlandesgericht, 23 Bs 272/17v vom 11.01.2018, zurückgewiesen und jene wegen Schuld und Strafe nicht Folge geleistet.
7. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 01.07.2019 gab der BF im Wesentlichen an, dass er geschieden sei und acht Kinder habe, welche in alle in Österreich leben. Er habe auch weitere Verwandte in Österreich, wie Schwager, Schwägerin und Neffen und Nichten. In Österreich arbeite er als LKW-Fahrer. Weiters vorgelegt wurden:
? Kursteilnahme „Modulares Deutschlerncenter-Level A1 vom 16.12.2015
? Kursbestätigungen Weiterbildung C/D95, Modul 1, 2, 3, 4, 5
? Bescheinigungen über Weiterbildung gem. § 19b GütbefG/§14c GelverkG/§ 44 c KflG
? Ausbildungspläne Deutschcenter St. Pölten 2015 Level-A1, Level 2
? Kursbestätigung Deutschkurs (leicht Fortgeschrittene)
Dem BF wurde mitgeteilt, dass ein Aberkennungsverfahren aufgrund geänderter Umstände eingeleitet wurde. So gab er weiters an, dass in seiner Heimat noch seine Geschwister und Eltern leben, zu denen er auch Kontakt hat. Er sei Mitglied in einem Fitnessclub und habe österreichische Freunde in Krems. Zur Rückkehr befürchtet er, dass er leere Blätter unterschreiben musste und nicht wisse, was hier hinzugefügt worden war. Seine Geschwister hätten ihm mitgeteilt, dass nach ihm noch immer gesucht werde. In Russland wäre alles gleich, unschuldige Menschen würden inhaftiert werden. Eine weitere Stellungnahme gab er nicht ab.
8. Mit dem gegenständlichen Bescheid vom 21.12.2020 wurde dem Beschwerdeführer der am 19.09.2008 zuerkannte Status des Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 (im Folgenden: AsylG) aberkannt und gem. § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde dem Beschwerdeführer gem. § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung wurde gem. § 52 FPG und § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt. Es wurde dem BF gem. § 58 Abs. 2 und 3 iVm § 55 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung gem. § 55 Abs. 2 AsylG erteilt. Die Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der BF nicht mehr, wie vom Asylgerichtshof festgestellt, aufgrund der unwahren Unterstellung von Transport von unerlaubten Waffen, in das Blickfeld der Sicherheitsbehörden geraten werde. Auch sonstige Gründe einer asylrelevanten Verfolgung sind mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit nicht gegeben. Es ist dem BF möglich sich auch außerhalb der tschetschenischen Republik in der Russischen Föderation niederzulassen. Die Zuerkennung des Status als Asylberechtigter war vor mehr als fünf Jahren, der BF wurde jedoch strafrechtlich verurteilt. Dem BF sind nicht die notdürftigen Lebensgrundlagen entzogen. Es bestehe keine Gefährdung im Sinne des § 8 AsylG. Aufgrund der besonderen privaten und familiären Anknüpfungspunkte in Österreich wäre eine Rückkehrentscheidung ein Eingriff, der nicht gerechtfertigt erscheint.
9. Mit Schriftsatz vom 12.01.2021 erhob der Beschwerdeführer das Rechtsmittel der Beschwerde ausschließlich gegen Spruchpunkt I. bis III. des gegenständlichen Bescheides. Der BF bringt im Wesentlichen vor, dass sich die Behörde nicht ausreichend mit dem ursprünglichen Asylgrund und deren Zuerkennung befasst hat. Weiters hätte sich die Behörde auch mit der derzeitigen Lage befassen müssen und wäre daher zu einer anderen Entscheidung gekommen. Die Behörde habe es auch unterlassen festzustellen, welche strafrechtlichen Delikte der BF begangen habe und es sei daher nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass die Bestimmungen des § 7 Abs. 3 AsylG anwendbar sei. Weiters habe sich aufgrund der aufgeflammten Konflikte im Nordkaukasus und der COVID-19 Pandemie die Situation verschärft. Da dem BF im gesamten Gebiet der Russischen Föderation Verfolgung drohe sei ein innerstaatliche Fluchtalternative nicht möglich. Der BF beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
10. Am 23.02.2021 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG. Vorgelegt wurde:
? Empfehlungsschreiben von XXXX
? Empfehlungsschreiben der Bewährungshilfe Neustart vom 16.02.2021
? Ausländischer Reisepass der Russischen Föderation
Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des Vorverfahrens zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente und Schriftstücke, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister, sowie der mündlichen Verhandlung, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX ist am XXXX geboren, Staatsangehöriger der Russischen Föderation sowie Zugehöriger der Volksgruppe der Tschetschenen.
Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2002 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf Asyl, dem mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 31.03.2004 wurde der Antrag gem. § 7 AsylG abgewiesen und die Abschiebung in die Russische Föderation gem. § 8 Abs. 1 AsylG für nicht zulässig erklärt. Der BF erhielt eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 31.03.2005. Die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung erfolgte bis zum 30.04.2009.
Aufgrund einer eingebrachten Beschwerde und nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschied der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 19.09.2008, Zahl B14 248.996-0/2008/16E, dass der Beschwerde stattgegeben wird und der BF gem. § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt wird. Gem. § 12 leg cit wurde festgestellt, dass der BF damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Festgestellt wurde, dass der BF aufgrund eines ihm im Laufe einer willkürlichen Festnahme, im Zuge derer er körperlichen Übergriffen ausgesetzt war, seitens der Sicherheitsbehörden unterstellten Waffenbesitzes ins Blickfeld der russischen Behörden geraten war und daher einer Gefahr asylrechtlicher Verfolgung ausgesetzt ist.
Der BF wurde zweimal strafrechtlich verurteilt.
Die erste Verurteilung erfolgte am 12.07.2016 durch das Landesgericht Krems an der Donau, 36 Hv 29/16i. Der BF hat am 21.04.2016 in Krems als Lenker eines PKW zwei Beamten der Sicherheitsbehörde mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich der Anhaltung wegen Fahrerflucht gehindert und dadurch das Vergehen des Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach § 269 Abs. 1 1.Fall StGB begangen, indem er ihr Fahrzeug zweimal mit seinem PKW rammte, wobei er mit der rechten Längenseite seines PKW am Polizeifahrzeug anstieß bzw. 10 Minuten später mit der linken Frontseite seines PKW am rechten Kotflügel des Polizeifahrzeuges anstieß, wodurch dieses gedreht und einige Meter mitgezogen wurde.
Er durch diese beschriebenen Tathandlungen versucht hat, die Beamten während oder wegen der Vollziehung ihrer Aufgaben oder Erfüllung am Körper zu verletzen und dadurch das Vergehen der versuchten Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB begangen hat.
Durch diese beschriebene Tathandlung eine fremde Sache, nämlich das Polizei-Einsatzfahrzeug VW-Sharan der Autobahninspektion Krems, sohin einen wesentlichen Bestandteil der kritischen Infrastruktur (§ 74 Abs. 1 Z 11 StGB) unbrauchbar gemacht hat, wodurch er einen 5.000 € übersteigenden Schaden in der Höhe von zumindest 22.000 € herbeiführte und daher das Vergehen der schweren Sachbeschädigung nach §§ 125, 126 Abs. 1 Z 5 und 7 StGB begangen hat.
Sowie zumindest grob fahrlässig (§ 6 Abs. 3) nachdem er sich vor der Tat, wenn auch nur fahrlässig, durch Genuss von Alkohol in einen die Zurechnungsfähigkeit nicht ausschließenden Rauschzustand versetzt, obwohl er vorgesehen hat oder hätte vorhersehen können, dass ihm eine Tätigkeit bevorstehe, deren Vornahme in diesem Zustand eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit eines anderen herbeizuführen geeignet sei, eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer, insbesondere die der ihn verfolgenden Polizisten herbeigeführt, indem er mit einem Blutalkoholgehalt von 1,1 Promille als Lenker seines Fahrzeuges die beschriebenen Tathandlungen mit weit überhöhter Geschwindigkeit im Ortsgebiet von Krems an der Donau von der B 37 in die B 35 trotz Rotlichtes bei der Verkehrsampel nach rechts abbog und auf der B 35 Richtung Stadtzentrum fuhr und trotz Rotlichtes nach links in die Hafenstraße einbog und dadurch das Vergehen der Gefährdung der körperlichen Sicherheit nach § 89 StGB begangen.
Weiters hat der BF in 3910 Zwettl XXXX gefährlich mit zumindest einer Verletzung am Körper bedroht um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen und zwar am 13.04.2016 indem er sie an den Armen packte, an den Haaren riss, sie schüttelte und anschrie sowie ankündigte, dass sie tot sei, wenn sie die Polizei rufe und dadurch das Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB begangen hat.
Der BF wurde zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 10 Monaten, unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen, verurteilt. Erschwerend waren die mehreren Tathandlungen und die Art der Vorgehensweise, mildernd die Unbescholtenheit. Als erwiesene angenommene Tatsache war auf objektiver Seite der Sachverhalt und auf subjektiver Seite in Kenntnis unter dem Punkt Sachverhalt geschilderten Sachverhaltes wollte der BF diese auch verwirklichen.
Die zweite Verurteilung erfolgte durch das Landesgericht Krems an der Donau am 27.03.2017, 16 Hv 103/16z, indem der BF eine andere Person im Zuge einer Auseinandersetzung die Treppe hinuntergeschmissen und gebissen zu haben, wodurch der Andere eine Rissquetschwunde an der Augenbraue, einen Bruch der sechsten Rippe, eine Prellung der Hand, einen Biss an der Schulter und eine Hautabschürfung am Brustkorb, mithin eine leichte Körperverletzung erlitt. Weiters mit einer anderen Person nach der genannten Tat im bewussten und gewollten Zusammenwirken versucht hat, die vorhergehende Person durch Schläge zu verletzen, sowie der BF eine fremde Sache, nämlich einen Laptop durch hinschlagen zerstört hat, wodurch ein Schaden von 200,- € entstanden ist. Der BF hat dadurch das Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs. 1 StGB und das Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB begangen und wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Mildernd galt der teilweise Versuch und erschwerend das Zusammentreffen dreier Vergehen, die Tatbegehung innerhalb offener Probezeit, den raschen Rückfall und eine einschlägige Vorstrafe. Daher sah das Gericht auch eine unbedingte Freiheitsstrafe als tat- und schuldangemessen.
Eine dagegen erhobene Berufung wegen Nichtigkeit wurde mit Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 11.01.2018, 23 Bs 272/17v zurückgewiesen und jener wegen Schuld und Strafe nicht Folge gegeben. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass gerade der rasche Rückfall innerhalb offener Probezeit in einschlägiger Deliquenz einer positiven Prognoseentscheidung entgegensteht, sodass das Erstgericht nachvollziehbar eine bedingte Strafnachsicht ausschloss.
Mit gegenständlichen Bescheid erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Status eines Asylberechtigten im Rahmen eines Statusaberkennungsverfahren ab und erkannte keine Status als subsidiär Schutzberechtigter zu. Auch einen Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG wurde dem BF nicht zuerkannt. Der BF erhielt jedoch eine Aufenthaltsberechtigung nach § 55 Abs. 2 AsylG. Es stellte fest, dass es keine Hinweise auf eine treffende Gefährdungs- oder Bedrohungslage in seinem Herkunftsstaat gebe, zumal die Gründe, die zur Gewährung des Status geführt hätten, nicht mehr gegeben seien.
Die Beschwerde richtete sich ausdrücklich auf die Spruchpunkte I. bis III. und nicht gegen die Gewährung der Aufenthaltsberechtigung.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer hat Arbeits- bzw. Berufserfahrung in Österreich und in der Russischen Föderation.
Der BF ist in Tschetschenien aufgewachsen, ging dort zur Schule, erhielt eine Berufsausbildung und kennt die tschetschenische Kultur, sowie die kulturellen und sozialen Gegebenheiten in der Russischen Föderation.
Der BF war in seinem Herkunftsstaat kurz festgenommen. Der BF kämpfte nicht für den tschetschenischen Widerstand im zweiten Tschetschenienkrieg oder unterstützte diesen.
Der BF hat noch Verwandte in Tschetschenien. Die Verwandten des BF werden in der Russischen Föderation nicht verfolgt.
Der BF ist ledig und hat Obsorgeverpflichtungen gegenüber seinen Kindern. Er war mit einer tschetschenischen Frau verheiratet. Diese Frau lebt in Österreich.
Der BF hat eine kurze Beziehung zu einer tschetschenischen Frau, welche er heiraten will. Sie leben in keinen gemeinsamen Haushalt.
Der BF spricht Tschetschenisch, Russisch, und Deutsch.
Der BF lebte in Österreich und ist zurzeit arbeitslos.
Der BF kritisiert nicht die Anhänger des derzeitigen Präsidenten XXXX öffentlich und trat auch nicht gegen diesen auf.
1.2 zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:
Die Umstände, aufgrund deren der BF als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Die Umstände für die Zuerkennung von Asyl und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben sich wesentlich geändert.
Es wird festgestellt, dass der BF im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation aus Gründen der Volksgruppenzugehörigkeit, der Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter keiner Gefährdung ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass er konkret Gefahr liefe, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Es wird festgestellt, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in keine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Die Verwandten des BF in der Russischen Föderation könnten ihn nach einer Rückkehr im Bedarfsfall anfänglich unterstützen.
Es ist dem BF möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien und des Föderationskreises Nordkaukasus niederzulassen und sich dort anzumelden. Die wirtschaftlich stärkeren Metropolen, wie Moskau und Regionen in Russland bieten trotz der derzeitigen Wirtschaftskrise und vorhandener Coronapandemie bei vorhandener Arbeitswilligkeit entsprechende Chancen auch für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken (Tschetschenien).
Es ist ihm möglich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können, bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Der BF hat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung. Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten in seinem Herkunftsland Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Da der BF keine gesundheitlichen Einschränkungen hat und keine Vorerkrankungen ist nicht davon auszugehen, dass der BF durch eine etwaige Erkrankung an das COVID-19 Virus eine schwere Erkrankung oder gar den Tod erleiden würde.
Der BF hat keine individuellen gefahrenerhöhenden Umstände aufgezeigt, die unter Beachtung seiner persönlichen Situation innewohnenden Umstände eine Gewährung von subsidiären Schutz auch bei einem niedrigen Grad willkürlicher Gewalt angezeigt hätte.
1.3. Zum Herkunftsstaat:
Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen (Auszug Gesamtaktualisierung am 27.03.2020 letzte Information am 21.07.2020).
2. Politische Lage
Letzte Änderung 21.07.2020
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).
Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
2.1. Tschetschenien
Letzte Änderung: 27.03.2020
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020; vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
3. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 27.03.2020
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
3.1. Nordkaukasus
Letzte Änderung: 27.03.2020
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).
Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
3.2. Tschetschenien
Letzte Änderung: 27.03.2020
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
4. Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 21.7.2020
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).
4.1. Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung: 27.03.2020
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).
Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).
Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben, und kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 12.2019). Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2019).
Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019; vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).
5. Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 27.03.2020
Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamten, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (USDOS 11.3.2020), Ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 4.3.2020).
Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, da