TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/2 W103 2218701-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.03.2021
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Entscheidungsdatum

02.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W103 2218701-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch XXXX , Rechtsanwalt in XXXX gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.03.2019, Zl. 1187933110-180371968, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie §§ 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 46, 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein volljähriger Staatsbürger der Russischen Föderation, stellte am 17.04.1018 den vorliegenden Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes, nachdem er zuvor illegal ins Bundesgebiet eingereist war. Anlässlich seiner am darauffolgenden Tag abgehaltenen niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer an, er gehöre der tschetschenischen Volksgruppe sowie dem islamischen Glauben an und habe zuletzt als Tankwart gearbeitet. Seine Eltern und volljährigen Geschwister hielten sich unverändert in Dagestan auf. Der Beschwerdeführer habe den Entschluss zur Ausreise Anfang März 2018 gefasst, er habe den Herkunftsstaat wenige Tage später legal unter Mitführung seines russischen Reisepasses verlassen und sei von der Ukraine schlepperunterstützt nach Österreich gereist.

Zum Grund seiner Flucht aus dem Herkunftsland führte der Beschwerdeführer aus, seine Probleme hätten im Jahr 2014 begonnen, als der Beschwerdeführer mit ein paar Freunden beim Grillen in der Natur gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe ein Loch in die Erde gegraben und sei durch eine Explosion verletzt worden. Anschließend sei er in ein Krankenhaus gekommen und er werde seither von der Polizei befragt und verfolgt. Durch Bezahlung größerer Geldsummen sei es ihm gelungen, dieses Problem vorübergehend zu lösen. Der Beschwerdeführer habe bei der Polizei eine Schuldanerkennung unterzeichnen müssen, obwohl er sich keiner Schuld bewusst gewesen sei. Am 04.03.2018, als der Beschwerdeführer auf dem Nachhauseweg von der Arbeit gewesen sei, habe die Polizei ihn anhalten wollen, er sei jedoch weggelaufen und zwei Tage später aus der Heimat geflüchtet. In Dagestan würden des Öfteren junge Männer von der Polizei grundlos entführt oder verhaftet werden. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, von der Polizei verschleppt zu werden. Zum Nachweis seiner Identität legte der Beschwerdeführer seinen russischen Führerschein vor.

Am 01.02.2019 wurde der Beschwerdeführer im zugelassenen Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Der Beschwerdeführer gab auf entsprechende Befragung hin zusammengefasst zu Protokoll, er sei gesund und stehe nicht in ärztlicher Behandlung, jedoch sei seine linke Hand Ende 2014 amputiert worden. Er fühle sich psychisch und physisch in der Lage, die an ihn gerichteten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten und er habe in der Erstbefragung der Wahrheit entsprechende Angaben erstattet, welche ihm korrekt rückübersetzt worden seien.

Der Beschwerdeführer legte seine russische Geburtsurkunde m Original inklusive einer Übersetzung ins Deutsche, einen im Juni 2018 im XXXX geschlossenen Ehevertrag sowie eine Bescheinigung über das Fehlen einer staatlichen Registrierung einer Eheschließung vor.

Der Beschwerdeführer sei praktizierender Moslem, welcher im Herkunftsstaat keine Probleme aufgrund seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit gehabt hätte. Er habe eine neunjährige Grundschulausbildung absolviert und habe zuletzt als Tankwart gearbeitet, bei seinen Eltern gewohnt und eine Invaliditätspension bezogen. Zuletzt habe er an einer näher benannten Adresse in Dagestan in seinem Elternhaus gelebt, wo sich seine Eltern unverändert aufhielten. Außerdem lebe sein Bruder mit seiner Frau und drei Kindern in diesem Haus. Seine Schwester sei ebenfalls verheiratet und habe Kinder. Zudem hielten sich seine gesamten weiteren Verwandten wie Tanten und Onkeln der Russischen Föderation auf. Zu seinen Angehörigen habe der Beschwerdeführer guten Kontakt. Diesen ginge es gut und es hätten sich keine Vorfälle ereignet.

Der Beschwerdeführer sei traditionell verheiratet, das genaue Datum der Eheschließung wisse er nicht mehr. Seine Frau habe er zwei Jahre zuvor über soziale Netze kennengelernt. Der Beschwerdeführer hätte einen im Dezember 2018 in Österreich geborenen Sohn, seine Frau und sein Kind hätten einen „positiven“ Aufenthaltsstatus. Der Beschwerdeführer wohne in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Frau und seinem Sohn. Weitere Angehörige habe der Beschwerdeführer nicht. Darauf angesprochen, dass seine Einreise nach Österreich Mitte April 2018 erfolgt und sein Sohn (bereits) im Dezember 2018 zur Welt gekommen sei, gab der Beschwerdeführer an, dieser sei früher auf die Welt gekommen. Auf Vorhalt, dass der Beschwerdeführer sich ebenso wie seine Frau des unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers habe bewusst sein müssen, erklärte der Beschwerdeführer, sie hätten sich zwei Tage nach seiner Einreise gesehen und „es sei passiert.“ Auf die Frage, wer sich um das Kind kümmere, gab der Beschwerdeführer an, seine Frau mache alles; er betreue das Kind, wenn seine Frau den Haushalt mache. Wer die Obsorge für den Sohn habe, wisse er nicht. Ob seine Frau je einer Beschäftigung in Österreich nachgegangen sei, wisse der Beschwerdeführer nicht genau, er glaube dies jedoch nicht. Er selbst und seine Frau würden staatliche Unterstützung beziehen und derart den Lebensunterhalt finanzieren. Seine Ehefrau und sein Sohn seien gesund.

Der Beschwerdeführer sei nie im Gefängnis gewesen, habe aber Probleme mit der Polizei im Herkunftsstaat gehabt, welche er in Zusammenhang mit seinen Fluchtgründen genau darlegen werde. Der Beschwerdeführer sei in der Russischen Föderation niemals politisch oder religiös tätig gewesen. Er sei am 04.03.2018 mit dem Bus von Dagestan nach Moskau gefahren, habe dort übernachtet und sei im Anschluss weiter nach Kiev gereist, wo er sich rund einen Monat lang mit seinem Bruder aufgehalten hätte. Sein Bruder habe dann einen Schlepper gefunden, welcher den Beschwerdeführer nach Österreich gebracht hätte, während der Bruder selbst nach Dagestan zurückgereist wäre. Die Reise nach Kiev sei legal erfolgt, der Beschwerdeführer habe an der Grenze seinen russischen Reisepass vorgewiesen und habe im Zuge der Kontrolle keine Probleme erlebt.

Zum Grund seiner Flucht führte der Beschwerdeführer aus, er sei an seinem Geburtstag im Dezember 2014 gemeinsam mit Freunden in den Wald gefahren, um zu grillen. Der Beschwerdeführer habe mit einer Schaufel ein Loch gegraben und sei auf etwas Hartes gestoßen; es sei zu einer Explosion gekommen, bei welcher dem Beschwerdeführer ein Teil seiner Hand abgerissen worden sei. Der Beschwerdeführer habe dann nichts sehen können, sei in ein Spital gebracht und operiert worden. Nach einem Monat im Spital sei ein Polizist zu ihm gekommen, welcher ihn gefragt hätte, was vorgefallen sei; der Polizist hätte dem Beschwerdeführer nicht geglaubt und diesen beschuldigt, selbst etwas eingegraben zu haben. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus habe der Beschwerdeführer zur Polizei gemusst und sei befragt worden. Die Polizisten hätten ihm weiterhin nicht geglaubt und ein Schuldeingeständnis, dass er Sprengstoff bei sich gehabt hätte, verlangt. Der Beschwerdeführer habe sehr schlecht sehen und das ihm zur Unterschrift vorgelegte Papier nicht genau lesen können. Die Polizisten hätten dem Beschwerdeführer gedroht, dass er das Kommissariat nicht verlassen werde, ehe er unterschrieben hätte. Sie hätten Druck ausgeübt und der Beschwerdeführer hätte das Dokument unterschrieben. Dann hätten sie ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Der Beschwerdeführer sei nach Hause gefahren und habe nach einiger Zeit einen Anruf erhalten, dass ein gerichtliches Verfahren gegen ihn laufe. Sie hätten einen Bekannten bei der Behörde gefunden und das Verfahren Anfang 2015 mit Geld geschlossen. Der Beschwerdeführer habe dann ganz ohne Probleme gelebt. Er habe bis Mitternacht gearbeitet und sei anschließend zu Fuß nach Hause gegangen. Einmal in der Nacht hätte ein Auto angehalten, aus dem ein Mann ausgestiegen sei, welcher den Beschwerdeführer gegrüßt und diesen auf Tschetschenisch um Hilfe ersucht hätte. Er hätte ihm ein Messer gegen den Hals gehalten und ihn gezwungen, sich hinzusetzen. Ein Nachbar habe dies beobachtet und der Beschwerdeführer habe entkommen können. Der Beschwerdeführer sei dann noch zwei Tage zu Hause gewesen, bevor er, wie geschildert, mit seinem Bruder weggefahren sei. Es seien maskierte Männer gewesen, es sei üblich, dass die Leute so handeln. Es würden Leute umgebracht, grundlos angehalten und beschuldigt werden. Wenn sie keine Beziehungen hätten, würden diese Leute verschwinden. Mit den Eltern hätten sie beschlossen, dass der Beschwerdeführer ausreise, so sei der Beschwerdeführer weggefahren. Weite Fluchtgründe habe er nicht. Ein Haftbefehl gegen seine Person bestehe nicht, auch seine Familie im Herkunftsstaat habe bisher keine Probleme. Der konkrete Grund seiner Ausreise sei der Vorfall mit dem Mann und Messer im März 2018 gewesen. Auf Vorhalt, dass sich der Vorfall mit der Explosion im Jahr 2014 ereignet hätte und gefragt, ob er eine Erklärung hätte, was man Jahre später von ihm gewollt habe, meinte der Beschwerdeführer, er wisse es nicht, es sei dies die übliche Vorgehensweise. Der Mann sei schwarz angezogen gewesen und habe eine Maske getragen, im Auto sei noch ein zweiter Mann gewesen. Der Mann habe ihn entführen wollen und gewollt, dass er sich ins Auto setze. Befragt, ob der Mann ansonsten nichts gesagt hätte, erklärte der Beschwerdeführer, es nicht mehr zu wissen. Nach einer möglichen Erklärung dafür gefragt, weshalb der Mann ihn nicht weiter verfolgt hätte, gab der Beschwerdeführer an, sie seien einfach weggefahren. Nachgefragt, seien jene drei Freunde, welche im Jahr 2014 beim Grillen dabei gewesen wären, nicht von der Polizei befragt worden. Weshalb lediglich er befragt worden sei, wisse der Beschwerdeführer nicht. Über Vorhalt, dass es schwer vorstellbar erscheine, dass man lediglich den Beschwerdeführer hätte befragen wollen, antwortete dieser, im Spital seien seine Freunde von der Polizei befragt worden. Seine Freunde seien nach wie vor zu Hause und würden dort normal leben, der Beschwerdeführer hätte nur selten Kontakt zu diesen. Auf die Frage, ob er Belege für sein Vorbringen wie Krankenhausaufenthaltsbestätigungen, Befunde, Polizeiberichte oÄ in Vorlage bringen könne, erklärte der Beschwerdeführer, dies nicht zu wissen. Über Vorhalt, dass der Beschwerdeführer in der Erstbefragung im Gegensatz zu seinen nunmehrigen Angaben erwähnt hätte, dass die Polizei ihn habe anhalten wollen, erklärte er, so arbeite die Polizei bei ihnen. Nachgefragt, weshalb er die Bedrohung mit dem Messer nicht erwähnt hätte, meinte der Beschwerdeführer, er habe den Grund damals nicht so genau geschildert. Auf die Frage, was die Polizei konkret von ihm wissen wollte, erklärte der Beschwerdeführer, sie hätten ihn beschuldigt, dass er den Sprengstoff selbst gesprengt hätte. Die Frage, ob die Polizei nicht ermittelt hätte, was tatsächlich Grund der Explosion gewesen sei, wurde vom Beschwerdeführer verneint. Die Polizei habe insofern Druck auf ihn ausgeübt, als sie gesagt hätten, dass ansonsten der Bruder des Beschwerdeführers unterschreiben würde. Der Beschwerdeführer sei nicht geschlagen worden, der Polizist habe aber lauter gesprochen.

Dem Beschwerdeführer wurde sodann vorgehalten, dass er im Herkunftsstaat die Möglichkeit haben würde, seinen Wohnsitz nach Moskau oder in eine andere Stadt zu verlegen sowie dass seine gesamte Familie ohne Probleme in Dagestan leben würde. Auf die Frage, welche Befürchtungen er für den Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation vor diesem Hintergrund hätte, erklärte der Beschwerdeführer, er wisse nicht, was passieren werde.

Der Beschwerdeführer habe bislang keine Integrationsschritte in Österreich unternommen, er habe einen A1-Deutschkurs begonnen, der Vortragende hätte jedoch gemeint, dass der Kurs zu schwer für den Beschwerdeführer sei; derzeit besuche er keinen Deutschkurs.

Der Beschwerdeführer habe ausreichend Möglichkeit zur Erstattung seines Vorbringens gehabt und habe keine Ergänzungen zu diesem. Dem Beschwerdeführer wurde das herangezogene Länderberichtsmaterial ausgehändigt und es wurde ihm die Möglichkeit eingeräumt, binnen Frist eine diesbezügliche Stellungnahme abzugeben.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 28.03.2019 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der beschwerdeführenden Partei auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und den Antrag gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.) sowie dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Die Behörde stellte die Staatsbürgerschaft, Volksgruppenzugehörigkeit und das Glaubensbekenntnis des Beschwerdeführers, nicht jedoch seine präzise Identität, fest und legte ihrer Entscheidung ausführliche Feststellungen zur Situation in dessen Herkunftsstaat zu Grunde. Der Beschwerdeführer habe eine Gefährdungslage im Heimatland nicht glaubhaft machen können. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung einer Verfolgung unterliege.

Diesbezüglich wurde in der Beweiswürdigung argumentiert, der Beschwerdeführer habe vor der Behörde ein höchst vages, nicht nachvollziehbares und abstraktes Vorbringen erstattet. Sein Fluchtvorbringen, wonach er die Russische Föderation aufgrund einer Bedrohung durch ihm unbekannte Männer verlassen hätte, habe er nicht glaubhaft machen können. Dass der Beschwerdeführer bei einem Unfall seine linke Hand verloren hätte, erscheine plausibel, es sei jedoch nicht glaubhaft, dass die Polizei ihn daraufhin bezichtigt hätte, selbst den Sprengkörper gezündet und ihn aus diesem Grund verfolgt zu haben. Vor dem Hintergrund der Angabe des Beschwerdeführers, wonach drei weitere Freunde bei der Explosion zugegen gewesen wären, erschließe es sich nicht, weshalb lediglich der Beschwerdeführer Ziel einer polizeilichen Verfolgung hätte werden sollen. Dies auch vor dem Hintergrund, dass die Freunde laut Angaben des Beschwerdeführers normal in der Heimat weiterleben würden und sich der Vorfall mit der Explosion bereits im Dezember 2014 ereignet haben solle. Weshalb der Beschwerdeführer vor diesem Hintergrund im März 2018 hätte bedroht werden sollen, konnte er auf Nachfrage nicht nachvollziehbar erklären, sondern habe vage und unkonkret davon gesprochen, dass dies die „übliche Vorgangsweise“ sei. Der Beschwerdeführer habe sein Vorbringen auf vage und unkonkrete Angaben gestützt und seine Behauptungen auch bei weiteren Nachfragen der Behörde nicht genügend substantiieren können. Der Beschwerdeführer sei sich der Unsicherheit seines Aufenthaltsstatus während des Asylverfahrens bewusst gewesen, sei dennoch eine Ehe eingegangen und habe unmittelbar nach der Einreise ein Kind gezeugt, was zeigen würde, dass er aufgrund privater Interessen in das Bundesgebiet eingereist wäre und es liege der Verdacht nahe, dass er über die Stellung eines Asylantrages auf einfachem Weg einen Aufenthaltstitel erlangen habe wollen; es sei ihm jedoch durchaus zuzumuten, einen Aufenthaltstitel gemäß den Einreisebestimmungen respektive des NAG zu beantragen, um ein weiteres Familienleben führen zu können.

Eine Rückkehr in die Russische Föderation sei dem Beschwerdeführer zumutbar und möglich. Dieser habe im Heimatland noch genügend familiäre Anknüpfungspunkte und es habe nicht festgestellt werden können, dass ihm in seinem Heimatland die Lebensgrundlage gänzlich entzogen wäre. Der Beschwerdeführer sei ein junger und arbeitsfähiger Mann, welcher den Großteil seines Lebens im Heimatland verbracht hätte und in die dortige Gesellschaft integriert sei. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer von allfälligen negativen Lebensumständen in der Russischen Föderation im höheren Maße betroffen wäre, als jeder andere Staatsbürger in einer vergleichbaren Lage. Dieser leide an keinen schwerwiegenden Erkrankungen und habe im Bundesgebiet zuletzt keine (medikamentöse) Behandlung in Anspruch genommen. Dem Beschwerdeführer wäre es möglich, in Dagestan oder in einem anderen Landesteil selbständig für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, wie es ihm bereits im Vorfeld der Ausreise möglich gewesen sei. Zudem bestehe kein Hinweis darauf, dass im gesamten Staatsgebiet der Russischen Föderation eine extreme Gefährdungslage bestehe, vor deren Hintergrund praktisch jeder unabhängig vom Vorliegen individueller Gründe der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre. Außergewöhnliche Umstände, welche eine Abschiebung unzulässig machen würden, lägen im Fall des Beschwerdeführers nicht vor.

Der Beschwerdeführer habe nach der illegalen Einreise in Österreich eine traditionelle Ehe geschlossen, sei sich jedoch der Unsicherheit seines Aufenthaltes bewusst gewesen. Er habe während seines Aufenthaltes ausschließlich von öffentlichen Geldern gelebt und mit Ausnahme der Beziehung zu seiner Frau und dem gemeinsamen Kind keine Kontakte im Bundesgebiet begründet. Der Beschwerdeführer habe keine Schritte unternommen, um sich in die hiesige Gesellschaft einzugliedern. Sein Aufenthalt sei lediglich infolge der illegalen Einreise möglich gewesen, wobei ihm dessen vorübergehende Natur habe bewusst sein müssen.

3. Mit Eingabe vom 09.05.2019 wurde durch den nunmehr bevollmächtigten Vertreter fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde eingebracht, in welcher der dargestellte Bescheid vollumfänglich angefochten wurde. Begründend wurde zusammenfassend ausgeführt, der Beschwerdeführer habe im Zuge der Einvernahme angegeben, dass er unter schweren gesundheitlichen Leiden wie Angstzuständen und Panikattacken sowie an traumatischem Stresssyndrom leide, das auf die Erlebnisse in der Russischen Föderation zurückzuführen sei. Der Beschwerdeführer habe unmittelbar nach seiner Einreise in das Bundesgebiet und bis jetzt dauernd Unterkunft und finanzielle und familiäre Unterstützung in Österreich erhalten, er sorge für seine Ehefrau und das gemeinsame Kind nach bester Möglichkeit. Dieser habe begonnen, mit gutem Fortschritt Deutsch zu lernen und sich in verschiedenen Institutionen zu integrieren. Die Behörde habe es unterlassen, fundierte Erhebungen zur psychischen Belastung des Beschwerdeführers vorzunehmen. Aufgrund dieser mangelhaft gebliebenen Befragung bzw. Protokollierung sei davon auszugehen, dass die Erforschung der materiellen Wahrheit nicht erfolgt sei. Die asylrechtlich relevante Gefahr sei für den Beschwerdeführer aufgrund seiner besonderen Schutzwürdigkeit des aufrechten Familienlebens mit seinem neugeborenen Kind und seinem besonderen Krankheitsbild gegeben. Es liege daher ein erheblicher Fehler des Ermittlungsverfahrens was die zu erwartende schwerwiegende oder lebensbedrohliche gesundheitliche Beeinträchtigung gemäß Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung in die Russische Föderation betreffe, vor. Es werde u.a. beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

4. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 10.05.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher die im Spruch ersichtlichen Personalien führt, der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum islamischen Glauben bekennt. Seine Identität steht fest. Der Beschwerdeführer stammt aus Dagestan, wo er die Schule besuchte, im Familienverband lebte und seinen Lebensunterhalt zuletzt durch Arbeit als Tankwart sowie Bezug einer Invaliditätspension bestritten hat. Im Herkunftsstaat leben unverändert die Eltern, Geschwister sowie zahlreiche weitere Verwandte des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer ist im März 2018 legal unter Mitführung seines russischen Reisepasses auf dem Landweg in die Ukraine ausgereist und gelangte von dort aus illegal und schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 17.04.2018 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Seit diesem Zeitpunkt hält er sich ununterbrochen im Bundesgebiet auf.

1.2. Der Beschwerdeführer ist im Herkunftsstaat keiner polizeilichen Verfolgung ausgesetzt, da er bezichtigt wird, im Jahr 2014 Sprengstoff zur Detonation gebracht zu haben. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation respektive Dagestan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation respektive Dagestan festgestellt werden.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation respektive Dagestan in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Dem Beschwerdeführer ist es möglich und zumutbar, sich alternativ zu einer Rückkehr in seine Herkunftsregion Dagestan in einem anderen Teil der Russischen Föderation niederzulassen.

Der Beschwerdeführer, dessen linke Hand amputiert worden ist, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden. In der Russischen Föderation respektive Dagestan besteht eine ausreichende medizinische Grundversorgung, weswegen der Beschwerdeführer hinsichtlich allfälliger psychischer und physischer Leiden ausreichend behandelt werden könnte.

1.3. Der Beschwerdeführer hat infolge seiner illegalen Einreise in das Bundesgebiet mit einer hier aufenthaltsberechtigten Frau, welche er zuvor über das Internet kennengelernt hatte, im Juni 2018 eine Ehe nach islamischem Ritus geschlossen und mit dieser zwei Tage nach seiner Einreise ein Kind gezeugt, welches im Dezember 2018 im Bundesgebiet geboren worden ist. Der Beschwerdeführer und seine Partnerin waren sich zum Zeitpunkt der Begründung des Familienlebens über die Unsicherheit eines weiteren Aufenthaltes des Beschwerdeführers bewusst, konnten das gemeinsame Familienleben nur durch dessen illegale Einreise und missbräuchliche Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz begründen und zu keinem Zeitpunkt auf die Möglichkeit zur Führung eines gemeinsamen Familienlebens im Bundesgebiet vertrauen. Der Beschwerdeführer hat versucht, die hiesigen Behörden hinsichtlich eines Aufenthaltes vor vollendete Tatsachen zu stellen und die Möglichkeiten eines legalen Zuzugs in das Bundesgebiet zu umgehen. Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Partnerin und dem gemeinsamen Kind in einem Haushalt, wobei der Lebensunterhalt der Familie durch staatliche Unterstützungsleistungen finanziert wird und die Betreuung des gemeinsamen Kindes und Führung des Haushaltes laut Angaben des Beschwerdeführers durch die Kindesmutter erfolgt.

Der unbescholtene Beschwerdeführer ging in Österreich keiner legalen Erwerbstätigkeit nach, bestritt seinen Lebensunterhalt durch den Bezug staatlicher Unterstützungsleistungen und war zu keinem Zeitpunkt selbsterhaltungsfähig. Der Beschwerdeführer hat sich keine nachgewiesenen Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet und keine Sprachkurse oder sonstigen Ausbildungen absolviert. Dieser hat sich in keinen Vereinen engagiert, war nicht ehrenamtlich tätig und hat mit Ausnahme seiner Lebensgefährtin und seines Sohnes keine engen sozialen Bindungen im Bundesgebiet. Eine den Beschwerdeführer betreffende aufenthaltsbeendende Maßnahme würde keinen ungerechtfertigten Eingriff in dessen gemäß Art. 8 EMRK geschützte Rechte auf Privat- und Familienleben darstellen.

1.4. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern in der Russischen Föderation wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen: - AA – Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018 - BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reiseaufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018 - Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018 - EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018 - GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018 - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der ISSprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine Provinz Kaukasus, als Teil des ISKalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018 - Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018 - DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018 - ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018 - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Dagestan

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden. Nach Angaben der Sicherheitsbehörden Dagestans Anfang 2017 kämpften etwa 1.200 Männer aus Dagestan in den Reihen der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien und im Irak. Mittlerweile werden Radikale, die sich terroristischen Organisationen im Ausland anschließen wollen, von den russischen Behörden an der Ausreise gehindert und festgenommen, was die Terrorgefahr in Dagestan erhöht (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. So werden von den Sicherheitskräften mitunter auch Imame verhaftet, die dem Salafismus anhängen sollen. Aus der Perspektive der Sicherheitsdienste sollen ihre Moscheen als Rekrutierungsstätten für IS-Anhänger dienen, für einen Teil der muslimischen Bevölkerung stellen diese Maßnahmen jedoch ungebührliche Schikanen dar. Relativ häufig kommt es zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten. Letztere gehörten bis vor kurzem primär zum 2007 gegründeten sogenannten Kaukasus-Emirat, bekundeten jedoch vermehrt ihre Loyalität gegenüber dem sog. IS. Die Anhänger des Emirats beanspruchen, den „wahren Islam“ in der Region zu vertreten, während die Vertreter des sog. „traditionellen“ Islams als korrupt angesehen werden und im Verdacht stehen, der Regierung in Moskau bzw. ihren Repräsentanten in der Region Untertan zu sein. Einige Angriffe auf Polizisten bzw. Polizeieinrichtungen wurden unter dem Deckmantel des IS ausgeführt; im Dezember 2015 bekannte sich der sog. IS zu einem Anschlag auf eine historische Festung in Derbent. Inwieweit der IS nach der territorialen Niederlage im Nahen Osten entsprechende Ressourcen verschieben wird, um im Nordkaukasus weitere terroristische Umtriebe zu entfalten oder die regionale Zweigstelle weiterhin zu Propagandazwecken nutzen wird, um seinen globalen Einfluss zu unterstreichen, wird von den russischen Sicherheitskräften genau verfolgt werden (ÖB Moskau 12,2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Dagestan 55 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 47 Todesopfer (38 Aufständische, vier Zivilisten, fünf Exekutivkräfte) und acht Verwundete (ein Militanter, fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Regelmäßig kommt es auch im Jahr 2018 in Dagestan zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen (ACCORD 16.8.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Dagestan 17 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon elf Todesopfer (vier Aufständische, eine Exekutivkraft, sechs Zivilisten) und sechs Verwundeter (vier Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen: - ACCORD (16.8.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-indagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424, Zugriff 28.8.2018 - Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018 - Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018 - Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von „Geständnissen“ (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018 - EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018 - ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation - US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018
Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden „unantastbaren Polizeieinheiten“ zu tun haben“ (EASO 3.2017). Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg - EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018 - Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 2.8.2018

- US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CATOP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).

Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen „Komitee gegen Folter“ kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene “Geständnisse“ werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung „Novaya Gazeta“ veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen von Misshandlungen und Folter im russischen Strafvollzug (NZZ 23.7.2018). Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018 - EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 3.8.2018 - HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html, Zugriff 3.8.2018 - ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation - NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegenrusslands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 2.8.2018 - Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenienaufklaeren, Zugriff 3.8.2018

- US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Korruption

Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen sowie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).

Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet. Aufgrund der zunehmend mangelhaften Übernahme von Verantwortung in der Regierung können Bürokraten mit Straffreiheit rechnen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert, um sich selbst zu bereichern (FH 1.2018).

Das Gesetz sieht Strafen für behördliche Korruption vor, die Regierung bestätigt aber, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird, und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind. Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative und auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 20.4.2018, vgl. EASO 3.2017). Zu den Formen der Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung, und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördliche Korruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (US DOS 20.4.2018).

Korruptionsbekämpfung gilt seit 2008 als prioritäres Ziel der Zentralregierung. Bis 2012 wurde die dafür notwendige Gesetzesgrundlage geschaffen. Beispielsweise wurden die Sanktionen festgelegt. Aufsichtsbehörden erhielten mehr Befugnisse, darunter die Finanzkontrolle, die Generalstaatsanwaltschaft und der Geheimdienst (FSB). Es wurden vermehrt Überprüfungen eingeleitet. In der Folge stieg die Anzahl der Strafverfahren. Zu Beginn richteten sie sich hauptsächlich gegen untere Chargen, seit 2013 jedoch auch gegen hochrangige Beamte und Politiker, wie einzelne Gouverneure, regionale Minister und stellvertretende föderale Minister und einen früheren Verteidigungsminister. Positiv bewertete die russische Zivilgesellschaft die 2009 geschaffenen Gesetze, welche die staatlichen Behörden und die Justiz verpflichteten, über ihre Aktivitäten zu informieren. Im Zusammenhang mit der Korruptions-Bekämpfung entstanden zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, die ab 2011 einen gewissen Einfluss auf die Arbeit der Behörden ausüben konnten und erreichten, dass das Handeln von Dienststellen und Gerichten teils transparenter wurde. In einzelnen Bereichen der Verwaltung wurde die Korruption reduziert, oft abhängig von einzelnen integren und innovativen Führungsfiguren. Beobachter sind sich jedoch einig, dass sich die Situation nicht substantiell verbessert hat. Am endemischen Charakter der Korruption in der Verwaltung hat sich bisher nichts geändert. Das gilt auch für das Justizsystem und für die Polizei, die 2011 reformiert wurde. Die Gründe für den Misserfolg sind vielschichtig. Auf höchster Ebene scheint die russische Führung kein echtes Interesse an der KorruptionsBekämpfung zu haben, da sie selber vom korrupten System profitiert. Externe Beobachter kritisieren, der Kreml nutze Anti-Korruptions-Maßnahmen, um Gegner zu schwächen und die Elite zu kontrollieren. Aufsehenerregende Fälle dienten dazu, die Popularität des Präsidenten in der Bevölkerung zu stärken. Im Verwaltungsapparat sind die konkreten Regeln zur Korruptionsbekämpfung unterentwickelt, es fehlen zum Beispiel Mechanismen zur Integritätsprüfung der Mitarbeiter/innen. Institutionen zur Korruptionsbekämpfung sind laut BTI zwar oft mit kompetenten Personen besetzt, es fehlen ihnen jedoch die Kompetenz und die

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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