Entscheidungsdatum
03.03.2021Norm
AsylG 2005 §8 Abs1Spruch
W285 2194398-1/49E
W285 2194395-1/51E
W285 2194392-1/42E
W285 2194384-1/42E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Eva WENDLER als Einzelrichterin über die Beschwerden 1.) des XXXX , geboren am XXXX , 2.) der XXXX , geboren am XXXX , 3.) der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , und 4.) des minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , alle Staatsangehörigkeit: Irak, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Thoma KLEIN, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 22.03.2018, Zahlen: zu 1.) 1082728305-151084388, zu 2.) 1092287100-151623165, zu 3.) 1082728501-151084361 und zu 4.) 1092287503-151623190, betreffend die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, zu Recht:
A)
I. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wird 1.) XXXX , geboren am XXXX , 2.) XXXX , geboren am XXXX , 3.) der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , und 4.) dem minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , jeweils der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.
II. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird 1.) XXXX , geboren am XXXX , 2.) XXXX , geboren am XXXX , 3.) der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , und 4.) dem minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
III. In Erledigung der Beschwerden werden die jeweiligen Spruchpunkte III., IV., V. und VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos aufgehoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Aus dieser Ehe stammen die minderjährige Drittbeschwerdeführerin und der minderjährige Viertbeschwerdeführer.
Der Erstbeschwerdeführer reiste mit seiner Tochter, der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin, illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie gemeinsam am 13.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 stellten. Die Zweitbeschwerdeführerin verblieb mit dem minderjährigen Viertbeschwerdeführer im Irak.
Am 15.08.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Erstbeschwerdeführers statt.
In weiterer Folge reiste auch die Zweitbeschwerdeführerin mit ihrem Sohn, dem minderjährigen Viertbeschwerdeführer, illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am 26.10.2015 ebenfalls gemeinsam einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 stellten.
Am 26.10.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Zweitbeschwerdeführerin statt.
Die niederschriftliche Einvernahme des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , fand jeweils am 06.09.2017 statt.
Der Erstbeschwerdeführer wurde am 19.03.2018 zu den genauen personenbezogenen Daten der Drittbeschwerdeführerin und des Viertbeschwerdeführers einvernommen. In der Folge wurden entsprechend der übersetzten Personalausweise und der Angaben des Erstbeschwerdeführers die personenbezogenen Daten der Drittbeschwerdeführerin und des Viertbeschwerdeführers korrigiert.
Mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden des Bundesamtes wurden die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (jeweils Spruchpunkt I.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (jeweils Spruchpunkt II.) abgewiesen, den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (jeweils Spruchpunkt III.), gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Darüber hinaus wurde eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gemäß § 55 Abs. 1a FPG eingeräumt (Spruchpunkt VI.).
Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.
Die gegenständlichen Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 04.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 29.03.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin, ihre bevollmächtigte Rechtsvertretung sowie eine Dolmetscherin für die arabische Sprache teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.08.2019 zu den Zahlen G311 2194398-1/19E, G311 2194395-1/20E, G311 2194392-1/16E und G311 2194384-1/16E wurden die gegen die Bescheide des Bundesamtes erhobenen Beschwerden jeweils vollinhaltlich als unbegründet abgewiesen.
Gegen diese Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes erhoben die Beschwerdeführer gemeinsam eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Mit Beschluss des VfGH vom 09.10.2019, Zahl E3683-3686/2019-5, wurde den Beschwerden der Beschwerdeführer die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Mit Erkenntnis des VfGH vom 24.02.2020, Zahl E3683-3686/2019-8, wurde die Behandlung der Beschwerden hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß
§ 3 AsylG 2005 abgelehnt und an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) abgetreten, darüber hinaus jedoch die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak und die Festsetzung einer vierzehntägigen Frist zur freiwilligen Ausreise aufgehoben.
Die Gerichtsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht daraufhin zur neuerlichen Entscheidung über die Beschwerden hinsichtlich der jeweiligen Spruchpunkte II. bis VI. der angefochtenen Bescheide vom VfGH am 01.04.2020 rückübermittelt.
Mit Beschluss des VwGH vom 27.05.2020, Zahl Ra 2020/14/0201-3, wurde die Revision der Zweitbeschwerdeführerin zurückgewiesen. Die Gerichtsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht daraufhin vom VwGH rückübermittelt und langten am 24.06.2020 ein.
Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes wurde den Beschwerdeführern aktuelle Berichte zur Lage in Bagdad übermittelt. Weiters wurde eine Stellungnahne eines nichtamtlichen Sachverständigen zur Lage im konkret von den Beschwerdeführern bewohnten Bezirk in Bagdad übermittelt.
Dazu nahmen die Beschwerdeführer jeweils durch ihren rechtsfreundlichen Vertreter Stellung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.08.2019 zu den Zahlen G311 2194398-1/19E, G311 2194395-1/20E, G311 2194392-1/16E und G311 2194384-1/16E wurden die gegen die Bescheide des Bundesamtes erhobenen Beschwerden jeweils vollinhaltlich als unbegründet abgewiesen.
Das Bundesverwaltungsgericht traf in dieser Entscheidung auszugsweise nachfolgende Feststellungen:
„1. Feststellungen:
Die Beschwerdeführer führen die im Spruch jeweils angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) und sind Staatsangehörige des Irak, Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennen sich zum moslemischen Glauben schiitischer Ausrichtung (vgl. etwa Erstbefragung Erstbeschwerdeführer vom 15.08.2015, AS 11 ff Erstbeschwerdeführer; Erstbefragung Zweitbeschwerdeführerin vom 26.10.2015, AS 9 ff Zweitbeschwerdeführerin; Angaben Erstbeschwerdeführer, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 55 ff Erstbeschwerdeführer; Angaben Zweitbeschwerdeführerin, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 43 ff Zweitbeschwerdeführerin; irakischer Personalausweis und irakischer Führerschein Erstbeschwerdeführer, AS 69 und AS 77 Erstbeschwerdeführer; irakischer Personalausweis der Zweitbeschwerdeführerin, der Drittbeschwerdeführerin und des Viertbeschwerdeführers, AS 73 ff Zweitbeschwerdeführerin).
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind standesamtlich verheiratet. Aus dieser Ehe stammen die minderjährige Drittbeschwerdeführerin und der minderjährige Viertbeschwerdeführer (vgl. Kopie der originalen irakischen Heiratsurkunde, AS 67 Zweitbeschwerdeführerin; Erstbefragung Erstbeschwerdeführer vom 15.08.2015, AS 11 ff Erstbeschwerdeführer; Erstbefragung Zweitbeschwerdeführerin vom 26.10.2015, AS 9 ff Zweitbeschwerdeführerin; Angaben Erstbeschwerdeführer, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 55 ff Erstbeschwerdeführer; Angaben Zweitbeschwerdeführerin, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 43 ff Zweitbeschwerdeführerin).
Der Erstbeschwerdeführer verließ mit der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin den Irak am 17.07.2015 auf dem Luftweg und flog mit ihr von Bagdad nach Izmir/Türkei. Von dort reisten sie schlepperunterstützt über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien und Ungarn illegal nach Österreich, wo sie am 13.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellten. Die Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige verblieben aus finanziellen Gründen noch etwa drei Monate im Irak, wo die Zweitbeschwerdeführerin auch bis Ende September 2015 auch weiterhin ihrer Erwerbstätigkeit in Bagdad nachgegangen ist (vgl. etwa Erstbefragung Erstbeschwerdeführer vom 15.08.2015, AS 11 ff Erstbeschwerdeführer; Angaben Erstbeschwerdeführer, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 59 Erstbeschwerdeführer; Einvernahme Erstbeschwerdeführer, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019, S 5; Einvernahme Zweitbeschwerdeführerin, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019, S 11 f).
Die Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige Viertbeschwerdeführer verließen den Irak legal auf dem Luftweg am 13.10.2015 und flogen von Bagdad aus nach Istanbul/Türkei und von dort weiter nach Izmir/Türkei. In der Folge reisten auch die Zweitbeschwerdeführerin und der Viertbeschwerdeführer schlepperunterstützt über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien illegal nach Österreich, wo sie am 26.10.2015 ebenso einen Antrag auf internationalen Schutz stellten (vgl. etwa Erstbefragung Zweitbeschwerdeführerin vom 26.10.2015, AS 15 ff; Angaben Zweitbeschwerdeführerin, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 47 f Zweitbeschwerdeführerin; Einvernahme Zweitbeschwerdeführerin, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019, S 11 f).
Der Erstbeschwerdeführer hat im Irak sechs Jahre eine Grundschule und zwei Jahre eine mittlere Schule besucht, diese aber nicht abgeschlossen. Ab 1994 arbeitete der Erstbeschwerdeführer in einem staatlichen Betrieb bzw. einer damaligen dem Militär zugehörigen Behörde in einer „Flaschenfabrik“. Unter anderem wurden dort auch Sauerstoffflaschen hergestellt oder befüllt. Um das Jahr 2000 war der Erstbeschwerdeführer für etwa drei Jahre als einfacher Soldat beim irakischen Militär und weitere zwei Jahre Reservist. Von 2003 bis 2004 arbeitete der Erstbeschwerdeführer in einer Aluminiumfabrik im Libanon. Nach seiner Rückkehr in den Irak 2004 war er als Bäcker tätig. Seit 2005 bis Ende Juni 2015 war der Beschwerdeführer wieder in der Flaschenfabrik tätig, die nunmehr eine zivile Einrichtung war. Die Beschwerdeführer lebten bis zur Ausreise im Elternhaus des Erstbeschwerdeführers in Bagdad. Dort leben nach wie vor die beiden Eltern des Erstbeschwerdeführers. Sein Vater ist Pensionist, seine Mutter Hausfrau. Weiters lebt eine der älteren Schwestern des Erstbeschwerdeführers noch in Bagdad und ist auch sie Hausfrau. Zu den Verwandten des Erstbeschwerdeführers besteht wöchentlich mehrfach Kontakt. Der Beschwerdeführer hat weiters einen Bruder, der als anerkannter Flüchtling in Belgien lebt und eine Schwester, die bereits norwegische Staatsangehörige ist (vgl. etwa Erstbefragung Erstbeschwerdeführer vom 15.08.2015, AS 11 ff Erstbeschwerdeführer; Angaben Erstbeschwerdeführer, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 57 ff Erstbeschwerdeführer; Einvernahme Erstbeschwerdeführer, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019, S 4 ff; Einvernahme Zweitbeschwerdeführerin, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019, S 14; aktenkundige Dienstausweise des Erstbeschwerdeführers, AS 79 und 81 Erstbeschwerdeführer).
Ein besonderes Nahe- und/Abhängigkeitsverhältnis zur in Österreich lebenden Schwester des Erstbeschwerdeführers, deren Kindern oder seinem in Österreich aufhältigen Bruder wurde weder vorgebracht noch ist ein solches sonst hervorgekommen.
Die Zweitbeschwerdeführerin hat ihre Schulbildung im Irak mit Matura abgeschlossen. Ab 2003 arbeitete sie im Medienministerium in Bagdad im Bereich Zeitschriften. Als im Irak die Probleme um Saddam Hussein begannen, hat sie mit der Arbeit aufgehört und kehrte 2009 wieder in ihren Beruf zurück. Nunmehr handelte es sich aber um das Kulturministerium, Abteilung XXXX , wo die Zweitbeschwerdeführerin bis 2013 tätig war. Von 2013 bis September 2015 war die Zweitbeschwerdeführerin in der Abteilung „ XXXX “ des Ministeriums tätig. Dort arbeitete sie zweimal pro Woche. In Bagdad leben nach wie vor die Eltern, eine Schwester und ein Bruder der Zweitbeschwerdeführerin, wobei der Vater und der Bruder als Taxifahrer berufstätig und die Mutter und die Schwester Hausfrauen sind. Zwei weitere Schwestern der Zweitbeschwerdeführerin leben in Kirkuk und sind ebenso Hausfrauen. Sofern es keinen Stromausfall gibt, hat die Zweitbeschwerdeführerin mit ihren Geschwistern in Bagdad täglich Kontakt. Die Kinder der in Bagdad lebenden Geschwister besuchen dort die Schule. Es bestehen hinsichtlich der Familie der Zweitbeschwerdeführerin keinerlei Probleme oder Bedrohungen. Ein Bruder der Zweitbeschwerdeführerin lebt in Deutschland (vgl. etwa Erstbefragung Zweitbeschwerdeführerin vom 26.10.2015, AS 9 ff Zweitbeschwerdeführerin; Angaben Zweitbeschwerdeführerin, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 43 ff Zweitbeschwerdeführerin; Einvernahme Zweitbeschwerdeführerin, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019, S 9 ff; Maturazeugnis, AS 59 Zweitbeschwerdeführerin; Dienstausweise der Zweitbeschwerdeführerin für das Kulturministerium, AS 61 ff Zweitbeschwerdeführerin; Versetzungsbestätigung, AS 69 Zweitbeschwerdeführerin).
Es ist daher festzustellen, dass die Beschwerdeführer im Irak über ein familiäres Auffangnetz verfügen.
Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin besuchte bereits im Irak die Schule. Der minderjährige Viertbeschwerdeführer wurde von der Zweitbeschwerdeführerin betreut. An ihren beiden Arbeitstagen wurde er entweder von der Großmutter oder vom Erstbeschwerdeführer beaufsichtigt (vgl. etwa Einvernahme Zweitbeschwerdeführerin, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019, S 9 ff).
Die Beschwerdeführer sind allesamt gesund und arbeits- bzw. schulfähig. Die Zweitbeschwerdeführerin benötigt Schilddrüsentabletten, ist dadurch aber nicht in ihrer Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt. Es konnte nicht festgestellt werden, dass einer der Beschwerdeführer an einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Endstadium leidet, die im Irak nicht behandelbar wäre (vgl. Angaben Erstbeschwerdeführer, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 57; Einvernahme Erstbeschwerdeführer, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019, S 3 f; Einvernahme Zweitbeschwerdeführerin, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019, S 9 ff).
Die Beschwerdeführer halten sich seit ihrer jeweiligen Einreise ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Für den Viertbeschwerdeführer bestehen jedoch im Bundesgebiet keine Wohnsitzmeldungen. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind strafgerichtlich unbescholten (vgl. aktenkundige Auszüge aus dem Zentralen Melderegister sowie aus dem Strafregister vom 24.05.2019).
Weder der Erstbeschwerdeführer noch die Zweitbeschwerdeführerin gingen im Bundesgebiet bisher einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nach. Die Familie lebt von der Grundversorgung. Der Erstbeschwerdeführer wünscht sich eine Tätigkeit als Koch oder Taxifahrer. Eine Einstellungszusage konnte er bisher nicht vorlegen, jedoch besucht er einen Basisbildungskurs bei ISOP für Erwachsene. Die Zweitbeschwerdeführerin konnte im Rahmen der mündlichen Verhandlung eine undatierte Einstellungszusage vorlegen. Die Beschwerdeführer sind allesamt keine Mitglieder in einem Verein. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin engagieren sich auch nicht ehrenamtlich. Sie besuchen öfters die Kirche im Wohnort, wo sie auch am Deutschunterricht teilnahmen, und nehmen an Veranstaltungen der Kinder in der Schule bzw. früher dem Kindergarten teil und haben Bekanntschaften mit Einheimischen geschlossen. Die Zweitbeschwerdeführerin engagiert sich im Elternverein der Drittbeschwerdeführerin (vgl. Angaben Erstbeschwerdeführer, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 58 ff Erstbeschwerdeführer; Angaben Zweitbeschwerdeführerin, Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 47 Zweitbeschwerdeführerin; Bestätigung Pfarramt vom 16.08.2017, AS 85 Erstbeschwerdeführer; undatiertes Empfehlungsschreiben, AS 83 Erstbeschwerdeführer; Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019, S 10; Empfehlungsschreiben vom 18.08.2017, AS 99 Zweitbeschwerdeführerin).
Sowohl der Erstbeschwerdeführer als auch die Zweitbeschwerdeführerin haben einen Werte- und Orientierungskurs absolviert (vgl. aktenkundige Bestätigungen des ÖIF vom 28.08.2018). Der Erstbeschwerdeführer hat ein Deutschseminar des BFI (Alpha 1) besucht, er spricht gebrochen Deutsch (vgl. Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 58 Erstbeschwerdeführer; Teilnahmebestätigung BFI vom 11.05.2017, AS 87 Erstbeschwerdeführer). Die Zweitbeschwerdeführerin verfügt über ein ÖSD-Deutschzertifikat A2 und hat mehrere Deutschkurse besucht. Tatsächlich spricht auch sie gebrochen Deutsch (vgl. aktenkundiges Zertifikat; Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 47 Zweitbeschwerdeführerin; Seminarbestätigungen BFI vom 09.03.2017, 06.04.2017 & 09.06.2017, AS 103, 115 & 167 Zweitbeschwerdeführerin).
Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin besuchte erst die Volksschule und nunmehr die erste Klasse (5. Schulstufe) einer Neue Mittelschule im Bundesgebiet. Die Drittbeschwerdeführerin wird als ordentliche Schülerin geführt und wurde in jedem Fach (positiv) beurteilt. Der minderjährige Viertbeschwerdeführer besuchte erst den Kindergarten und nunmehr die erste Klasse (1. Schulstufe) Volksschule als außerordentlicher Schüler im Bundesgebiet (vgl. aktenkundige Schulnachrichten, Schulzeugnisse und Kindergartenmappen, AS 81 ff Zweitbeschwerdeführerin).
Insgesamt konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer hinreichenden Integration der Beschwerdeführer in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden.
Die Beschwerdeführer haben im Irak an keinen bewaffneten Auseinandersetzungen teilgenommen. Sie sind weder Mitglieder einer politischen Partei noch haben sie sich sonst politisch betätigt oder an Demonstrationen teilgenommen. Sie hatten weiters keinerlei Probleme mit staatlichen Behörden, der Polizei oder einem Gericht oder aufgrund ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit im Irak. Die Beschwerdeführer haben den Irak wegen der allgemeinen Lage verlassen und lag keinerlei sie persönlich treffende Bedrohung oder Verfolgung vor (vgl. Niederschrift Bundesamt vom 06.09.2017, AS 55 ff Erstbeschwerdeführer und AS 43 ff Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2019).
Ein konkreter Anlass oder Vorfall für das (fluchtartige) Verlassen des Herkunftsstaates konnte daher nicht festgestellt werden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass den Beschwerdeführern im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sind oder dass Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.
[…]“
Ergänzend zu den im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.08.2019 bereits getroffenen Feststellungen werden nunmehr nachfolgende Feststellungen getroffen:
Die Beschwerdeführer halten sich seit ihrer jeweiligen Asylantragstellung im August 2015 (Erstbeschwerdeführer und Drittbeschwerdeführerin) bzw. im Oktober 2015 (Zweitbeschwerdeführerin und Viertbeschwerdeführer) nach wie vor ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Sie verfügen im Bundesgebiet seit 21.08.2015 bzw. seit 27.10.2015 nach wie vor über durchgehende Hauptwohnsitzmeldungen. Alle Beschwerdeführer sind strafgerichtlich unbescholten (vgl. Auszüge aus dem Zentralen Melderegister sowie dem Strafregister jeweils vom 11.11.2020).
Die jeweiligen Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 wurden schlussendlich mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.08.2019 rechtskräftig abgewiesen. Den Beschwerdeführern drohte somit weder zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus dem Irak eine individuelle, konkrete und asylrelevante Bedrohung oder Verfolgung und wurde eine solche individuelle Gefährdung auch im Falle ihrer Rückkehr verneint.
Die Beschwerdeführer stammen allesamt aus Bagdad und lebten – wie bereits im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.08.2019 festgestellt – bis zu deren Ausreise im Haus der Eltern des Erstbeschwerdeführers in Bagdad. Dieses befindet sich im Distrikt XXXX und dem Viertel XXXX (auch: XXXX oder XXXX ; vgl. etwa Erstbefragung Erstbeschwerdeführer vom 15.08.2015, AS 15;). Die beiden Eltern des Erstbeschwerdeführers leben nach wie vor in ihrem Haus in Bagdad XXXX bzw. XXXX . Auch eine der älteren Schwestern des Beschwerdeführers lebt nach wie vor noch in Bagdad (vgl. Stellungnahme vom 01.10.2020, S 5). Eine Änderung der familiären Bezüge der Zweitbeschwerdeführerin und ihrer Verwandten in Bagdad bzw. Kirkuk liegt nicht vor.
Die Beschwerdeführer beziehen allesamt nach wie vor Grundversorgungsleistungen. Der Erstbeschwerdeführer ging bisher zwei Mal kurzfristig einer geringfügigen Beschäftigung am 31.10.2019 bzw. von 20.11.2019 bis 30.11.2019 mit Dienstleistungsscheck nach. Sonst waren bisher weder der Erstbeschwerdeführer noch die Zweitbeschwerdeführerin sozialversichert erwerbstätig (vgl. Auszüge aus den Grundversorgungs- und Sozialversicherungsdaten vom 11.11.2020).
Die Beschwerdeführer leiden nicht an im Irak bzw. konkret in Bagdad nicht behandelbaren, schweren Erkrankungen, ein derartiges Vorbringen wurde nicht erstattet.
Der Antrag des Bruders des Erstbeschwerdeführers, XXXX (geboren am XXXX , irakischer Staatsangehöriger) auf internationalen Schutz in Österreich wurde mit Bescheid des Bundesamtes vollumfänglich abgewiesen und gegen den Bruder des Beschwerdeführers eine Rückkehrentscheidung erlassen. Das zur Zahl G312 2206613-1 protokollierte Beschwerdeverfahren des Bruders vor dem Bundesverwaltungsgericht ist noch offen (Einsichtnahme in den elektronischen Akt am 02.03.2021). Der Bruder des Erstbeschwerdeführers lebt bereits seit April 2017 durchgehend in XXXX (vgl. Fremdenregisterauszug des Bruders des Erstbeschwerdeführers vom 24.05.2019; Auszug aus dem Zentralen Melderegister des Bruders vom 11.11.2020).
Der Schwester des Erstbeschwerdeführers, XXXX (geboren am XXXX , irakische Staatsangehörige) und ihren beiden minderjährigen Kindern, und zwar dem Neffen XXXX (geboren am XXXX , irakischer Staatsangehöriger) und der Nichte XXXX (geboren am XXXX , irakische Staatsangehörige) kommt in Österreich seit Juni 2018 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Irak zu. Die darauf basierende Aufenthaltsberechtigung gilt derzeit noch bis Juni 2021. Die Schwester des Erstbeschwerdeführers und ihre Kinder leben bereits seit August 2018 durchgehend in XXXX (vgl. Fremdenregisterauszüge der Schwester des Erstbeschwerdeführers und deren Kindern sowie aus dem Zentralen Melderegister der Schwester des Erstbeschwerdeführers jeweils vom 11.11.2020).
Ein besonderes Nahe- und/Abhängigkeitsverhältnis zur in Österreich lebenden Schwester des Erstbeschwerdeführers, deren Kindern oder seinem in Österreich aufhältigen Bruder liegt nicht vor.
Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin kam mit ihren Eltern und ihrem Bruder im Alter von neun Jahren nach Österreich, wo sie gemeinsam die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten. Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin setzte die bereits in Bagdad im Irak begonnene Schulbildung seither in Österreich fort, schloss im Schuljahr 2019/2020 die zweite Klasse der Neuen Mittelschule (6. Schulstufe) positiv ab und besucht nunmehr die dritte Klasse der Neuen Mittelschule (7. Schulstufe). Sie ist zum Entscheidungszeitpunkt nunmehr vierzehn Jahre alt (vgl. dazu Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes im Erkenntnis vom 26.08.2019 mwN; sowie etwa Beilage ./F zur Stellungnahme vom 16.09.2020; Jahreszeugnis Viertbeschwerdeführer Schuljahr 2019/2020).
Der minderjährige Viertbeschwerdeführer kam mit seinen Eltern und seiner Schwester im Alter von vier Jahren nach Österreich, wo sie die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten. Der minderjährige Viertbeschwerdeführer besuchte in Österreich den Kindergarten und begann hier auch seine Schulbildung. Er schloss im Schuljahr 2019/2020 die zweite Klasse der Volksschule (2. Schulstufe) positiv ab und besucht nunmehr die dritte Klasse der Volksschule (3. Schulstufe) (vgl. dazu Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes im Erkenntnis vom 26.08.2019 mwN; sowie etwa Beilage ./F zur Stellungnahme vom 16.09.2020; Jahreszeugnis Viertbeschwerdeführer Schuljahr 2019/2020).
Die Zweitbeschwerdeführerin hat inzwischen als Externistin die Pflichtschulabschluss-Prüfung bestanden (vgl. dazu Beilage ./H zur Stellungnahme vom 01.10.2020).
Der Erstbeschwerdeführer verfügt über einen undatierten Dienstvertrag für Arbeiter bei einem Barber Shop im Ausmaß von 40 Wochenstunden und einem Mindestbezug von EUR 1.400,00 pro Monat unter der aufschiebenden Bedingung, dass er einen Aufenthaltstitel erhält (vgl. dazu Beilage ./D zur Stellungnahme vom 12.05.2019). Die Zweitbeschwerdeführerin über einen undatierten Dienstvertrag für Arbeiter bei einer Pizzeria im Ausmaß von 20-25 Wochenstunden und einem Mindestbezug von EUR 850,00 pro Monat unter der aufschiebenden Bedingung, dass sie einen Aufenthaltstitel erhält (vgl. dazu Beilage ./E zur Stellungnahme vom 12.05.2019).
Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:
Im Irak wurden bis Ende Dezember 2020 knapp 530.000 Personen positiv auf COVID 19 getestet, zu diesem Zeitpunkt waren knapp 13.000 Personen an COVID 19 verstorben und gab es zu diesem Zeitpunkt rund 46.000 aktive Fälle. Im Land wurden Lockdown-Maßnahmen eingeführt und umgesetzt (aus IOM Covid 19 Response Overview#7, 7. bis 28. Dezember 2020).
Die Sicherheitskräfte sind angewiesen, die Richtlinien zur Schutzmaskenpflicht, zur sozialen Distanzierung und weitere umzusetzen, einschließlich der Verhängung von Geldstrafen und der Beschlagnahme von Fahrzeugen derjenigen, die gegen die Regeln verstoßen (GoI 27.7.2020; vgl. MEMO 3.8.2020).
Seit dem 23.7.2020 sind die internationalen Flughäfen Bagdad, Najaf und Basra wieder für kommerzielle Linienflüge geöffnet. Sämtliche Flughäfen wurden zuvor am 17.3.2020 geschlossen (Al Jazeera 23.7.2020; vgl. Rudaw 1.8.2020). Passagiere müssen vor dem Boarding einen negativen Covid-19 Test vorweisen (Al Jazeera 23.7.2020). Mit der Wiedereröffnung des Internationalen Flughafens Erbil (KRI) am 1.8. wird es auch wieder eine Luftverbindung zwischen Bagdad und Erbil geben (Rudaw 1.8.2020).
Aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 07.09.2020 zur Versorungs- und Sicherheitslage konkret in Bagdad ergibt sich:
1. Wie viele Einwohner hat Bagdad derzeit? Bestehen Statistiken zur Einwohnerzahl in den einzelnen Stadtvierteln?
Zusammenfassung:
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass die Einwohnerzahl je nach Quelle und Zählweise zwischen 6,6 bis zu 9,7 Millionen Einwohnern variiert.
2. Welche sicherheitsrelevanten Vorfälle in Bagdad sind im Jahr 2020 dokumentiert (bitte eine möglichst vollzählige bzw. repräsentative Aufzählung)
Zusammenfassung:
Nebst Zusammenstößen bei Massendemonstrationen, sind die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle in Bagdad, die auch Todesopfer zu mit sich brachten, auf die Involvierung des sog. Islamischen Staates (IS) und pro-iranischer Milizen zurückzuführen. Laut Joel Wing, dominierte der sog. IS die Statistiken während der Frühjahrsmonate. Dieser versucht sukzessive wieder in Bagdad Fuß zu fassen. Sicherheitsrelevante Vorkommnisse, bei denen pro-iranische Milizen involviert waren, waren insbesondere in den Monaten März, Juli und August zu verzeichnen. Als Reaktion auf die asymmetrischen Angriffe des sog. IS setzten die irakischen Sicherheitskräfte ihre Antiterroroperationen gegen IS-Zellen fort, darunter auch in Bagdad.
Laut ACLED wurden für den Zeitraum 1.1.2020 bis 2.9.2020 folgende 138 sicherheitsrelevante Vorfälle für Bagdad verzeichnet. Die Aufzeichnungen enden mit 31.7.2020, obgleich als End-Parameter der 2.9.2020 eingegeben wurde.
3. Bestehen Versorgungsengpässe in Bagdad? Gibt es Hinweise darauf, dass die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs eingeschränkt ist? Wenn ja, worin liegen die Ursachen?
Zusammenfassung:
Die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs scheint trotz steigender Preise während der COVID-19-Krise auch in Bagdad zu funktionieren. Laut dem Welternährungsprogramm der UNO, das die Marktfunktionalität in den einzelnen Provinzen sowie des Gesamtstaates berechnete, liegt Bagdad mit einem statistischen Kennwert von knapp über 6 (Höchstwert - 10) nur im Mittelfeld. Neun Provinzen, d.h. die Mehrheit, insbesondere die kurdischen und die südlichen, verzeichnen eine zum Teil deutlich bessere Marktfunktionalität bei Versorgungsgütern des täglichen Bedarfs. Etwa 4,6 % der befragten Haushalte im Irak wiesen einen unzureichenden Nahrungsmittelkonsum auf. Dies entspricht in etwa auch dem Wert von Bagdad. Im Vergleich dazu lag der Prozentsatz der Haushalte mit unzureichendem Konsum im April noch bei 7%.
Aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zum Irak: Situation von Kindern in Bagdad – Update vom 01.09.2020 ergibt sich:
„1. Wie stellt sich derzeit die Lage von Kindern, die nicht binnenvertrieben sind, in Bagdad im Allgemeinen dar?
2. Wie hoch ist die Rate der Kinder, die nicht binnenvertrieben sind, die in Bagdad in Armut leben müssen? Wenn im LIB von einem großen Anteil unterernährter und unterentwi-ckelter Kinder gesprochen wird, wie stellt sich die Lage diesbezüglich in Bagdad dar?
3. Wie stellt sich die Versorgungslage (unabhängig von der finanziellen Ausstattung der betroffenen Person) in Bagdad dar? Bestehen Versorgungsengpässe? Gibt es Hinweise da-rauf, dass die Versorgung mit Gütern, die Kinder für ihre Bedürfnisse benötigen (Babynah-rung, Gemüse und Obst, Milch, Windeln, medizinische Produkte) eingeschränkt ist? Wenn ja, worin liegen die Ursachen?
4. Bestehen Hinweise auf Engpässe bei der medizinischen Versorgung von Kindern in-Bagdad? Gibt es Kinderkrankenhäuser bzw. Kinderabteilungen in Krankenhäusern und nie-dergelassene Kinderärzte?
5. Wie stellt sich die Lage von Kindern in Bagdad bezüglich Menschenhandel, Bettelei und Drogenkriminalität und sexueller Ausbeutung dar? Welche Statistiken zu Gewalt/Verbrechen an Kindern bestehen für Bagdad und was sagen diese aus? Schreitet die Polizei bei derarti-gen kriminellen Handlungen ein?
6. Bestehen Anzeichen dafür, dass es in Bagdad zu Kinderarbeit kommt? Wenn ja, was sind die Ursachen? In welchem Ausmaß findet Kinderarbeit statt, welche Gruppen sind da-hingehend gefährdet?
7. Liegen Erkenntnisse zu Jugendlichen, die wegen Terrorvorwürfen angeklagt oder ver-urteilt wurden, hinsichtlich Bagdad vor? Gibt es Hinweise darauf, dass Kinder und/oder Ju-gendliche von willkürlicher Gewaltausübung oder Behördenwillkür betroffen sind?
8. Liegen Erkenntnisse zur gewaltsamer Rekrutierung und Verwendung von Kindern durch bewaffnete Gruppen in Bagdad vor?
9. Haben Familien in Bagdad Zugang zum Nahrungsmittelverteilungssystem PDS? Wie hoch sind die Rationen? Gibt es andere Hilfsangebote (staat-lich/privat/international/Hilfsorganisationen), die von bedürftigen Familien mit Kindern in Anspruch genommen werden können?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch unter den eingrenzenden Parametern – Nicht-IDP-Kinder in Bagdad, begrenzt auf den Zeitraum 16.5.2019 bis 31.8.2020 - nur wenige Informationen gefunden werden. Gesucht wurde mittels Google, Yandex mit den Suchbegriffen und deren Kombinationen: Kinder, Minderjährige, Bagdad, Armut, vulnerabel, Gesundheitsversorgung, häusliche Gewalt, Übergriffe, Straßenkinder, Heirat, Versorgung, Lebensmittel, Wasser und Schule.
[…]
Zusammenfassung:
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass alle vom UN-Welternährungsprogramm erfassten Lebensmittel in Bagdad weithin verfügbar waren, allerdings zu abnorm hohen Preisen. Als Resultat der COVID-Krise in Kombination mit der Wirtschafts- und Finanzkrise ist jedoch die Armutsrate im Irak von 20 auf über 30 Prozent gestiegen. Den stärksten Zuwachs erfuhr der Zentral-Irak mit Bagdad, der – mit Ausnahme der Kurdenregion – relativ besser dasteht als die anderen Großregionen. Kinder unter 18 Jahren sind mit einem höheren Anstieg der Armut konfrontiert, Bei Kindern liegt das Vulnerabilitäts-Ausmaß bei 48,8 Prozent. Familien mit mehr als sieben Mitgliedern, insbesondere Familien mit mehr als einem Kind, weisen eine hohe Vulnerabilitäts-Rate auf. Im Schulbereich stellen der Mangel an schulischen Einrichtungen, Lehrern und die Defizite in den Lehrplänen im ganzen Land – in Bagdad zu einem vergleichsweise geringeren Teil - weiterhin ein Problem dar. Verschärft durch die COVID-19-Krise ist es zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt gegenüber Kindern gekommen, insbesondere in den Städten. Zwangsehen und insbesondere Ehen auf Zeit von minderjährigen Mädchen - auch in Bagdad - letztere von Experten als versteckte Form der Prostitution betrachtet, sind illegal, kommen aber weiterhin vor. Diese werden oft durch islamische Kleriker unter Geldannahme vermittelt und geschlossen und durch die ökonomische Krise, in denen sich Familien befinden, gefördert. Die Behörden ignorieren entweder Fälle von sexuell ausgebeuteten Kinder oder behandeln die Minderjährigen oft als Kriminelle und nicht als Opfer.
Der nichtamtliche Sachverständige XXXX , ein in XXXX lebender bis 2017 in XXXX lebender Historiker, erstattete nachfolgende Anfragebeantwortung vom 10.08.2020:
Zusammengefasst ergibt sich aus der Anfragebeantwortung des nichtamtlichen Sachverständigen vom 10.08.2020 somit, dass sich das Wohnortviertel der Beschwerdeführer, XXXX bzw. XXXX , im Südosten von Bagdad befindet. Bis zum Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 war das Viertel überwiegend von Sunniten und Christen bewohnt, die jedoch im Zuge der Religionskriege 2005-2006 systematisch aus dem Viertel verdrängt wurden, welches seither und auch aktuell überwiegend durch Schiiten und nur einer geringen Anzahl von Christen bewohnt wird, die in der örtlichen chaldäische Kirche arbeiten. Die aktuelle Sicherheitslage in Bagdad XXXX ist sicher und es kommt zu keinen direkten Drohungen, Verfolgungen oder kriminellen Aktivitäten irgendwelcher Art gegen Menschen, die aktuell im Viertel leben oder aus anderen Städten bzw. aus dem Ausland, wie etwa Europa, zurückkehren, außer, die betroffene Person ist selbst in kriminelle Handlungen verwickelt. Das Leben im Viertel XXXX hat sich seit 2018 aktiv verbessert, insbesondere infolge der Rückkehr der christlichen Kirche. Die einzigen Menschen, für welche die Rückkehr aus anderen irakischen Städten oder Europa nach XXXX ein Risiko darstellt, sind sunnitische Muslime. Im Gegensatz zu anderen Distrikten Bagdads, wie etwa Al-Sadre City oder Al Husainiyya ist es für Kinder im Viertel XXXX sehr unwahrscheinlich, Opfer häuslicher Gewalt zu werden, wobei dies auch immer von der jeweiligen Familie abhängig ist und nicht von der Allgemeinheit. XXXX ist im Vergleich zu anderen Distrikten und Vierteln Bagdads durch die irakischen Sicherheitskräfte gut gesichert. Willkürliche Akte der Sicherheitsbehörden gegen Zivilisten kommen im gesamten Irak vor, so auch in Bagdad, sind aber insbesondere dort derzeit auf das Vorgehen gegen die Protestbewegung seit Oktober 2019 beschränkt und richten sich nicht gegen Einzelpersonen. Konkret im Wohnortviertel XXXX waren die meisten Schulen durch die stattfindenden Proteste in Bagdad nicht beeinträchtigt. Schulschließungen in XXXX sind aktuell mit den Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 begründet, dies ist aber im gesamten Staatsgebiet der Fall. Mädchen können unabhängig vom Alter (somit auch jene, die 14 Jahre und älter sind) konkret in XXXX weiterführende Schulen (Sekundarstufe) besuchen und gibt es in XXXX auch reine Mädchenschulen sowie „Summer Schools“. Rückkehrende Kinder aus Europa müssen keine speziellen Voraussetzungen erfüllen, um wieder eine Schule in Bagdad zu besuchen. Die einzigen Voraussetzungen sind administrativer Art und zwar muss die Familie ihre Kinder in den jeweiligen Schulen anmelden und über die dafür generell notwendigen Unterlagen verfügen. Zur Versorgungssituation von Kindern lässt sich der Anfragebeantwortung entnehmen, dass die Bevölkerung in XXXX durchschnittlich nicht besonders reich, aber auch nicht arm ist. Einige Familien leiden an Armut, dies betrifft jedoch den gesamten Irak und beschränkt sich nicht auf das Viertel XXXX in Bagdad. Es sind genügend Geschäfte in XXXX und auch allgemein in Bagdad vorhanden. Dinge des täglichen Bedarfs sind zu vernünftigen Preisen in XXXX erhältlich und grundsätzlich für die Einwohner leistbar. Der Distrikt verfügt über mehrere medizinische Zentren und ist eine medizinische Behandlung auch für Kinder zugänglich. Frauen im Irak tragen generell Hijab, es ist kein nur Schiiten treffendes Spezifikum. Es entspricht den Tatsachen, dass manche Familien ihr Töchter ab etwa einem Alter von 14 Jahren dazu zwingen, einen Hijab zu tragen. Zwingt die Familie die Tochter jedoch nicht dazu, ist es in Ordnung, wenn kein Hijab getragen wird. Traditionelle Kleidung („Abaya“) wird in XXXX seit dem demografischen Umbruch und der überwiegenden Besiedelung durch Schiiten getragen, jedoch gibt es keine Konsequenzen, falls diese nicht getragen wird, außer die eigene Familie setzt Sanktionen gegenüber ihrer Tochter. Kinderehen sind zu einer großen Herausforderung unter der schiitischen Bevölkerung im Irak geworden. Das aktuelle gesetzliche Alter für eine Heirat ist 18, jedoch erlaubt das Gesetz auch einem Richter die Eheschließung eines Mädchens ab 15 Jahren in „dringenden“ Fällen und wenn die Familie die Eheschließung akzeptiert, zu genehmigen. Verweigert die Familie jedoch die Zustimmung, kann kein Mädchen zur Eheschließung gezwungen werden.
Aus der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 20.01.2021 zur aktuellen Sicherheitslage und allgemeinen Gefährdungslage in Bagdad ergibt sich Folgendes:
Aktuelle Sicherheitslage in Bagdad:
Die folgenden Informationen konzentrieren sich auf die Sicherheitslage in Bagdad in den Jahren 2019 und 2020 in Bezug auf ZivilistInnen. Informationen zu Übergriffen auf, Tötungen und Verschwindenlassen von AktivistInnen und TeilnehmerInnen der in Bagdad stattgefundenen Proteste im selben Zeitraum sowie Details zu den Attacken von pro-iranischen Gruppierungen auf US-amerikanische Angriffsziele sind in dieser Anfragebeantwortung nicht inkludiert.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zitiert in einem Entscheidungstext vom Oktober 2020 das deutsche Auswärtige Amt, das im Jänner 2019 folgende Angaben zur generellen Sicherheitslage im Irak macht:
„Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).“ (BVwG, 15. Oktober 2020)
EASO beschreibt in einem COI-Bericht zur Sicherheitssituation im Irak vom Oktober 2020 die wichtigsten Sicherheitsentwicklungen im Irak in den Jahren 2019 und 2020. Diese seien die zunehmende Spannung zwischen dem Iran und den USA (EASO, Oktober 2020, S. 75) sowie die groß angelegten Demonstrationen in mehreren Städten, insbesondere in Bagdad (EASO, Oktober 2020, S. 76).
EASO listet eine Anzahl illustrativer Sicherheitsvorfällein Bagdad in den Jahren 2019 und 2020, bei denen ZivilistInnen zu den Opfern zählten. Diese inkludieren einen Selbstmordanschlag durch die Gruppe Islamischer Staat (IS) in Sadr City im Mai 2019, einen Selbstmordanschlag auf ein Spirituosengeschäft in Bagdad im Juni 2019, vier Bombenanschläge auf Geschäftsviertel im Osten, Süden, Westen und im Zentrum Bagdads im September 2019, zwei Motorradbomben und ein IED (improvised explosive device, eine unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung) in Al-Sha’ab, Bayaa und Baladiyyat im November 2019, sieben IED-Angriffe in verschiedenen Stadtteilen Bagdads im Februar 2020, und eine IED-Explosion in einem Kleinbus im Mai 2020. (EASO, Oktober 2020, S. 79- 80)
Laut Informationen, die die UNO-Unterstützungsmission für den Irak (UNAMI) mit EASO geteilt hat, seien 2019 in Bagdad bei 42 Angriffen 37 ZivilistInnen getötet und 13 verletzt worden. In der ersten Hälfte 2020 (Jänner bis Juli) bei vier Angriffen drei ZivilistInnen getötet und fünf weitere verletzt worden. (EASO, Oktober 2020, S. 80-81)
ACCORD veröffentlicht im Oktober eine Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) zum 2. Quartal 2020 auf, woraus folgendes hervorgeht:
„In Baghdad wurden 71 Vorfälle mit 19 Toten erfasst und an folgenden Orten lokalisiert: Al Wahdah, Al Yusufiyah, Ar Rashidiyah, At Tarmiyah, Az Zaydan, Baghdad, Baghdad - Adhamiya, Baghdad - Al Rashid, Baghdad - Kadhimiya, Baghdad - Karadah, Baghdad - Karkh, Baghdad - Mansour, Baghdad - Rusafa, Baghdad - Sadr City, Baghdad International Airport, Madain, Nahrawan, Taji, Zawbaa.” (ACCORD, 28. Oktober 2020, S. 5)
Das Overseas Security Advisory Council (OSAC) gibt in einem Bericht zu Kriminalität und Sicherheit in Bagdad von 2020 an, dass es nach dem erklärten Sieg des Irak über den IS im Dezember 2017 einen starken Rückgang an Terroranschlägen gegen Zivilisten sowie irakische Sicherheitskräfte in städtischen Bereichen gegeben habe. Das Bedrohungsniveau sei jedoch weiterhin hoch. In Bagdad sei organisiertes Verbrechen, unkontrollierte Milizaktivität und Korruption nach wie vor ein gewaltiges Hindernis für das freie Unternehmertum und die Wirtschaft. (OSAC, 5. Dezember 2020)
Joel Wing beschreibt in einem Beitrag zur Sicherheitslage im November 2020 auf seinem Blog Musings on Iraq neuerliche Angriffe durch den IS. Fünf dieser Angriffe durch den IS seien im November in Bagdad durchgeführt worden. Zwei der Angriffe hätten sich im Süden und drei im Norden, alle in Vorstädten Bagdads, ereignet. Wing analysiert, dass der IS das Infiltrieren in die Hauptstadt selbst aufgegeben habe und nun kleine Angriffe auf die Peripherie der Stadt durchführe. Ein von Wing erstelltes Diagramm führt die Angriffe in Bagdad seit Jänner 2018 auf (siehe Anhang). Die Anzahl variiert laut diesem Diagramm von keinem Angriff im April 2020 bis zu 57 Angriffen im Februar 2018. Im Durschnitt verzeichnet Wing im Zeitraum 2019-2020 etwa 16 Anschläge pro Monat in Bagdad. (Wing, 3. Dezember 2020)
Für Dezember 2020 gibt Wing an, dass es in Bagdad 5 Anschläge geben habe, zwei davon von pro-iranischen Gruppierungen, und weist darauf hin, dass Anschläge normalerweise in den Außenstädten Bagdads vorkommen würden. (Wing, 30. Dezember 2020)
Gefährdungslage für minderjährige Kinder in Bagdad:
Die folgenden Informationen umfassen eine Vielzahl an Themenbereichen, die als Teil der Recherche nach Gefährdungen für Kinder in Bagdad aufgekommen sind, wie Kinderhandel, Entführung, Kinderehe und Kinderarbeit. Darunter sind auch ältere Quellen von 2016 bis 2018.
Die Iraqi Children Foundation beschreibt in einem Artikel vom August 2018 die Arbeit der "Baghdad Street Lawyers", einem Team von AnwältInnen und SozialarbeiterInnen, die sich darauf spezialisieren würden, Kinder, die Opfer von Menschenhandel sind, zu erkennen und zu unterstützen. Es werden Beispiele von Ausbeutung von Kindern genannt, die von den "Baghdad Street Lawyers" aufgedeckt worden seien: der Verkauf eines kleinen Mädchens an eine Bettlerin, Eltern, die ihre Töchter in die Prostitution verkauft hätten, der Versuch, einem Jugendlichen eine Niere abzukaufen, Zwang zur Prostitution von Minderjährigen und Zwang von unter Siebenjährigen, zu betteln. (Iraqi Children Foundation, 9. August 2018)
Middle East Eye (MEE) schreibt in einem Artikel vom Jänner 2017, dass kriminelle Banden in Bagdad ZivilistInnen entführen würden, um Lösegeld zu erpressen. Der Artikel beschreibt den Fall eines 14-jährigen Teenagers, Ali al-Khafaji, der aus dem Haus seiner Familie in Karrada, einem wohlhabenden Viertel Bagdads, entführt worden sei. Seine Eltern hätten das geforderte Lösegeld bezahlt, doch am nächsten Tag sei Alis Leiche gefunden worden. Laut dem Leiter des Provinzrates seien die Entführten oft Kinder und würden nach der Lösegeldzahlung getötet werden. (MEE, 4. Jänner 2017)
UN Women gibt 2018 bekannt, dass 27,9 Prozent der 20-24-jährigen Frauen im Irak schon vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet oder sich in einer eheähnlichen Verbindung befunden hätten. (UN Woman, 2018)
Das U.S. Department of Labor (USDOL), das für Arbeitsangelegenheiten zuständige Ministerium der USA, gibt fürs Jahr 2019 an, dass Kinder im Irak den schlimmsten Formen der Kinderarbeit ausgesetzt seien, einschließlich erzwungenem Betteln und kommerzieller sexueller Ausbeutung, die jeweils manchmal auf Menschenhandel zurückzuführen sei. USDOL führt eine Liste von Arten von Kinderarbeit an, die im Irak vorkommen würden. Diese inkludiert landwirtschaftliche Arbeit, Bauarbeiten, Tischlerarbeiten, Ziegelherstellung, Fabrikarbeiten, Arbeiten auf der Straße, an der Tankstelle und auf Mülldeponien, Hausarbeiten, Arbeiten in Hotels und Restaurants sowie auf Friedhöfen. Kinder würden weiters für illegale Aktivitäten wie Schmuggel eingesetzt, sie würden zum Betteln gezwungen, kommerziell sexuell ausgebeutet und von nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen für den Einsatz in bewaffneten Konflikten rekrutiert. (USDOL, 30. September 2020)
Laut UNICEF und den irakischen Statistikorganisationen seien in Bagdad im Jahr 2018 4,8 Prozent der 5 bis 17-jährigen in Kinderarbeit tätig gewesen. (UNICEF et al., Februar 2019)
The Arab Weekly beschreibt in einem Artikel vom März 2016 die Situation von Kindern, die auf Bagdads Straßen betteln oder Servietten und ähnliches verkaufen würden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Betteln sei auf den Straßen Bagdads üblich geworden. Der Artikel zitiert den stellvertretenden Direktor des Provinzrates von Bagdad, Atwan al-Atwani, der angibt, dass die Regierung nach 2003 keine klare Politik zur Bekämpfung der Armut entwickelt habe. Die lokale Regierung habe keine Daten zur Anzahl der Bettler und Straßenkinder. Das Phänomen habe zugenommen. Er habe gewarnt, dass die grassierende Armut die Zahl der Schulabbrecher, die Kriminalitätsrate sowie die Prostitution junger Mädchen habe ansteigen lassen. (The Arab Weekly, 4. März 2016)
In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen wurde außerdem nach Angriffen auf Schulen in Bagdad in Zeitraum 2019-2020 gesucht, doch es konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine Informationen gefunden werden. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass ein solches Ereignis nicht stattgefunden hat. Gesucht wurde mittels ecoi.net und Google nach einer Kombination aus folgenden Suchbegriffen: Bagdad, Schule, Angriff, Anschlag, Kinder auf Deutsch, Englisch und Arabisch.
Aus der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 20.01.2021 zur Versorgungslage ergibt sich Folgendes:
Aktuelle Versorgungslage in Bagdad (Lebensmittel, Wasser, Strom):
Ernährungssicherheit
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (World Food Programme, WFP) erstellte im April 2019 eine Karte der sozioökonomischen Situation der Bevölkerung Bagdads, die sich auf Erhebungen von 2016 und 2018 stützt. Laut WFP hätten 99 Prozent der Haushalte in Bagdad einen „akzeptablen Lebensmittelkonsum“. 53 Prozent der Haushalte seien „ernährungssicher“, 46 Prozent nur marginal ernährungssicher und 1 Prozent sei ernährungsunsicher. (WFP, 2019, S. 101)
WFP zusammen mit der Weltbank, IFAD (International Fund for Agricultural Development) und FAO (UN Food and Agricultural Organization) erstellte einen detaillierten Bericht zu Ernährungssicherheit im Irak im Zeitraum Juni bis August 2020 unter Berücksichtigung der Auswirkungen von COVID-19. Die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln sei aufgrund stetiger internationaler Lebensmittelhandelsströme und einer günstigen Inlandsproduktion stabil geblieben. Die Funktionalität des Lebensmittelmarktes und der Zugang der Haushalte zu Nahrungsmitteln hätten sich im Vergleich zum April kurz nach Beginn des Ausbruchs verbessert. Die Preisstabilität gebe laut den UNO-Organisationen und der Weltbank jedoch Anlass zur Sorge. Die Grundnahrungsmittelpreise hätten sich nicht wesentlich verändert. Die Preise für Gemüse - insbesondere für Tomaten - würden jedoch stark schwanken. (FAO/World Bank/WFP/IFAD, 23. September 2020, S. 2) Die Verfügbarkeit von Lebensmitteln sowie anderer Artikel sei im ganzen Land gut. (FAO, World Bank, WFP, IFAD, 23. September 2020, S. 18) Ökonomische Konsequenzen von COVID-19 sowie Bewegungseinschränkungen und Infektionsängste hätten jedoch den Zugang zu Lebensmitteln im Irak erschwert. Während 2016 rund 1,5% der Menschen mit unzureichendem Lebensmittelkonsum registriert worden seien, habe laut dem Hunger Monitoring System des WFP der Wert von April bis August 2020 zwischen 5 und 9,3 Prozent fluktuiert. Rund 13,7 Prozent der Befragten, was rund 5,3 Millionen Menschen entspreche, habe angegeben, am 9. August negative Bewältigungsstrategien zur Deckung ihres Lebensmittelbedarfs angewendet zu haben. Zusätzliche Gesundheits- und Hygienekosten würden dazu führen, dass Personen nicht genügend Lebensmittel für ihre Familie kaufen könnten. Der Tageslohn eines Hilfsarbeiters habe vor COVID-19 31 kg Weizenmehl kaufen können; das sei jedoch auf 27 kg gesunken. (FAO/World Bank/WFP/IFAD, 23. September 2020, S. 22)
WFP, World Bank, IFAD und FAO gaben in ihrem zweiwöchentlichen Update zur Ernährungssicherheit im Irak Mitte November 2020 an, dass laut des Mobile Vulnerability Analysis and Monitoring Systems von WFP rund 3 Millionen Menschen im ganzen Land mit unzureichendem Lebensmittelkonsum leben würden. Laut des irakischen Planungsministeriums sei die Armutsquote im Irak durch COVID-19 von 20 auf 30 Prozent gestiegen. In Bagdad hätten 10 Prozent der Bevölkerung unzureichenden Lebensmittelkonsum. 9,8 Prozent der landesweit Befragten würden negative Bewältigungsstrategien zur Deckung ihres Lebensmittelbedarfs anwenden. 12 Prozent hätten Probleme mit dem Zugang zu Märkten. (FAO, WFP, World Bank, IFAD, 16. November 2020, S. 8)
Wasserversorgung
Laut dem WFP hätten basierend auf Erhebungen von 2016 70 Prozent der Bevölkerung Bagdads kontinuierliche Verfügbarkeit von Trinkwasser und 91 Prozent würden ihr Wasser vom allgemeinen Wasserversorgungsnetz erhalten, die restlichen 9 Prozent von in Flaschen abgefülltem Wasser. (WFP, 2019, S. 101)
Im Vergleich dazu veröffentlichen die staatlichen Einrichtungen Iraks folgende Zahlen: Die zentrale Statistikorganisation (Central Statistical Organization Iraq, CSO) gibt auf ihrer Webseite zu einer Erhebung der Situation von Bagdad 2018 an, dass 86,9 Prozent der Einwohner Bagdads 2017 mit Trinkwassernetzen versorgt seien, und 75,9 Prozent der Einwohner mit einem Abwassersystem. (CSO, ohne Datum a) Das irakische Planungsministerium (Ministry of Planning, MOP) veröffentlicht im Juni 2018 einen National Development Plan, laut dem der Prozentsatz der Bevölkerung, der mit reinem Trinkwasser versorgt werde, in Bagdad bei 100 Prozent liege. (MOP, Juni 2018, S. 160) Das Abwassersystem in Bagdad sei alt und habe seine Lebensdauer überschritten. Es leide unter vielen Problemen, insbesondere in Regenperioden. Es sei nicht in der Lage, die täglichen Wassermengen zu absorbieren, insbesondere angesichts beispielloser Regenfälle im Zusammenhang mit dem Klimawandel, die die Entwurfs- und Notfallberechnungen überschreiten würden. Ende 2016 sei 90% der Bevölkerung mit Kanalisation ausgestattet gewesen. Die restlichen 10% würden viele Nichtwohn- und Landwirtschaftsgebiete umfassen. (MOP, Juni 2018, S. 163)
Die Weltbank berichtet im Jänner 2018, dass die EinwohnerInnen von Bagdad vor allem in den heißen Sommermonaten mit täglichen Unterbrechungen der Wasserversorgung zu kämpfen hätten. Bagdad sei von Ausbrüchen von durch Wasser übertragenen Krankheiten betroffen. Das Trinkwassernetzwerk sei durch Abwasser kontaminiert. Kontaminierte Wasserversorgung und unsachgemäße Entsorgung von Abwasser würden Familien dazu zwingen, einen erheblichen Teil ihres Einkommens für die medizinische Behandlung und Wasser in Flaschen auszugeben. (World Bank, 31. Jänner 2018)
Das Enabling Peace in Iraq Center (EPIC) schreibt in einem Artikel über die Wasserkrise im Irak vom Juli 2017, dass das Trinkwasser oft von schlechter Qualität sei. Dies führe zur Verbreitung von durch Wasser übertragbaren Krankheiten wie Typhus, Ruhr, Hepatitis B und Cholera. Bagdad sei auch von dieser Wasserverschmutzung betroffen. In Bagdads Sadr City sei es zum Beispiel nur möglich, sauberes Wasser in Flaschen abgefüllt zu erhalten. Dies sei aber für viele der ärmeren EinwohnerInnen zu teuer. (EPIC, 18. Juli 2017)
Stromversorgung
Al-Jazeera zitiert in einem Artikel von 2018 EinwohnerInnen Bagdads, die regelmäßige Stromausfälle in der Hauptstadt beschreiben. Laut einer 42-jährigen Mutter von vier Kindern aus Shawaka gebe es in ihrem Stadtteil im Sommer nur zwei bis vier Stunden Strom pro Tag. Die Häufung der Stromausfälle sei von Stadtteil zu Stadtteil unterschiedlich. Einige Haushalte würden nur vier Stunden Strom pro Tag erhalten, andere bis zu 20. Einwohner, die es sich leisten könnten, würden daher auf Generatoren zurückgreifen. Ein Generator versorge 70 Haushalte. Der Generator schalte sich automatisch ein, sobald der Strom ausfalle. Laut dem Inhaber eines solchen Generators liefere der Generator zwischen 500 und 600 Ampere Strom pro Monat, wobei jedes Ampere für 25,000 Irakische Dinar (umgerechnet etwa 14,15 Euro, Anm. ACCORD) verkauft werde. Laut Al-Jazeera würde ein Haushalt durchschnittlich 125,000 Irakische Dinar (umgerechnet etwa 70,73 Euro, Anm. ACCORD) pro Monat ausgeben, um die Stromausfälle auszugleichen. Dies sei nicht für alle erschwinglich. (Al-Jazeera, 31. Juli 2018)
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations Children’s Fund, UNICEF) und die Weltbank veröffentlichen im Juli 2020 eine Analyse der Auswirkungen von COVID-19 auf Armut im Irak. Die Armut sei 2020 um 11,7 Prozent auf 31,7 Prozent gestiegen, im Vergleich zu 20,0 Prozent aus den Jahren 2017-2018. Kinder unter 18 Jahren seien mit einer höheren Armutsrate von 37,9 Prozent konfrontiert. (UNICEF/World Bank, Juli 2020, S. 22) Laut UNICEF und der Weltbank würden 42 Prozent der Bevölkerung in Hinblick auf mehr als einen der Aspekte des Vulnerabilitätsindex (Bildung, Gesundheit, Lebensbedingungen und finanzielle Sicherheit) Mängel aufweisen. Familien mit mehr als sieben Mitgliedern, insbesondere Familien mit mehr als einem Kind, würden mit mehr als 46 Prozent eine hohe Anfälligkeitsrate für Vulnerabilität aufweisen. (UNICEF/World Bank, Juli 2020, S. 23)
Aktuelle Wohnungsmarktsituation in Bagdad für eine 8-köpfige Familie
IOM erklärt in ihrem Länderinformationsblatt zum Irak aus dem Jahr 2019 Folgendes:
„Die Höhe der Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger. Stand 2019, liegt die Miete in KR-I [Region Kurdistan, Irak] Städten bei 200-750 USD für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage zum Mieten stieg, nahm die Nachfrage zum Kaufen ab. Diedurchschnittlichen Betriebskosten pro Monat sind wie folgt:
• Gas (8,000IQD) [4.53 Euro]
• Wasser (10-25,000IQD) [5.66 – 14.15 Euro]
• Öffentliche Elektrizität (30-50,000IQD) [16.97 – 28.29 Euro]
• Private oder nachbarschaftliche Generatoren (40-80,000IQD) [22.64 – 45.27 Euro] [...]
2. Unterstützung bei der Wohnungssuche Öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche besteht für Rückkehrende nicht. Dennoch sind private Immobilienfirmen vorzufinden.
3. Finanzielle Unterstützung
Die Regierung gewährte Kredite an Bürger/-innen für den Hausbau, solange diese ein Grundstück mit einer Mindestgröße von 100 m² besaßen. Derzeit ist diese Förderung jedoch eingestellt. Allerdings stellen einige Privatbanken Kredite für den Hausbau bereit:
• Al-Rasheed Bank
• Al-Rafideen Bank
• Iraqi Real Estate Bank
• National Bank of Iraq
• Iraqi Islamic Bank“ (IOM, 2019, S. 6)
ACCORD sprach mit zwei Immobilienmaklern sowie zwei privaten Vermietern in Bagdad und erfragte die Möglichkeit, kurzfristig ein Haus beziehungsweise eine Wohnung für eine 8-köpfige Familie anzumieten. Laut Auskunft eines Immobilienmaklers in Al Mansour, einem traditionell wohlhabenden Bezirk im Westen der Stadt, gebe es Mietmöglichkeiten für eine Familie dieser Größe. Ein Haus mit 100m² Grundfläche und drei Stockwerken, welches vier Schlafzimmer beinhalte, komme auf 1.000 Dollar (827.52 Euro) Miete pro Monat. Es gebe auch die Möglichkeit, ein Haus mit einer Grundfläche von 300m² und mit zwei Stockwerken zu mieten. Dieses komme auf 1.700 oder 1.800 Dollar (1,406.78 oder 1,489.53 Euro) Miete pro Monat. Die Immobilienagentur verrechne zusätzlich eine Monatsmiete für die Vermittlung. Eine Kaution gebe es nicht, doch sei es wahrscheinlich, dass die Vermieter darauf bestehen würden, mehrere Monatsmieten im Voraus bezahlt zu bekommen. Der potenzielle Mieter müsse seinen Ausweis, sowie seine Aufenthaltskarte vorlegen. (Immobilienmakler, 16. Jänner 2021)
Ein Immobilienmakler aus Al-Ghadeer, einem Mittelschichtsviertel im Osten der Stadt, erklärte gegenüber ACCORD, dass er momentan ein älteres Haus der gewünschten Größe zur Miete anbieten könne. Dies würde eine Million irakische Dinar (565,81 Euro) pro Monat ausmachen. Der Mieter m