TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/12 W159 2135846-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.03.2021
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Entscheidungsdatum

12.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W159 2135846-2/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.10.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.02.2021, zu Recht erkannt:

A)

I.

Der Beschwerde wird stattgegeben und die Spruchteile I., III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

II.

Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass dem Antrag vom 26.06.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 stattgegeben und XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für zwei Jahre erteilt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsbürger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, gelangte (spätestens) am 01.11.2015 nach Österreich und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am 02.11.2015 stattgefundenen Erstbefragung auf der Polizeiinspektion XXXX gab der Antragsteller zu seinen Fluchtgründen an, dass es die Afghanen im Iran schwer gehabt hätten und keine Aufenthaltsbewilligung bekommen hätten und ihn vor die Wahl gestellt hätten, entweder nach Syrien in den Krieg zu ziehen oder nach Afghanistan abgeschoben zu werden.

Am 02.08.2016 erfolgte nach Zulassung zum Asylverfahren eine Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich. Dabei gab der Antragsteller an, dass er seit dem 05.05.2007 verheiratet sei und eine Tochter und zwei Söhne habe. Seine Ehefrau würde mit seiner Mutter und seinen Kindern in XXXX im Iran leben. Er sei Diabetiker und sei zuletzt acht Tage im Krankenhaus gewesen und müsse jetzt Tabletten nehmen. Afghanistan habe er schon im Alter von zwei Jahren verlassen. Er wisse lediglich, dass er in der Provinz Ghazni gelebt habe. Zuletzt habe er keine Aufenthaltsberechtigungskarte mehr für den Iran gehabt. Seit seiner Ausreise aus Afghanistan im Alter von zwei Jahren sei er nicht mehr nach Afghanistan zurückgekehrt. Er sei im Iran aufgewachsen. Er sei Hazara und Schiit und sei fünf Jahre lang in XXXX in die Schule gegangen, habe am Bau und als Teppichknüpfer gearbeitet. Seine Frau sei auch Afghanin. Seine Schwiegereltern würden ebenfalls in XXXX leben. Er sei gemeinsam mit seinem Bruder XXXX nach Österreich gekommen. Im Iran würden seine Eltern und auch ein weiterer Bruder, der schon im Iran zur Welt gekommen sei, leben. Außerdem habe er dort auch einen Onkel mütterlicherseits. Seine Eltern seien seinerzeit wegen des Bürgerkrieges von Afghanistan in den Iran ausgereist. In Österreich besuche er einmal pro Woche einen Deutschkurs. Er helfe auch Österreichern, zum Beispiel bei Gartenarbeiten. Sonst lebe er von der Grundversorgung. In Österreich habe er noch eine Cousine mütterlicherseits, die ebenfalls im gleichen Flüchtlingsheim wohne.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 22.08.2016 wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchteil II. jedoch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und unter Spruchteil III. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 22.08.2017 erteilt. In den Feststellungen wurde nicht nur festgehalten, dass der Antragsteller afghanischen Staatsangehöriger, der Volksgruppe der Hazara zugehörig sei und schiitischen Glaubens sei, ursprünglich aus der afghanischen Provinz Ghazni stamme, jahrelang die Schule besucht habe und zuletzt im XXXX im Iran gelebt habe, sondern auch, dass er in Afghanistan über keinerlei Verwandte oder sonstige soziale Anknüpfungspunkte verfüge und bei der Rückkehr voraussichtlich in eine existentielle Notlage geraten würde. Nach Länderfeststellungen zu Afghanistan und Beweiswürdigung wurde es ausdrücklich als glaubhaft bezeichnet, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder als Kind bereits Afghanistan verlassen habe und dass sein Lebensmittelpunkt der Iran gewesen sei. Rechtlich begründend wurde zu Spruchteil I. ausgeführt, dass der Antragsteller nicht habe glaubhaft machen können, dass er in seinem Heimatstaat einer Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Zu Spruchpunkt II. wurde dargelegt, dass die Behörde von der realen Gefahr einer Bedrohung im Sinne des § 50 FPG ausgehe, da aus den Länderberichten der Staatendokumentation erschlossen werden müsse, dass Personen ohne soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan gefährdet seien, in eine existentielle Notlage zu geraten, zumal er in seiner Heimat über keinerlei Verwandte oder sonstige Kontakte verfüge und auch nicht ortskundig sei, weil er im Iran aufgewachsen sein. Zu Spruchpunkt III. wurde dargelegt, dass sich die befristete Aufenthaltsberechtigung aus der Gesetzesbestimmung des § 8 Abs. 4 AsylG ergebe.

Der Beschwerdeführer erhob gegen den abweisenden Spruchteil I. Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Dieses wies nach Durchführung einer Verhandlung am 29.09.2017 mit Erkenntnis vom 14.11.2017 zur Zahl XXXX die Beschwerde gemäß § 3 Asylgesetz 2005 als unbegründet ab, zumal der Beschwerdeführer keine asylrelevanten Gründe für das Verlassen Afghanistans habe glaubhaft machen können.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 04.08.2017, Zahl XXXX wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 22.08.2019 verlängert. Es wurde lediglich geschrieben, dass aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat in Verbindung mit dem Vorbringen das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als glaubwürdig gewertet werden habe können, Länderfeststellungen und Feststellungen zur Person wurden jedoch in dem Bescheid nicht getroffen.

Am 26.06.2019 beantragte der Beschwerdeführer neuerlich die Verlängerung des subsidiären Schutzes.

Am 27.09.2019 wurde er dazu vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich einvernommen. Der Antragsteller gab an, dass der Deutsch auf A2-Niveau spreche und dass er Tabletten wegen seines Blutzuckers nehmen müsse. Er könnte arbeiten gehen, finde aber derzeit keine Arbeit. Er habe bisher nur in Salzburg für drei Tage gearbeitet. Das AMS habe ihm gesagt, dass er mit einer Arbeit warten solle, bis er B1 habe. Er müsse alle drei Monate zum Arzt, um sich neue Tabletten zu besorgen. Seine Erkrankung behindere ihn bei einer eventuellen Arbeitstätigkeit aber nicht. Der Beschwerdeführer wiederholte, dass er der Volksgruppe der Hazara angehöre und schiitischer Moslem sei, am XXXX in der Provinz Ghazni geboren sei und im Alter von ungefähr ein bis zwei Jahren mit seiner Familie in den Iran gereist sei. Dort habe er die Schule besucht und als Bauarbeiter und Teppichknüpfer gearbeitet. In Herat oder Mazar-e Sharif sei er noch nie gewesen. Seine Frau, eine Tochter, zwei Söhne, seine Mutter und sein Bruder würden in XXXX leben, ein Bruder lebe in Österreich. Sein Vater sei bereits verstorben. Sein Bruder in Österreich sei subsidiär schutzberechtigt. Er habe Kontakt zu seiner Familie. Sein jüngerer Bruder kümmere sich um die gesamte Familie. Er könne derzeit ohne Job seine Familie nicht unterstützen. Er habe keine Angehörigen mehr in seinem Heimatland und einen Onkel mütterlicherseits im Iran. In Österreich habe der Deutschkurse besucht und drei Tage als Abwäscher gearbeitet. Seinen Bruder sehe er ca. einmal im Monat. Dieser lebe in Wien. Sein Bruder habe einen Schlaganfall erlitten und sei seither gelähmt. Weitere in Österreich zum dauernden Aufenthalt berechtigte Verwandte habe er nicht. Er lebe von der Sozialunterstützung und wohne zu dritt in einer Mietwohnung. Derzeit besuche er keine Kurse, er sei auch nicht bei Vereinen oder sonstigen Organisationen Mitglied. Bei einer Rückkehr in sein Heimatland fürchte er sich vor der schlechten Sicherheitslage. Die Taliban wären in allen Provinzen, auch in Herat oder Mazar-e Sharif.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.10.2019, Zl. XXXX wurde unter Spruchteil I. der mit Bescheid vom 22.08.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt, unter Spruchteil II. der Antrag vom 26.06.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen, unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt IV. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt V. festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und unter Spruchpunkt VI. die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgelegt.

In der Begründung des Bescheides wurde (kurz) der bisherige Verfahrensgang und die oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebene Einvernahme dargestellt. Zu den bisher bekannten Feststellungen zur Person wurde auch festgestellt, dass der Antragsteller eine Person mit rascher Auffassungsgabe sei, anpassungsfähig und anpassungswillig sei und durch Flexibilität und Aufgeschlossenheit überzeugen würde. Diese positiven persönlichen Eigenschaften seien der Behörde zum Zeitpunkt der Schutzgewährung nicht bekannt gewesen. Im vorliegenden Fall liege wohl eine Gefährdungslage in Bezug auf die unmittelbare Heimatprovinz, nicht jedoch für ganz Afghanistan vor und könne der Antragsteller eine inländische Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat in Anspruch nehmen. Er würde zu seinem Bruder, der subsidiär schutzberechtigt sei und in einer Pflegeeinrichtung, lebe nur sporadischen Kontakt pflegen. In der Folge wurden Feststellungen zur Situation in Afghanistan getroffen. Die Behörde ist von der afghanischen Staatsangehörigkeit, der schiitisch-moslemischen Religionszugehörigkeit und der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara ausgegangen. Der Beschwerdeführer sei wohl an Diabetes erkrankt, aber grundsätzlich arbeitsfähig und seien diesbezügliche Medikamente auch im Heimatland erhältlich. Diesbezüglich wurde nach Darlegung der Bezug habenden Rechtslage und Judikatur insbesondere darauf hingewiesen, dass die Behörde Eigenschaften in der Person des Antragstellers, die bereits im Zeitpunkt der Zuerkennung vorgelegen wären, fälschlicherweise nicht berücksichtigt habe, weiters wurde ausgeführt, dass die Judikatur von einer weitreichenden Möglichkeit der Durchbrechung der Rechtskraft ausgehe. Eine aktuelle Prüfung hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes vorzunehmen und habe zwar für das unmittelbare Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers in der Provinz Ghazni eine reale Gefahr im Sinne der Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK festgestellt werden können, es habe jedoch nicht festgestellt werden können, dass dem Beschwerdeführer keine innerstaatliche Fluchtalternative offen stünde. Nach der Rechtsprechung des VwGH stehe einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der die Landessprachen Afghanistans beherrsche und mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei, die innerstaatliche Fluchtalternative, insbesondere in Mazar-e Sharif oder Herat offen und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt habe und keine Angehörigen in Afghanistan habe.

Zur Person des Beschwerdeführers wurde insbesondere hervorgehoben, dass es sich bei ihm um eine Person mit rascher Auffassungsgabe handle, der durch Flexibilität und Aufgeschlossenheit überzeuge und sich anpassungsfähig und anpassungswillig darstelle. Schließlich wurde ausgeführt, dass die nunmehrige Entscheidung keineswegs von einer Änderung der Rechtslage alleine getragen sei, sondern von einer Aktualisierung des Kenntnisstandes der Behörde zur allgemeinen Situation im Heimatland. Insbesondere habe das Ermittlungsverfahren spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten zu Tage gebracht, die im Zeitpunkt der Zuerkennung des Status keine Berücksichtigung gefunden hätten. Es sei daher der Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 1. Fall AsylG abzuerkennen gewesen (Spruchpunkt I.). Demgemäß sei auch der Verlängerungsantrag abzuweisen gewesen (Spruchpunkt III.) Weiter lägen keine der drei Voraussetzungen des § 57 AsylG vor und sei auch diesbezüglich kein Aufenthaltstitel zu erteilen gewesen. Zu Spruchpunkt IV. wurde insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller über keine Verwandtschaft, die zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigt sei, verfüge. Der Bruder lebe in einer Pflegeeinrichtung, es habe jedoch keine intensive Bindung zu seinem Bruder festgestellt werden können, da er nicht einmal den Ort, wo sich diese Pflegeeinrichtung befinde, habe nennen können. Der Beschwerdeführer verfüge auch über wenige Deutschkenntnisse und lasse jegliches Interesse an einer besseren Integration in Österreich vermissen, da er bisher nur drei Tage lang werktätig gewesen sei. Weiters verfüge er über keinerlei enge Kontakte zu Österreichern. Es seien daher insgesamt keine Anhaltspunkte hervorgetreten, die die Vermutung einer besonderen Integration der Person des Beschwerdeführers rechtfertigen würden. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen sei daher nicht zu erteilen gewesen und eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Da keine Gefährdung im Sinne des § 50 FPG vorliege und auch einer Abschiebung nach Afghanistan keine Empfehlung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entgegenstehe, sei eine solche als zulässig zu bezeichnen (Spruchpunkt V.). Weiters wären keine Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise hervorgekommen (Spruchteil VI.)

Gegen diesen Bescheid erhob der Bescheidadressat, vertreten durch die XXXX fristgerecht gegen alle Spruchteile Beschwerde. Gerügt wurde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, insbesondere zur Behandlung der Diabeteserkrankung, da einer Anfragebeantwortung von ACCORD zur Behandlung von Diabetes in Afghanistan zu entnehmen sei, dass dort Diabetes zwar grundsätzlich behandelbar sei, es jedoch an Medikamenten mangle und diese nur zu hohen Preisen erhältlich wären. Der Beschwerdeführer wäre nicht in der Lage, die finanziellen Mittel für teure Medikamente aufzubringen und würden ihm im Falle einer Rückkehr massive gesundheitliche Probleme drohen. Außerdem erschließe sich der Hintergrund der Feststellung, der positiven persönlichen Eigenschaften des Beschwerdeführers (rasche Auffassungsgabe, anpassungsfähig und anpassungswillig, überzeuge mit Flexibilität und Aufgeschlossenheit), die zwar schon zum Zeitpunkt der Schutzgewährung vorgelegen wären, aber der Behörde nicht bekannt gewesen wären, nicht. So habe die Behörde die angewandte Gesetzesbestimmung im Sinne der Judikatur des EuGH falsch beurteilt und habe die Durchführung einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterlassen. Schließlich wurde auch ausgiebig aus Länderberichten, insbesondere dem EASO-Bericht vom Juni 2019 zitiert und daraus der Schluss gezogen, dass sich die Situation in Afghanistan, insbesondere für Rückkehrer verschlechtert habe. Aus dem Gutachten der Sachverständigen Friederike STAHLMANN sei belegt, dass die Zugehörigkeit zu einem sozialen Netzwerk essentiell sei, um Zugang zu grundlegenden Leistungen bekommen zu können und seien die Aufnahmekapazitäten der Provinzhauptstädte Herat und Mazar-e Sharif stark überlastet und komme es auch zu gezielten Angriffe auf Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Zusammenfassend wurde ausgeführt, dass sich die familiären und sozialen Umstände des Beschwerdeführers seit dem Zeitpunkt des Zuerkennungs- bzw. Verlängerungsbescheides nicht wesentlich verändert hätten und insgesamt keine Aberkennungsgründe vorlägen. Schließlich wurde zur Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung ausgeführt, dass sich der Beschwerdeführer seit über vier Jahren legal im österreichischen Bundesgebiet aufhalte, diverse Kurse besucht habe und sich Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 angeeignet habe und intensiv über das AMS auf Arbeitssuche sei, wodurch die Bindungen zu Österreich wesentlich stärker wären als jene zu Afghanistan, das er bereits im Kleinkindalter verlassen habe und wo er über keine Anknüpfungspunkte verfüge. Es wäre ihm daher eine Aufenthaltsberechtigung nach § 55 AsylG zu erteilen gewesen. Schließlich wurde unter Hinweis auf die Judikatur des VwGH und des VfGH zu § 47 GRC ausdrücklich die Abhaltung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.

Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine solche für den 25.02.2021 an, bei der der Beschwerdeführer ohne Vertreter erschien und ausdrücklich angab, dass er auch ohne einen solchen an der Verhandlung teilnehmen könne. Der Beschwerdeführer gab an, dass er seit Jänner 2020 im Wege über die Firma XXXX bei der Firma XXXX in der Käseproduktion als Leiharbeiter arbeite, unter Diabetes leide und regelmäßig zum Arzt gehen müsse und regelmäßig Medikamente einnehmen müsse, aber über keine neuen ärztlichen Befunde verfügen würde.

Er hielt sein bisheriges Vorbringen und die Beschwerde aufrecht. Er habe alles vorbringen können. Er möchte nur ergänzen, dass festgestellt wurde, dass sein Sohn taub sei. Er sei Hazara und schiitischer Moslem, übe aber seine Religion in Österreich nicht aus, habe sich aber auch nicht gänzlich vom Islam losgesagt. Er sei im Dorf XXXX in der Provinz Ghazni geboren, aber im Iran aufgewachsen. Sein richtiges Geburtsdatum wisse er nicht. Er sei mit dem von der Behörde festgelegten Geburtsdatum einverstanden und es stimme, dass er 32 Jahre alt sei. Bereits im Alter von zwei bis drei Jahren habe er mit seiner Familie Afghanistan verlassen und sei nach XXXX im Iran gezogen. Seit dem Jahr 1990/1991 sei er niemals mehr in Afghanistan gewesen. Er könne sich auch in keiner Weise mehr an Afghanistan erinnern und habe dort auch keine Probleme mit staatlichen Behörden, bewaffneten Gruppierungen oder Privatpersonen gehabt, weil er nur als Kleinkind in Afghanistan gewesen sei. Die Mutter habe ihm erzählt, dass sie Afghanistan wegen des Bürgerkrieges verlassen hätten. Seine Mutter lebe noch, sein Vater sei bereits verstorben. Sein Vater hätte unter einer Leberkrankheit gelitten und sei schon vor vielen Jahren im Iran verstorben. Seine Mutter lebe mit seiner Familie und seinem Bruder im XXXX . Er habe nur bis zur fünften Klasse die Schule im Iran besucht und dann begonnen, zu arbeiten. Im Iran habe er als Gips- bzw. Fassadenarbeiter gearbeitet. Weiters habe er auch allgemein auf Baustellen gearbeitet. Er sei auch als Teppichknüpfer tätig gewesen und habe auch Teppiche repariert. Er habe im Iran einen befristeten Aufenthaltstitel besessen, den man alle drei Monate hätte verlängern müssen. Die letzten Jahre habe er diesen aber nicht mehr verlängert, weil die Kosten dafür zu hoch gewesen wären. Er habe vor ca. 13 Jahren geheiratet. Seine Tochter sei zwölf Jahre, sein Sohn zehn Jahre und sein jüngerer Sohn ca. sechs Jahre alt. Der Grund für die Ausreise aus dem Iran sei der gewesen, dass die iranische Regierung damals Afghanen nach Syrien geschickt habe bzw. nach Afghanistan wieder zurückgeschoben habe. Er selbst habe persönlich keine Probleme mit der Polizei im Iran gehabt, aber ein Onkel mütterlicherseits und viele seiner Freunde und Verwandten seien festgenommen und in den Krieg geschickt worden. Davor habe er Angst gehabt und wäre er deswegen ausgereist. Er habe seine Familie nicht mitgenommen, da sein jüngster Sohn damals ein Baby gewesen sei. Seine Frau habe beschlossen, im Iran zu bleiben, aber ihn gleichzeitig gebeten, den Iran zu verlassen und sie später nachzuholen. Er sei gemeinsam mit seinem älteren Bruder nach Österreich gereist. Dieser sei aber zwischenzeitig gelähmt. Der Beschwerdeführer lebe seit fünf Jahren in Österreich und sei nur zweimal ca. einen Monat lang in den Iran gereist, um seine Familie zu besuchen. In Afghanistan habe er weder Familienangehörige noch Verwandte noch Freunde und sei auch sonst mit niemandem mehr in Afghanistan in Kontakt. In Kontakt stehe er nur mit seiner Frau, aber auch seine Kinder, seine Mutter, sein Bruder und dessen Familie würden alle zusammen im Iran leben. Sie hätten kein einfaches Leben. Sein Bruder müsse sich um die gesamte Familie kümmern. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan könnten sie ihn vom Iran aus nicht unterstützen. Sie bräuchten selbst Unterstützung. Er schicke ihnen auch ab und zu aus Österreich Geld.

Er leide unter Diabetes. Nach dem Aberkennungsbescheid sei es ihm auch psychisch sehr schlecht gegangen. Er habe auch Haarausfall und könne sich schwer konzentrieren. Als er die Nachricht von der Diabeteserkrankung erhalten habe, sei er ca. einem Monat stationär im Krankenhaus gewesen und habe Insulinspritzen bekommen müssen. Jetzt nehme er nur Medikamente und sei in regelmäßiger ärztlicher Behandlung und bekomme seine Medikamente. Er müsse diese sein ganzes Leben einnehmen. In psychotherapeutischer Behandlung sei er nicht. Zu seinem Bruder in Österreich habe er keinen Kontakt, weitere Verwandte habe er in Österreich nicht. Die Frau seines Bruders lebe auch in XXXX . Er arbeite 40 Stunden die Woche bei der Firma XXXX , Freizeit habe er kaum. In Österreich habe er Deutschkurse bis A2 besucht, Deutschdiplome A1 und A2 erworben, weitere Qualifikationen habe er nicht erworben. Er möchte unbedingt die Lenkerberechtigung der Klasse B machen. Er sei bis jetzt in einer Stresssituation gewesen und habe noch nicht mit der Ausbildung begonnen. Zurzeit lebe er mit einem Freund in einer Mietwohnung, die ca. 35 m2 groß sei. Bei Vereinen und Institutionen sei er nicht Mitglied. Österreichische Freunde habe er auch nicht, aber er habe österreichische Arbeitskollegen.

Gefragt, was mit ihm geschehen würde, wenn er nach Afghanistan zurückkehren würde, gab er an, dass es dort sehr gefährlich sei, weil dort Krieg herrsche. Er kenne sich dort nicht aus und habe auch niemanden dort. Auf Vorhalt, dass er relativ jung, einigermaßen gesund und arbeitsfähig sei und Schulausbildung und Berufserfahrung habe, ob er sich nicht in Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen könne, gab er an, dass er nicht gesund sei und regelmäßig Medikamente einnehmen müssen und zum Arzt müsse. Er habe niemanden in Afghanistan und herrsche dort Krieg. Ein weiteres Vorbringen hatte er nicht. Verlesen wurde der aktuelle Strafregisterauszug des Beschwerdeführers, in dem keine Verurteilung aufscheint.

Der Dolmetscher gab an, dass der Beschwerdeführer eher Farsi, als Dari spricht.

Den Verfahrensparteien wurde das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020 (soweit verfahrensrelevant) zur Kenntnis gebracht. Der Beschwerdeführer nahm das Länderinformationsblatt zur Kenntnis und verzichtete auf die Abgabe einer Stellungnahme.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat, wie folgt, festgestellt und erwogen:

1. Feststellungen:

Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Er übt seine Religion in Österreich nicht aus, hat sich aber nicht gänzlich vom Islam losgesagt. Er wurde am XXXX in dem Dorf XXXX in der Provinz Ghazni in Afghanistan geboren, hat jedoch nur bis zum 2./3. Lebensjahr in Afghanistan gelebt und ist dann mit seinen Eltern nach XXXX im Iran übersiedelt. Er war seither nicht mehr in Afghanistan. Er hat im Iran bis zur fünften Klasse die Schule besucht und hat dann als Bauarbeiter, Teppichknüpfer bzw. Teppichinstandsetzer gearbeitet. Der Beschwerdeführer hatte in Afghanistan keine Probleme mit staatlichen Behördenorganen, bewaffneten Organisationen wie den Taliban oder Privatpersonen, weil er nur als Kleinkind in seinem Herkunftsland war. Im Iran verfügte er über einen befristeten Aufenthaltstitel, konnte diesen jedoch aus finanziellen Gründen die letzten Jahre nicht mehr verlängern. Er hat vor ca. 13 Jahren eine ebenfalls im Iran lebende Afghanin geheiratet und mit dieser drei Kinder, Tochter, zwölf Jahre, ein Sohn zehn Jahre, ein Sohn sechs Jahre (welcher taub ist). Seine Frau lebt mit den Kindern, ebenso wie seine Mutter und sein Bruder sowie dessen Familie, in XXXX . Sein Bruder erhält durch seine Arbeit die Familie. Seine Familienangehörigen wären aber nicht imstande, den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan vom Iran aus zu unterstützen, vielmehr bedürfen sie selbst der Unterstützung (die auch der Beschwerdeführer gelegentlich von Österreich aus leistet). Der Beschwerdeführer verfügt über keinerlei Familienangehörige, Freunde oder Verwandte mehr in Afghanistan und ist auch mit niemandem in Afghanistan in Kontakt. In Österreich lebt sein älterer Bruder XXXX , der über subsidiären Schutz verfügt. Dieser ist nach einem Schlaganfall gelähmt und bedarf dauernder Pflege. Der Beschwerdeführer hat jedoch keinen Kontakt mit ihm.

Der Beschwerdeführer leidet unter Diabetes, muss täglich Medikamente nehmen und bedarf regelmäßiger ärztlicher Betreuung. Darüber hinaus leidet er auch noch unter psychischen Problemen, ist jedoch diesbezüglich nicht in Behandlung. In Österreich hat der Beschwerdeführer lediglich Deutschkurse bis A2 besucht und auch die diesbezüglichen Diplome erworben (diese aber nicht vorgelegt). Er arbeitet 40 Stunden in der Woche als Leiharbeiter in der Käsefabrik XXXX . Er war nicht bei Vereinen oder Institutionen Mitglied und hat auch keine österreichischen Freunde, lediglich Arbeitskollegen. Weitere Qualifikationen hat er nicht erworben, er möchte jedoch in Österreich die Lenkerberechtigung B machen. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer durch besonders rasche Auffassungsgabe, Flexibilität und Aufgeschlossenheit auffällt, er ist jedoch trotz seiner Erkrankung arbeitswillig. Der Beschwerdeführer befindet sich seit zumindest 02.11.2015 in Österreich, zwar war er legal aufgrund des Asylantrages und anschließend aufgrund subsidiären Schutzes aufhältig. Er war nur zweimal, ca. vier Wochen auf Familienbesuch im Iran. Der Beschwerdeführer ist unbescholten.

Zu Afghanistan wird Folgendes festgestellt:

1. COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467 b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM .

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA

12.11.2020) . In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS

12.11.2020) . In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA

30.6.2020) , wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-und_abschiebungsrelevante_ Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.07.2020.pdf, Zugriff 20.9.2020

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (1.10.2020): Covid-19 in Afghanistan (7): The effects of the pandemic on the private lives and safety of women at home, https://www.afghanistan-analysts.org/ en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-7-the-effects-of-the-pandemic-on-the-private-lives-and-safety-of-women-at-home/, Zugriff 18.11.20020

•        F 24 (18.11.2020): https://www.flightradar24.com/38.14,61.2/4 , Zugriff 31.10.2020

•        Guardian, The (2.5.2020): Civil war, poverty and now the virus: Afghanistan stands on the brink, https://www.theguardian.com/world/2020/may/02/afghanistan-in-new-battle-against-ravages-of-covid -19 , Zugriff 28.9.2020

•        IMPACCT - IMPortation And Customs Clearance Together (14.8.2020): COVID-19 Afghanistan Bulletin n° 7-CIQP: 14 August 2020, https://wiki.unece.org/download/attachments/101548399/Af ghanistan_-jCOVID-19j-jCIQPjBulletin_7.pdf?version=1&modificationDate=1597746065204&a pi=v2 , Zugriff 18.11.2020

•        IOM - International Organization for Migration (23.9.2020): Information on the socio-economic situation in light of COVID-19 in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2039345.html , Zugriff 17.11.2020

•        IPS - Inter Press Service (12.11.2020): Despite Conflict and COVID-19, Children Still Dream to Continue Their Education in Afghanistan, http://www.ipsnews.net/2020/11/despite-conflict-covid-1 9-children-still-dream-continue-education-afghanistan/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=despite-conflict-covid-19-children-still-dream-continue-education-afghanistan, Zugriff 17.11.2020

•        Martin, Lucile / Parto, Saeed (11.2020): On Shaky Grounds - COVID-19 and Afghanistan's Social, Political and Economic Capacities for Sustainable Peace, https://www.fes-asia.org/news/on-shaky -grounds/, Zugriff 18.11.2020

•        NH - The New Humanitarian (3.6.2020): In Afghanistan, the coronavirus fight goes through Taliban territory, https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/06/03/Afghanistan-Taliban-coronavirus -aid , Zugriff 18.11.2020

•        NYT - New York Times, The (31.7.2020): Border Clashes With Pakistan Leave 15 Afghan Civilians Dead, Officials Say, https://www.nytimes.com/2020/07/31/world/asia/afghanistan-pakistan-border. html , Zugriff 17.11.2020

•        RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (21.8.2020): Pakistan Reopens Key Border Crossing With Afghanistan, https://gandhara.rferl.org/a/pakistan-reopens-key-border-crossing-with-afghanistan/ 30796100.html , Zugriff 17.11.2020

•        RW - Relief Web [Hall, Samuel] (9.2020): Brief report on the impact of COVID-19 on the situation of elderly people, https://www.ecoi.net/en/document-search/?asalt=8b1bb51cc9&country%5B% 5D=afg&country Operator=should&useSynonyms=Y&sort_by=origPublicationDate&sort_order=desc&cotent=Covid-19& page=5, Zugriff 17.11.2020

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian] (14.7.2020): Afghanistan: IOM- Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.html , Zugriff 17.9.2020

•        UNAMA- United Nations Assistance Mission in Afghanistan (10.8.2020): Afghanistan - PROTECTION OF CIVILIANS IN ARMED CONFLICT MIDYEAR REPORT: 1 JANUARY - 30 JUNE 2020, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_poc_midyear_report_2020_-_27_july-revi sed_10_august.pdf, Zugriff 18.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (12.11.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-covid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-12-0, Zugriff 17.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (15.10.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-covid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-15 , Zugriff 17.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (30.6.2020): Humanitarian Response Plan Afghanistan 2018-2021, https://www.who.int/health-cluster/countries/a fghanistan/Afghanistan-Humanitarian-Response-Plan-COVID-19-June-2020.pdf?ua=1, Zugriff 17.11.2020

•        WB - World Bank, The (28.6.2020): Awareness Campains Help Prevent Against COVID-19 in Afghanistan, https://reliefweb.int/report/afghanistan/awareness-campaigns-help-prevent-against-covid-19-afghanistan , Zugriff 19.11.2020

•        WHO - World Health Organisation (17.11.2020): Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard, https://covid19.who.int/region/emro/country/af, Zugriff 17.11.2020

•        WHO - World Health Organization (8.2020): Situation Report August 2020, http://www.emro.whoint/images/stories/afghanistan/situation-report-august2020.pdf?ua=1, Zugriff 20.10.2020

•        WHO - World Health Organisation (7.2020): AFGHANISTAN DEVELOPMENT UPDATE JULY 2020 - SURVIVING THE STORM, https://documents.worldbank.org/en/publication/documents-reports /documentdetail/132851594655294015/afghanistan-development-update-surviving-the-storm, Zugriff 19.11.2020

2. Politische Lage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Elec- tion Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Ca- solino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (1.10.2020): Afghanistan: Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/politisches-portraet/204718, Zugriff 6.11.2020

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-jjnd_abschiebungsrelevante _Lage_In_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.07.2020.pdf, Zugriff 22.10.2020

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (17.5.2019): The Results of Afghanistan's 2018 Parliamentary Elections: A new, but incomplete Wolesi Jirga, https://www.afghanistan-analysts.org/the-resul ts-of-afghanistans-2018-parliamentary-elections-a-new-but-incomplete-wolesi-jirga/, Zugriff 22.10.2020

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (13.2.2015): The President‘s CEO Decree: Managing rather thean executive powers (now with full translation of the document), https://www.afghanistan-anal ysts.org/the-presidents-ceo-decree-managing-rather-then-executive-powers/, Zugriff 22.10.2020

•        AJ - Aljazeera (5.10.2020): Afghan president Ghani arrives in Qatar as peace talks drag on, https: //www.aljazeera.com/news/2020/10/5/afghan-president-ghani-arrives-in-qatar-as-peace-talks-dragon, Zugriff 22.10.2020

•        AJ - Al-Jazeera (7.5.2020): US Afghan envoy to meet Taliban in Qatar in new efforts for peace, https://www.aljazeera.com/news/2020/05/afghan-envoy-meet-taliban-qatar-efforts-peace-20050 7044349083.html , Zugriff 22.10.2020

•        BBC (22.9.2020): Afghan-Taliban peace talks: What's next?, https://www.bbc.com/news/world-asi a-54255862 , Zugriff 22.9.2020

•        Casolino, Ugo Timoteo (2011): „Post-war constitutions" in Afghanistan ed Iraq, Ricerca elaborata e discussa nell'ambito del Dottorato di ricerca in Sistema Giuridico Romanistico - Unificazione del Diritto - Universita degli studi di Tor Vergata - Roma, Facolta di Giurisprudenza, http://eprints.bice .rm.cnr.it/3858/1/TESI-TIM_Definitiva.x.SOLAR._2011.pdf, Zugriff 22.10.2020

•        CoA- Constitution of Afghanistan (26.1.2004): The Constitution of Afghanistann, http://www.afghanembassy.com.pl/afg/images/pliki/TheConstitution.pdf, Zugriff 22.10.2020

•        DOA- Daily Outlook Afghanistan (17.3.2019): Challenges of Political Parties in Afghanistan, http: //www.outlookafghanistan.net/topics.php?post_id=23136 , Zugriff 22.10.2020

•        DP - Die Presse (17.5.2020): Afghanische Rivalen Ghani und Abdullah einigten sich auf Machtteilung, https://www.diepresse.com/5814955/afghanische-rivalen-ghani-und-abdullah-einigten-sich-auf-macht teilung , Zugriff 22.10.2020

•        DW - Deutsche Welle (18.2.2020): Afghanistan’s Ashraf Ghani wins second term, https://www.dw. com/en/afghanistans-ashraf-ghani-wins-second-term/a-52423554, Zugriff 6.11.2020

•        DZ - Die Zeit (21.4.2019): https://www.zeit.de/news/2019-08/23/usa-taliban-gespraeche-in-katar- wieder-aufgenommen , Zugriff 22.10.2020

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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