TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/25 W133 2204813-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.03.2021
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Entscheidungsdatum

25.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs3a
AsylG 2005 §9 Abs2 Z3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §53
FPG §55 Abs2

Spruch


W133 2204813-1/38E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, vertreten durch Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.07.2018, Zl. 1103891006-160149306, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.03.2019 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II., III., IV., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass

Spruchpunkt II. zu lauten hat:

„II. Ihr Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 3a 1. Satz iVm § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 abgewiesen.“

Spruchpunkt VI. zu lauten hat: "VI. Gemäß § 55 Abs. 2 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab dem Zeitpunkt der Enthaftung."

II. In Erledigung der Beschwerde gegen Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides wird dieser wie folgt geändert:

„V. Gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 wird festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung von XXXX nach Afghanistan unzulässig ist.“

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 30.01.2016, seinen Angaben zufolge als Minderjähriger, einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Anlässlich seiner Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes noch am selben Tag gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund befragt an, er sei im Iran geboren worden und habe dort illegal gelebt. Aus diesem Grund habe er weder regelmäßig arbeiten noch die Schule besuchen können und in ständiger Angst vor einer Abschiebung gelebt. Andere Fluchtgründe habe er nicht.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 18.10.2017, XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 2a SMG, 15 StGB wegen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften zu einer bedingten Freiheitsstrafe von vier Monaten, mit einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt.

Am 25.04.2018 wurde der Beschwerdeführer durch die nunmehr belangte Behörde, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), einvernommen. Der Beschwerdeführer führte zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen aus, dass seine Karte im Iran von den Basidsch eingezogen worden sei. Diese hätten seinen Bruder und ihn belästigt und geschlagen. Wenn er diese gesehen habe, sei er vor ihnen geflüchtet. Einmal habe er einen solchen Vorfall der Polizei im Iran gemeldet, diese habe jedoch nichts gemacht. Er wisse nicht, warum seine Eltern aus Afghanistan geflüchtet seien.

In den Stellungnahmen vom 09. und 10.05.2018 brachte die Rechtsvertretung insbesondere vor, beim Beschwerdeführer sei als Kind eine Grand Mal Epilepsie diagnostiziert worden, er habe eine Lernbeeinträchtigung, Entwicklungsverzögerung und eine herabgesetzte Konzentrationsleistung. Er leide unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung sowie an dissoziativen Krampfanfällen und befinde sich in Psychotherapie. Aufgrund seiner psychischen Krankheit, seiner Minderjährigkeit sowie fehlender sozialer Anknüpfungspunkte vor Ort sei er in Afghanistan von Verfolgung bedroht. Weiters verfüge er über keine innerstaatliche Schutzalternative.

Am 29.05.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen § 107 Abs. 1 StGB § 27 Abs. 2a SMG in Untersuchungshaft genommen. In der Folge wurde am 04.06.2018 gegen den Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall, 27 Abs. 2a, 27 Abs. 3 SMG Anklage wegen vorsätzlich begangener strafbarer Handlungen erhoben.

Mit Verfahrensordnung vom 13.06.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 2 AsylG der Verlust der Aufenthaltsberechtigung im Bundesgebiet wegen eingebrachter Anklage einer gerichtlich strafbaren Handlung, die nur vorsätzlich begangen werden kann durch die Staatsanwaltschaft und Verhängung der Untersuchungshaft mitgeteilt.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 02.07.2018, XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall, 27 Abs. 2a und Abs. 3 SMG wegen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, davon sechs Monate bedingt mit einer Probezeit von drei Jahren. Es wurde weiters eine Bewährungshilfe angeordnet.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 31.07.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Weiters verhängte die belangte Behörde ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.) Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan keine asylrelevante Verfolgung drohe. Eine Rückkehr nach Afghanistan und Ansiedlung etwa in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif sei möglich und zumutbar. Das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers überwiege die schwach ausgeprägten privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in Österreich. Das Einreiseverbot sei gerechtfertigt und notwendig, um die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer am 24.08.2018 binnen offener Rechtsmittelfrist vollumfänglich Beschwerde. Darin brachte er im Wesentlichen vor, die Behörde habe ihm nicht ausreichend Parteiengehör eingeräumt und den Gesundheitszustand bzw. Therapiebedarf des Beschwerdeführers und die damit verbundenen (sozialen) Konsequenzen in Afghanistan verkannt. Das Einreiseverbot stehe in keiner Relation zu den begangenen Jugendstraftaten.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 18.09.2018, XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 2a, 27 Abs. 3 SMG, § 15 StGB und §§ 27 Abs. 1 Z 1 1. Fall, 27 Abs. 1 Z 1 2. Fall, 27 Abs. 2 SMG wegen Teils versuchtem unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.

Am 28.09.2018 übermittelte die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers einen Sozialbericht vom 07.01.2018 sowie einen psychotherapeutischen Befundbericht vom 07.09.2018.

Mit Bescheid vom 18.10.2018 wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 01.08.2018 verloren hat. Mit Verfahrensordnung vom selben Tag wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 2 AsylG der Verlust seines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet wegen Straffälligkeit (§ 2 Abs. 3 AsylG) und eingebrachter Anklage einer gerichtlich strafbaren Handlung, die nur vorsätzlich begangen werden kann durch die Staatsanwaltschaft, mitgeteilt.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 31.01.2019, XXXX wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 2a, 27 Abs. 3 SMG §§ 27 Abs. 1 Z 1 1. Fall, 27 Abs. 1 Z 1 2. Fall SMG wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt.

Am 26.02.2019 langte beim erkennenden Gericht eine Stellungnahme der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers zu den übermittelten Länderberichten ein, in welcher der Beschwerdeführer unter Verweis auf seine konkrete Lage und insbesondere seine Vulnerabilität infolge einer sichtbaren geistigen Behinderung vorbrachte, dass er über keine innerstaatliche Schutzalternative in Afghanistan verfüge.

Am 05.03.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer, seine gesetzliche Vertretung, seine Rechtsvertretung und ein Dolmetscher für die Sprachen Farsi/Dari teilnahmen. Im Rahmen der Verhandlung wurden zwei Zeugen, nämlich eine ehemalige Betreuerin des Beschwerdeführers und sein Bewährungshelfer, betreffend den Beschwerdeführer befragt.

In der Stellungnahme vom 11.12.2019 zu den Länderberichten brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, er sei aufgrund seiner Entwicklungsverzögerung besonders vulnerabel und verfüge über kein Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan. Demnach stehe ihm keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Beigelegt wurde ein Schreiben der Psychotherapeutin des Beschwerdeführers vom 09.12.2019, wonach der Beschwerdeführer wegen einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung und dissoziativen Krampfanfällen in Behandlung sei und dieser weiterhin bedürfe.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 19.02.2020, XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall, Abs. 2a und Abs. 3 SMG sowie § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2. Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt.

In seiner Stellungnahme vom 17.02.2021 zu den aktuellen Länderberichten brachte der Beschwerdeführer vor, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert habe. Aufgrund insbesondere der pandemiebedingt verschlechterten Versorgungslage in Afghanistan sowie der persönlichen Situation des Beschwerdeführers, etwa seines erhöhten Betreuungsbedarfs und seinem fehlenden Bezug zum Herkunftsstaat, stehe dem Beschwerdeführer keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers und seinem (Privat-)Leben in Österreich

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und muslimischen Glaubens schiitischer Ausrichtung. Seine Muttersprache ist Dari/Farsi. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde im Iran geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise, welche er gemeinsam mit seinem Bruder angetreten hat. Er reiste im Jänner 2016 im Alter von knapp 14 Jahren unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 30.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Seitdem hält er sich durchgehend in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer befindet sich derzeit in Strafhaft. Er wird am 26.03.2021 bedingt entlassen werden.

Er ist in Österreich mehrfach strafgerichtlich vorbestraft:

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 18.10.2017, XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 2a SMG, 15 StGB wegen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt; der Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe wurde unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 02.07.2018, XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall, 27 Abs. 2a und Abs. 3 SMG wegen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, davon Freiheitsstrafe sechs Monate bedingt mit einer Probezeit von drei Jahren. Es wurde weiters eine Bewährungshilfe angeordnet.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 18.09.2018, XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 2a, 27 Abs. 3 SMG, § 15 StGB und §§ 27 Abs. 1 Z 1 1. Fall, 27 Abs. 1 Z 1 2. Fall, 27 Abs. 2 SMG wegen Teils versuchten unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Als strafmildernd wurden berücksichtigt die grundsätzliche Verantwortungsübernahme, dass es teilweise beim Versuch geblieben war; erschwerend wirkten sich die einschlägigen Vorstrafen, das Zusammentreffen von zwei Vergehen, die Tatbegehung während zweier offener Probezeiten und der rasche Rückfall aus. Es wurde beschlossen vom Widerruf der bedingten Strafnachsichten zu den Urteilen des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 18.10.2017 sowie vom 02.07.2018 abzusehen, die Probezeit wurde hinsichtlich letzterer Verurteilung auf fünf Jahre verlängert.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 31.01.2019, XXXX wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 27 Abs. 2a, 27 Abs. 3 SMG §§ 27 Abs. 1 Z 1 1. Fall, 27 Abs. 1 Z 1 2. Fall SMG wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Mildernd wurde vom Strafgericht die diagnostizierte Intelligenzminderung des Beschwerdeführers gewertet, erschwerend wurde unter anderem der sofortige Rückfall des Beschwerdeführers nach seiner bedingten Entlassung am 04.01.2019 gewertet. Es wurde beschlossen, die mit Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 15.11.2018 gewährte bedingte Entlassung zu widerrufen. Außerdem wurde beschlossen vom Widerruf der mit den Urteilen des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 18.10.2017 und vom 02.07.2018 gewährten bedingten Strafnachsichten abzusehen.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 19.02.2020, XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall, Abs. 2a und Abs. 3 SMG sowie § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2. Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Mildernd wurden vom Strafgericht das umfassende Geständnis, das Alter unter 21 Jahren sowie die psychische Beeinträchtigung des Beschwerdeführers gewertet; erschwerend wurden die vier einschlägigen Vorstrafen, der rasche Rückfall nach der Haftentlassung im am 02.01.2020, das Zusammentreffen von zwei Vergehen und die Tatbegehung innerhalb offener Probezeit gewertet. Die zum Urteil des Landesgerichts für Strafsachen vom 18.10.2017 gewährte Strafnachsicht wurde wiederrufen, während vom Widerruf der zum Urteil desselben Gerichts vom 02.07.2018 abgesehen wurde.

Auf freiem Fuß hatte der Beschwerdeführer regelmäßig Kontakt zu seinem älteren Bruder, lebte aber nicht mit diesem im gemeinsamen Haushalt und wurde auch nicht von diesem unterstützt. Über sonstige enge soziale Bindungen verfügt der Beschwerdeführer in Österreich nicht.

Der Beschwerdeführer bestritt seinen Unterhalt bisher aus Leistungen der staatlichen Grundversorgung. In Österreich hat er zwei Jahre lang die Sonderschule besucht und verfügt über nur grundlegende Deutschkenntnisse. Während der Haft hat der Beschwerdeführer als Hausarbeiter gearbeitet.

Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers und seiner Situation im Falle der Ansiedlung im Herkunftsstaat

Der Beschwerdeführer hat nie in Afghanistan gelebt. Er hat den Iran aufgrund von Problemen vor Ort verlassen, jedoch hinsichtlich seines Herkunftsstaats keine konkreten Befürchtungen, aus einem bestimmten Grund zum Ziel von Eingriffen in die psychische oder physische Integrität zu werden.

Der Beschwerdeführer ist im Iran im Kreis seiner Familie aufgewachsen und hat dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Er hat dort fünf Jahre lang die Schule besucht und in seiner Muttersprache lesen und schreiben gelernt. Der Beschwerdeführer hat nie gearbeitet und auch keine Berufsausbildung absolviert. Er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten lediglich in Grundzügen vertraut.

Der Beschwerdeführer hat nach wie vor Kontakt zu seinen im Iran lebenden Angehörigen. Weiters lebt ein Bruder von ihm in Österreich. In Afghanistan hat der Beschwerdeführer keine ihm bekannten Angehörigen. Die Familie im Iran lebt von der Bewirtschaftung gepachteter Felder. Der Bruder des Beschwerdeführers lebt in Österreich von der Grundversorgung.

Der Beschwerdeführer leidet an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung und dissoziativen Krampfanfällen und befindet sich in Psychotherapie. In seiner Kindheit litt der Beschwerdeführer an Epilepsie, ist abgesehen von einem Vorfall in Österreich anfallfrei und nimmt aktuell auch keine Medikamente. Bei dem Beschwerdeführer besteht eine Entwicklungsverzögerung und Intelligenzminderung, aufgrund welcher er einen besonderen Betreuungsbedarf hat und die ihn zu einem leichten Ziel für Manipulation und Ausbeutung macht. Abgesehen davon ist der Beschwerdeführer gesund; er gehört keiner COVID-19-Risikogruppe an.

Im Fall der Ansiedlung in Afghanistan könnte der Beschwerdeführer Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und eine – allenfalls äußerst geringfügige – Unterstützung durch seinen Bruder erhalten, jedoch verfügt der Beschwerdeführer über keine Bezugsperson vor Ort, die angesichts seines erhöhten Betreuungsbedarfs entsprechend für sein Wohlergehen Sorgen tragen könnte.

Zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)

-        EASO-Länderleitlinien Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        EASO-Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)

-        OCHA Strategic Situation Report: COVID-19 vom 04.02.2021 (OCHA)

-        FEWS NET Afghanistan: Key Message Update vom Jänner 2021 (FEWS)

Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die USA können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen seitens der USA, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).

COVID-19-Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).

Einem aktuelleren Bericht des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) zufolge gab es laut Gesundheitsministerium mit Stand 04.02.2021 über 55.250 bestätigte Infektionen, knapp 48.000 Genesene und über 2.400 Tote. Sämtliche Provinzen sind betroffen, am stärksten jedoch Balkh, Herat und Kabul. Das Gesundheitsministerium hat bereits im November letzten Jahres bestätigt, dass sich Afghanistan in einer zweiten Infektionswelle befindet. Nach einer deutungsweisen Verlangsamung der Infektionen Anfang Jänner wurde ab Ende Jänner wieder ein Ansteigen der Infektionsraten verzeichnet. Mit über 258.000 Getesteten bei 40,4 Millionen Einwohner*innen bleibt die Testrate weiterhin gering. Die Positivitätsrate von 21% deutet auf eine Untertestung möglicher Fälle hin (OCHA).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patient*innen befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze (LIB, Kapitel 22).

Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan*innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 22).

Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst. Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (LIB, Kapitel 22).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 22).

Kabul war das Zentrum des Bevölkerungswachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. Die meisten Behausungen in Afghanistan sind irreguläre (halb-)freistehende Häuser, davon die meisten Hangbauten. Der Großteil der Bevölkerung lebt in sehr schlechten Unterkunftsbedingungen und hat geringen Zugang zu Finanzierung von Wohnraum (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Tagelöhners in Afghanistan variiert zwischen 100 AFN und 400 AFN pro Tag (LIB, Kapitel 22).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt. Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.). Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).

Medizinische Versorgung

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Alle Staatsbürger*innen haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten ärztlichem und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden (LIB, Kapitel 23).

Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghan*innen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (LIB, Kapitel 23).

Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghan*innen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab - mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. WHO und USAID zählten zwischen Jänner und August 2020 30 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen (LIB, Kapitel 23).

Das Jebrael-Gesundheitszentrum im Nordwesten der Stadt Herat bietet für rund 60.000 Menschen im dicht besiedelten Gebiet mit durchschnittlich 300 Besuchen pro Tag grundlegende Gesundheitsdienste an. Laut dem Provinzdirektor für Gesundheit in Herat verfügte die Stadt im April 2017 über 65 private Gesundheitskliniken, unter anderem das staatliche Herat Regional Hospital. In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken. Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patienten in dieses Krankenhaus überwiesen. Für das durch einen Brand zerstörte Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses (LIB, Kapitel 23).

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte, wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen. In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist, wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrenden berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (LIB, Kapitel 3).

Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert. Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig. Die WHO geht davon aus, dass in ganz Afghanistan im öffentlichen, wie auch privaten Sektor insgesamt 320 Spitäler existieren, an welche sich Personen mit psychischen Problemen wenden können. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. In folgenden Krankenhäusern kann man außerdem Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen erhalten: Mazar-e -Sharif Regional Hospital: Darwazi Balkh; in Herat das Regional Hospital und in Kabul das Karte Sae Mental Hospital. Wie bereits erwähnt gibt es ein privates psychiatrisches Krankenhaus in Kabul, aber keine spezialisierten privaten Krankenhäuser in Herat oder Mazar-e Sharif. Dort gibt es lediglich Neuropsychiater in einigen privaten Krankenhäusern (wie dem Luqman Hakim Private Hospital) die sich um diese Art von Patienten tagsüber kümmern. In Mazare-e Sharif existiert z.B. ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB, Kapitel 23.1.).

Menschen mit Behinderung

In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden - genauso wie Kranke und Alte - gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sicherstellen (LIB, Kapitel 23.1).

Menschen mit psychischen oder physischen Behinderungen werden oft stigmatisiert; ihr Zustand wird als „Gottes Willen“ betrachtet. Es kommt vor, dass behinderte Menschen von deren Familien oder anderen Gesellschaftsmitgliedern misshandelt werden. Besonders vulnerabel sind in diesem Zusammenhang Frauen, Vertriebene und Rückkehrende mit psychischen Problemen. Darüber hinaus mangelt es an adäquater Infrastruktur und spezialisierter Betreuung, insbesondere außerhalb urbaner Zentren; diese allgemein schlechte Versorgung kommt nach Einschätzung von EASO jedoch keiner Verfolgung gleich, anders als etwa das gezielte Vorenthalten von medizinischer Versorgung im konkreten Einzelfall (EASO, Kapitel Common Analysis, 2.15).

Im Fall von Personen mit psychischen oder physischen Behinderungen sind für die Beurteilung, ob Diskriminierung und Misshandlung das Ausmaß von Verfolgung erreichen, miteinzubeziehen die Schwere und/oder Häufigkeit derartiger Vorfälle sowie die Frage, ob diese als eine Häufung verschiedener Maßnahmen auftreten. Als risikoerhöhende Faktoren sind insbesondere die Art und Sichtbarkeit der Behinderung und die negative Wahrnehmung durch die Familie oder andere zu beachten (EASO, Kapitel Common Analysis, 2.15).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 18).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen. Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 18.3.).

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel 17).

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen (LIB, Kapitel 17.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 17.1.)

Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, welche die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber (LIB, Kapitel 12).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg. Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. Es gibt internationale Flughäfen in Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif, bedeutende Flughäfen, für den Inlandsverkehr außerdem in Ghazni, Nangharhar, Khost, Kunduz und Helmand sowie eine Vielzahl an regionalen und lokalen Flugplätzen (LIB, Kapitel 20).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfenden den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig ’gelbe Seiten’ oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. In Kabul, aber auch in Mazar-e Sharif müssen unter Umständen gewisse Melde- und Ausweisvorgaben beim Mieten einer Wohnung oder eines Hauses erfüllt werden. In Gebieten ohne hohes Sicherheitsrisiko ist es oftmals möglich, ohne einen Identitätsnachweis oder eine Registrierung bei der Polizei eine Wohnung zu mieten. Dies hängt allerdings auch vom Vertrauen der Vermietenden ab (LIB, Kapitel 20.1.).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt (LIB, Kapitel 5).

Provinzen und Städte

Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die NSIA schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (LIB, Kapitel 5.5.).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum. Die Ring Road verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul. Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab. Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (LIB, Kapitel 5.5.).

Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen. Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten. Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird. Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz (LIB, Kapitel 5.5.).

Im Zeitraum 01.01.-30.09.2020 dokumentierte UNAMA 553 zivile Opfer (198 Tote, 355 Verletzte) in der Provinz, was mehr als eine Verdopplung gegenüber derselben Periode im Vorjahr ist. Im ersten Halbjahr 2020 war hinsichtlich der Opferzahlen die Zivilbevölkerung in den Provinzen Balkh und Kabul am stärksten vom Konflikt in Afghanistan betroffen. Der UN-Generalsekretär zählte Balkh in seinen quartalsweise erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage in Afghanistan im März und Juni 2020 zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes und auch im September galt Balkh als eine der Provinzen mit den schwersten Talibanangriffen im Land. Es kam zu direkten Kämpfen und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren oder Sicherheitsposten. Die Regierungskräfte führten Räumungsoperationen durch. Auch in Mazar-e Sharif kam es wiederholt zu IED-Anschlägen. Zudem wurde von der Entführung und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (LIB, Kapitel 5.5.).

Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird. Sie hat 484.492 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 5.5).

Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen. Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften (LIB, Kapitel 5.5).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 5.35.). National Airlines (Kam Air, Ariana Air) bieten internationale Flüge von Russland, Indien und Iran nach Mazar-eh Sharif an. Innerstaatlich gehen Flüge von und nach Mazar-e Sharif (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kabul und Maimana (LIB, Kapitel 5.35.).

Gegenwärtig gibt es in Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren (LIB, Kapitel 3).

Mazar-e Sharif und die Provinz Balkh sind historisch betrachtet das wirtschaftliche und politische Zentrum der Nordregion Afghanistans. Mazar-e Sharif profitierte dabei von seiner geografischen Lage, einer vergleichsweise effektiven Verwaltung und einer relativ guten Sicherheitslage. Mazar-e Sharif gilt als Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbiet

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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