Entscheidungsdatum
06.04.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W104 2127665-2/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Christian BAUMGARTNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , Außenstelle XXXX , vom 23.8.2019, Zl. 1051108104-190851029, zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und die Spruchpunkte I., II., IV., V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
II. In Erledigung der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird dem Antrag vom 26.6.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 stattgegeben und XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von zwei Jahren erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 1.2.2015 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.
2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.5.2016, Zl. 1051108104-150118764, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.), sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) ab, erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt.
4. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.7.2016, W123 2127665-1/4E, wurde die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt A.I.). Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wurde der Beschwerde hingegen stattgeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 26.7.2017 erteilt (Spruchpunkt A.II.). Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt B).
Das Bundesverwaltungsgericht stellte in seinem Erkenntnis vom 26.7.2016 fest, der Beschwerdeführer gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er sei im Iran geboren und habe nie in Afghanistan gelebt. Die Eltern des Beschwerdeführers würden aus der afghanischen Provinz Samangan stammen und seien in den 90er Jahren in den Iran gezogen. Sämtliche noch lebenden Familienangehörigen des Beschwerdeführers würden nach wie vor im Iran leben. Dem Beschwerdeführer drohe keine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan. Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, das vom Beschwerdeführer erstattete Fluchtvorbringen beziehe sich ausschließlich auf seinen Aufenthalt im Iran und sei schon aus diesem Grund nicht von asylrechtlicher Relevanz.
In der rechtlichen Beurteilung dieses Erkenntnisses begründete das Bundesverwaltungsgericht die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer wie folgt:
„[…] Beim Beschwerdeführer handelt es sich zwar um einen arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Es muss demgegenüber aber maßgeblich berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer im Iran geboren, aufgewachsen und – bis zu seiner Flucht nach Europa – sein gesamtes Leben auch dort verbracht hat. Die Familie des Beschwerdeführers lebt nach wie vor im Iran. In Afghanistan verfügt der Beschwerdeführer somit über keine sozialen oder familiären Netzwerke. Der Beschwerdeführer wäre daher im Fall der Rückkehr nach Afghanistan auf sich alleine gestellt und gezwungen, nach einem – wenn auch nur vorläufigen – Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen.
Das BFA hat daher zu Unrecht den Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberichtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Es kann nunmehr als ständige Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts angesehen werden, dass eine Rückkehr nach Afghanistan allenfalls dann zumutbar ist, wenn der Betroffene dort über ein ausreichendes soziales und wirtschaftliches Netz verfügt, welches zu der vertretbaren Annahme führt, dass dem Rückkehrer notwendige Unterstützung zuteil wird (siehe etwa BVwG 02.09.2014, W123 1438565-1/4E; siehe in diesem Sinn auch VfGH v. 06.06.2013, Zl. U 144/2013). Da sich im Verfahren ergeben hat, dass derartiges in keiner Weise vorhanden ist, kann schon aus diesem Grund nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK gleich zu halten wäre.
Die Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan erscheint daher derzeit unter den dargelegten Umständen als unzumutbar. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer realen Gefahr ausgesetzt sein, in seinen durch Art. 3 EMRK geschützten Rechten verletzt zu werden. […]“
Weder der Beschwerdeführer, noch die belangte Behörde erhoben gegen dieses Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.7.2016, W123 2127665-1/4E, Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof bzw. eine außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Das Erkenntnis vom 26.7.2016 ist daher rechtskräftig.
5. Mit Schreiben vom 26.5.2017 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab diesem Antrag mit Bescheid vom 18.7.2017, Zl. 1051108104-150118764, statt und erteilte dem Beschwerdeführer die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 26.7.2019.
6. Der Beschwerdeführer beantragte mit Schreiben vom 26.6.2019 die neuerliche Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005. In einem verwies er auf aktuelle Länderberichte und Judikatur des Bundesverwaltungsgerichtes sowie des Verfassungsgerichtshofes und legte ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.
7. Der Beschwerdeführer wurde am 13.8.2019 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zwecks Prüfung der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung bzw. der Einleitung eines Aberkennungsverfahrens niederschriftlich im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi einvernommen. Zu seinen Familienverhältnissen gab der Beschwerdeführer hier an, er habe in Afghanistan keine Verwandte. Sein Vater sei bereits verstorben. Seine Mutter, zwei Brüder, eine Schwester, ein Onkel väterlicherseits und eine Tante mütterlicherseits würden nach wie vor im Iran in XXXX leben. Der Beschwerdeführer habe einmal im Monat Kontakt mit seiner Schwester. Seiner Familie gehe es wirtschaftlich nicht gut. Seine Mutter und seine Schwester würden gelegentlich in der Landwirtschaft arbeiten. Sein jüngerer Bruder nehme Gelegenheitsjobs wahr. Die Familie habe auch in Afghanistan keine Besitztümer mehr. Befragt nach seiner Herkunft, gab der Beschwerdeführer an, seine Familie stamme aus der Provinz Samangan. Zu seinem Leben in Österreich führte der Beschwerdeführer aus, er lebe mit drei Freunden in einer Wohngemeinschaft und teile sich mit diesen die Mietkosten. Er sei ledig, es bestehe keine Lebensgemeinschaft in Österreich. Zuletzt habe der Beschwerdeführer einen Deutschkurs auf Niveau B1 besucht; die Deutschprüfung habe er jedoch nicht bestanden. Seit über einem Jahr sei er als Bodenleger beschäftigt. In seiner Freizeit gehe er gerne ins Fitnessstudio. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Beschwerdeführer darauf hin, dass ihm eine Rückkehr nach Afghanistan in die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nach Ansicht der Behörde zumutbar sei. Der Beschwerdeführer gab dazu an, er habe Angst davor, nach Afghanistan zu gehen, zumal er niemanden dort habe und es Selbstmordanschläge gebe. Er könne sich kein Leben in Afghanistan vorstellen und fürchte, dort zu sterben. Die belangte Behörde informierte den Beschwerdeführer darüber, dass ein Aberkennungsverfahren gegen den Beschwerdeführer eingeleitet werde, und wies ihn darauf hin, dass er im Fall einer freiwilligen Rückkehr finanzielle Unterstützung in Anspruch nehmen könne. Der Beschwerdeführer führte dazu aus, dass er nicht an einer Rückkehr interessiert sei und in Österreich bleiben wolle. Im Rahmen dieser Einvernahme legte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.
8. Mit Aktenvermerk vom 20.8.2019 hielt die belangte Behörde fest, dass sich im Zuge der Prüfung hinsichtlich der Erteilung der Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung infolge geänderter Verhältnisse im Herkunftsstaat (IFA in Mazar-e Sharif und Herat zumutbar, finanzielle Unterstützungsmöglichkeit durch familiäres Netzwerk aus dem Iran) und infolge geänderter persönlicher Umstände (Volljährigkeit, berufliche Kenntnisse, sonstige Kenntnisse aus Österreich) nicht bzw. nicht mehr vorliegen. Die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung sei aus derzeitiger Sicht gegeben. Es sei von der Erfüllung des Tatbestandes gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 auszugehen.
9. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 23.8.2019, zugestellt am 28.8.2019, wurde dem Beschwerdeführer der ihm mit Erkenntnis vom 26.7.2016, W123 2127665-1/4E, zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihm die mit Erkenntnis vom 26.7.2016, W123 2127665-1/4E (gemeint: Bescheid vom 18.7.2017, Zl. 1051108104-150118764), erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Der Antrag vom 26.6.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt III.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt IV.). Gegen den Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt V.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt VI.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VII.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dem Beschwerdeführer sei der Status des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund des zum damaligen Zeitpunkt fehlenden sozialen und familiären Netzwerks in Afghanistan sowie aufgrund nicht vorhandener ausreichender Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zuerkannt worden. Dieser Sachverhalt liege nun nicht mehr vor, da zum heutigen Zeitpunkt für den Beschwerdeführer als alleinstehenden, jungen, arbeitsfähigen und gesunden Mann die Möglichkeit einer Rückkehr nach Afghanistan bestehe. Der Beschwerdeführer sei mittlerweile volljährig, habe sich in Österreich wertvolle Berufskenntnisse und anderes lebensnotwendiges Wissen aneignen können und würde bei einer Rückkehr nicht mehr in eine ausweglose Situation geraten. Durch die Aneignung wertvoller Kenntnisse in Österreich habe der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr einen Vorteil gegenüber anderen Arbeitssuchenden in Afghanistan. Zudem verfüge der Beschwerdeführer über Verwandte im Iran, die ihn unterstützen könnten. Den Länderinformationen sei zu entnehmen, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative für männliche, gesunde und arbeitsfähige Personen wie den Beschwerdeführer grundsätzlich bejaht werden könne. Der Beschwerdeführer sei ein arbeitsfähiger Mann im erwerbsfähigen Alter und verfüge über Berufserfahrung; aufgrund seiner Arbeitsfähigkeit bestünde die Möglichkeit, sich in den sicheren Provinzen allenfalls auch durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern. Zudem sei er mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut, da er in einer afghanischen Familie aufgewachsen sei. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sein werde. Es würden nunmehr sogenannte „Employment Services Centers“ in Afghanistan existieren, die den Beschwerdeführer bei der Arbeitssuche unterstützen könnten. Dass der Beschwerdeführer über keine Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif verfügt, reiche für die Annahme der Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht aus, zumal der Beschwerdeführer auf die Unterstützung durch dort ansässige Hilfsorganisationen zurückgreifen könne. Auch könne der Beschwerdeführer durch die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe Unterstützung für einen Neubeginn erlangen. Insgesamt habe sich die Lage für den Beschwerdeführer als jungen, gesunden, arbeitsfähigen und alleinstehenden Mann insofern geändert, als nunmehr eine Rückkehr nach Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif möglich sei. Als Erwachsenem sei es ihm zumutbar, sich in einer Stadt seines Heimatlandes Kenntnisse der örtlichen Begebenheiten anzueignen. Insgesamt könne davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan als alleinstehender, junger, gesunder Mann keiner Gefährdung oder Verfolgung ausgesetzt sein werde. Dem Beschwerdeführer sei daher gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen gewesen.
10. Dagegen richtet sich die am 19.9.2019 bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung, mangelhafter Beweiswürdigung und der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für den Beschwerdeführer günstigerer Bescheid erlassen worden wäre. Nach einer Zusammenfassung des Sachverhalts und des bisherigen Verfahrensganges führt die Beschwerde im Wesentlichen aus, es sei nicht ersichtlich, wie die belangte Behörde zur Ansicht gelange, dass der Beschwerdeführer nunmehr von seiner Familie finanziell unterstützt werden könne, er maßgebliche Berufserfahrung gesammelt habe und mit den kulturellen Gepflogenheiten im Herkunftsland vertraut sei. Der Beschwerdeführer habe in seiner Einvernahme vorgebracht, dass seine Familie im Iran lebe und finanzielle Schwierigkeiten habe. Auf diese Angaben des Beschwerdeführers gehe die belangte Behörde in ihrer Begründung nicht ein und belaste den angefochtenen Bescheid dadurch mit einem Begründungsmangel. Der Beschwerdeführer sei noch nie in Afghanistan gewesen, weshalb von einer Entwurzelung des Beschwerdeführers in Bezug auf Afghanistan auszugehen sei. Insgesamt stelle sich die derzeitige Situation des Beschwerdeführers im Vergleich zur Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten als völlig gleichbleibend dar. Eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei nur bei einer Änderung der Umstände, die wesentlich und nicht nur vorübergehend zu sein habe, nicht jedoch bei einer Änderung der Rechtsprechung zulässig. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stütze sich neben einer vermeintlich geänderten Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul auf eine Änderung der persönlichen Situation aufgrund der Volljährigkeit des Beschwerdeführers. Tatsächlich habe sich die persönliche Situation des Beschwerdeführers abgesehen von seiner Integrationsverfestigung in Österreich nicht verändert. Insbesondere sei der Beschwerdeführer bereits im Zeitpunkt der Zuerkennung volljährig gewesen. Die von der Behörde erwähnten sozialen Strukturen und internationalen Rückkehrorganisationen seien ebenso bereits im Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vorhanden gewesen. Inwiefern sich die Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers im Vergleich zum Entscheidungszeitpunkt maßgeblich und nachhaltig verbessert habe, lege das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht dar. Aus der aktuellen Länderberichtslage ergebe sich vielmehr eine maßgebliche Verschlechterung der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage. Insgesamt seien die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 nicht erfüllt, weshalb der angefochtene Bescheid ersatzlos zu beheben sei.
11. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt.
12. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.2.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der erkennenden Gerichtsabteilung zugewiesen.
13. Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
? Arbeitszusage der XXXX vom 25.4.2016;
? Bestätigung der XXXX über Teilnahme am Seminar „Deutsch Alphabetisierung“ im Zeitraum 24.10.2016 bis 20.1.2017 vom 20.1.2017;
? Bestätigung des ÖIF über Teilnahme am Werte- und Orientierungskurs vom 1.2.2017;
? Bestätigung der XXXX über Teilnahme am Seminar „Startpaket Deutsch und Integration“ im Zeitraum 23.1.2017 bis 14.4.2017 vom 14.4.2017;
? Integrationserklärung vom 17.7.2018;
? ÖSD-Zertifikat B1 (nicht bestanden) vom 25.4.2018;
? Bestätigung des Unternehmens XXXX über aufrechtes Dienstverhältnis vom 6.8.2019;
? Verdienstnachweise Jänner bis Juli 2019;
? Bestätigung der Meldung aus dem Zentralen Melderegister.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und den hg. Verfahrensakt betreffend die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer (W123 2127665-1);
? Einsichtnahme in die Informationen der Staatendokumentation und die Informationen der Word Health Organization (WHO) zur aktuell maßgeblichen Situation aufgrund der COVID-19-Pandemie;
? Einsichtnahme in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente und Berichte.
2. Feststellungen:
2.1. Zur Person und den Lebensumständen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX im Iran in XXXX geboren. Er ist Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari bzw. Farsi. Er beherrscht diese Sprache in Wort und Schrift. Weiter spricht der Beschwerdeführer ein wenig Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.
Die Eltern des Beschwerdeführers stammen aus der afghanischen Provinz Samangan. In den 90er Jahren verließen sie Afghanistan und ließen sich im Iran nieder. Der Beschwerdeführer wurde im Iran in XXXX geboren und wuchs dort mit seinen Eltern, zwei Brüdern und einer Schwester in einem angemieteten Haus auf. Er besuchte in XXXX sechs Jahre die Grundschule und arbeitete anschließend mehrere Jahre als Bauarbeiter.
Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Seine Mutter, seine beiden Brüder und seine Schwester leben nach wie vor im Iran in XXXX . Die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers arbeiten gelegentlich in der Landwirtschaft, sein jüngerer Bruder unterstützt die Familie mit Gelegenheitsjobs. Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigem Kontakt mit seiner Kernfamilie. Im Iran leben außerdem eine Tante mütterlicherseits und ein Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers. Die finanzielle Situation der Familie im Iran ist schlecht. Die Familie des Beschwerdeführers wäre nicht in der Lage, den Beschwerdeführer im Fall seiner Niederlassung in Afghanistan vom Iran aus finanziell unterstützen. Es leben keine – allenfalls auch entfernten – Verwandten oder sonstige Bezugspersonen des Beschwerdeführers in Afghanistan. Er verfügt daher über kein soziales oder familiäres unterstützungsfähiges Netzwerk in Afghanistan.
Der Beschwerdeführer stellte am 1.2.2015 seinen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet und hält sich seither durchgehend in Österreich auf.
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26.7.2016, W123 2127665-1/4E, wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 26.7.2017 erteilt. Tragende Gründe für die Gewährung des subsidiären Schutzes waren das Aufwachsen des Beschwerdeführers außerhalb Afghanistans und seine daraus resultierende Ortsunkundigkeit und das Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Afghanistan.
Diese Aufenthaltsberechtigung wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.7.2017, Zl. 1051108104-150118764, mit Gültigkeit bis zum 26.7.2019 verlängert.
Der Beschwerdeführer besuchte seit seiner Einreise mehrere Deutsch-, Basisbildungs- und Integrationskurse. Im April 2018 trat der Beschwerdeführer zu einer Deutschprüfung auf Niveau B1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen an, die er jedoch nicht bestand. Der Beschwerdeführer lebt in XXXX mit drei Freunden in einer privaten Wohnung in einer Wohngemeinschaft. Bereits im April 2016 erhielt der Beschwerdeführer eine Arbeitszusage einer Gärtnerei. Seit 25.7.2018 ist der Beschwerdeführer als Bauarbeiter beim Unternehmen XXXX beschäftigt und bezieht keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Der Beschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern geknüpft. In seiner Freizeit geht er gerne ins Fitnessstudio.
In Österreich leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Er ist im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig.
2.2. Zur Änderung der Umstände seit der Gewährung von subsidiärem Schutz
Seit dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26.7.2016, W123 2127665-1/4E, mit welchem dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, ist es weder zu einer nachhaltigen maßgeblichen Änderung seiner subjektiven bzw. persönlichen Situation noch zu einer Verbesserung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan gekommen. Die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes mit Erkenntnis vom 26.7.2016, W123 2127665-1/4E, geführt haben (Aufwachsen des Beschwerdeführers außerhalb Afghanistans und daraus resultierende Ortsunkundigkeit, Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Afghanistan) haben sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer insgesamt nicht wesentlich und nachhaltig verändert bzw. verbessert.
2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat
Die folgenden Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
? Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatendokumentation, Stand 16.12.2020 (im Folgenden: LIB);
? Homepage der Word Health Organization (WHO), letzter Zugriff jeweils am 1.4.2021 (im Folgenden: WHO);
https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19;
https://covid19.who.int/region/emro/country/af
Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).
Aktuelle Entwicklungen
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).
Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).
Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).
COVID-19
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf, einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren (WHO).
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).
Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze (LIB, Kapitel 22).
Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft. Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Tagelöhners in Afghanistan variiert zwischen 100 AFN und 400 AFN pro Tag (LIB, Kapitel 22).
Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 22).
Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst. Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (LIB, Kapitel 3). Das afghanische Arbeits- und Sozialministerium (MoLSAMD) bietet ad hoc Maßnahmen für einzelne Gruppen, wie zum Beispiel Familienangehörige von Märtyrern und Kriegsverwundete, oder Lebensmittelhilfe für von Dürre betroffene Personen, jedoch keine groß angelegten Programme zur Bekämpfung von Armut (LIB, Kapitel 22, Unterkapitel 22.1).
Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 22).
Medizinische Versorgung
Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet jedoch kaum bis gar nicht statt. Insbesondere im Zuge der Covid-19-Pandemie zeigten sich Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das bei Vorsorge (Schutzausstattung), Diagnose (Tests) sowie medizinischer Versorgung von Erkrankten akute Defizite aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden (LIB, Kapitel 23).
Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Berichten zufolge können Patienten in manchen öffentlichen Krankenhäusern aufgefordert werden, für Medikamente, ärztliche Leistungen, Laboruntersuchungen und stationäre Behandlungen zu bezahlen. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (LIB, Kapitel 23).
Es mangelt an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab - mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. WHO und USAID zählten zwischen Jänner und August 2020 30 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen (LIB, Kapitel 23).
Das Jebrael-Gesundheitszentrum im Nordwesten der Stadt Herat bietet für rund 60.000 Menschen im dicht besiedelten Gebiet mit durchschnittlich 300 Besuchern pro Tag grundlegende Gesundheitsdienste an. Laut dem Provinzdirektor für Gesundheit in Herat verfügte die Stadt im April 2017 über 65 private Gesundheitskliniken, unter anderem das staatliche Herat Regional Hospital. Allerdings wird die geringe Qualität der Medikamente, fehlende Behandlungsmöglichkeiten und die Fähigkeit der Ärzte, Krankheiten richtig zu diagnostizieren, kritisiert. Infolgedessen entscheidet sich eine Reihe von Heratis für eine Behandlung im Ausland. In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken. Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patienten in dieses Krankenhaus überwiesen. Für das durch einen Brand zerstörte Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses (LIB, Kapitel 23).
Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte, wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen. In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist, wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (LIB, Kapitel 3).
Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert. Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig. Die WHO geht davon aus, dass in ganz Afghanistan im öffentlichen, wie auch privaten Sektor insgesamt 320 Spitäler existieren, an welche sich Personen mit psychischen Problemen wenden können. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. In folgenden Krankenhäusern kann man außerdem Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen erhalten: Mazar-e -Sharif Regional Hospital: Darwazi Balkh; in Herat das Regional Hospital und in Kabul das Karte Sae Mental Hospital. Wie bereits erwähnt gibt es ein privates psychiatrisches Krankenhaus in Kabul, aber keine spezialisierten privaten Krankenhäuser in Herat oder Mazar-e Sharif. Dort gibt es lediglich Neuropsychiater in einigen privaten Krankenhäusern (wie dem Luqman Hakim Private Hospital) die sich um diese Art von Patienten tagsüber kümmern. In Mazare-e Sharif existiert z.B. ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB, Kapitel 23.1.).
Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 18).
Hazara:
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, findet ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen. Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an. In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (LIB, Kapitel 18.3.).
Religionsfreiheit
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel 17).
Schiiten:
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen (LIB, Kapitel 17.1).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 17.1.)
Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, welche die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber (LIB, Kapitel 12).
Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (LIB, Kapitel 12).
Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg. Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. Es gibt internationale Flughäfen in Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif, bedeutende Flughäfen, für den Inlandsverkehr außerdem in Ghazni, Nangharhar, Khost, Kunduz und Helmand sowie eine Vielzahl an regionalen und lokalen Flugplätzen (LIB, Kapitel 20).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig „gelbe Seiten“ oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. In Kabul, aber auch in Mazar-e Sharif müssen unter Umständen gewisse Melde- und Ausweisvorgaben beim Mieten einer Wohnung oder eines Hauses erfüllt werden. In Gebieten ohne hohes Sicherheitsrisiko ist es oftmals möglich, ohne einen Identitätsnachweis oder eine Registrierung bei der Polizei eine Wohnung zu mieten. Dies hängt allerdings auch vom Vertrauen des Vermieters in den potentiellen Mieter ab (LIB, Kapitel 20.1.).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).
Taliban:
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Ein Bericht übe