Entscheidungsdatum
07.04.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L503 2160709-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.5.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 15.12.2020, zu Recht erkannt:
A.) Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs 1 AsylG, § 8 Abs 1 AsylG, § 57 AsylG, § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs 2 Z 2, § 52 Abs 9 FPG iVm § 46 FPG als unbegründet abgewiesen.
B.) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden kurz: "BF"), ein irakischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 17.9.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Zu seinen Fluchtgründen gab der BF in seiner Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Folgetag an, dass ISIS die Uni zugesperrt habe und er nicht studieren könne. Er müsse sich ISIS anschließen. Diese würden alle Leute unterdrücken. Das sei sein Fluchtgrund. Im Falle einer Rückkehr in seine Heimat fürchte er den Tod durch den IS.
2. Am 16.2.2017 wurde der BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden kurz: "BFA") niederschriftlich einvernommen. Der BF erklärte zu Beginn seiner Einvernahme, dass er psychisch und physisch in der Lage sei, die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Zu seiner Person und zu seinem bisherigen Leben im Irak gab der BF an, dass er Araber und sunnitischer Moslem sei. Zuletzt habe er in XXXX in Mossul gelebt. Er sei Schüler gewesen, habe aber abbrechen müssen, weil der IS in Mossul einmarschiert sei. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF zusammengefasst an, dass es, nachdem der IS einmarschiert sei, keine Sicherheit, nur Mord, Blut und Tote gegeben habe. Wenn der IS den BF mit einem westlichen Haarschnitt erwischt hätte, hätten sie ihn sofort umgebracht. Es habe keine Schulen, keine Arbeit gegeben. Die Stadt sei zerstört gewesen. Der IS habe einen Befehl erlassen, dass in jedem Haus (jeder Familie) die männlichen Mitglieder verpflichtet seien, sich dem IS anzuschließen. Der Familie bleibe nur ein männlicher Sohn, alle anderen müssten sich dem IS anschließen. Der BF habe nicht für den IS kämpfen wollen, er sei kein Mörder. Hätte er den Dienst verweigert, hätten sie ihn mit Sicherheit umgebracht. Der Hauptgrund, warum der BF den Irak verlassen habe, sei gewesen, dass dieser Befehl kurz vor seiner Flucht erteilt worden sei. Sie hätten begonnen, einen Bezirk nach dem anderen zu durchsuchen und die Männer zwangszurekrutieren. Der BF habe gewusst, dass sie bald in ihrem Bezirk seien. Viele seiner Freunde seien zwangsrekrutiert worden. Der BF persönlich sei nicht bedroht worden, aber nach seiner Ausreise habe der IS seinen Bruder und Vater verhaftet und nach ihnen (gemeint: dem BF und seinenm Bruder XXXX ) befragt. Sie hätten verlangt, dass sie wieder zurückkehren. Der BF habe Angst um sein Leben. Er könne nicht nach Mossul zurückkehren, dort sei nach wie vor der IS. Die Familie des BF lebe derzeit in einem Flüchtlingscamp, ihr Haus sei zerstört worden.
Der BF legte im Verfahren vor der belangten Behörde diverse irakische Ausweise, eine Schulbesuchsbestätigung der Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule XXXX für das Schuljahr 2015/16, eine Kursbesuchsbestätigung der VHS vom 16.12.2016 über den Besuch eines Deutschkurses A1 sowie diverse Zeitungsartikel vor.
3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 10.5.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für seine freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der BF unglaubwürdiger Weise behauptet habe, dass er in Mossul vom IS zwangsrekrutiert hätte werden sollen. Es sei äußerst unglaubwürdig, dass der BF im Jahr 2014, als der IS Mossul eingenommen habe, nicht fliehen habe können, danach mehr als ein Jahr völlig unbehelligt in der Stadt gelebt habe und schließlich, als diese Aufforderung ergangen sei, plötzlich doch in der Lage gewesen sei, ungehindert bzw. schlepperunterstützt Mossul zu verlassen. Nach seiner Flucht und der seines älteren Bruders XXXX (gemeint wohl: jüngeren Bruders XXXX ) seien der Vater des BF und sein verbliebener Bruder vom IS verhaftet worden und habe dieser von seinem Vater verlangt, dass der BF und sein Bruder zurückkehren sollten. Es erscheine für die Behörde nicht wirklich glaubwürdig, dass der IS die Familie des BF nicht weiter behellige, obwohl der BF und sein Bruder für diesen nicht greifbar gewesen seien. Der BF habe eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen können. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er einer konkreten persönlichen asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung im Irak ausgesetzt gewesen sei bzw. eine solche zukünftig zu befürchten hätte. Der BF könne in den Irak, insbesondere in die Stadt Bagdad, zurückkehren.
4. Mit Schriftsatz vom 1.6.2017 erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des Bescheides der belangten Behörde vom 10.5.2017. Darin brachte er zusammengefasst vor, dass die Behörde den Sachverhalt nicht vollständig ermittelt habe. Der BF habe seine Heimat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen. Mehrere seiner Freunde seien durch den IS zwangsrekrutiert worden. Obwohl der BF nicht persönlich bedroht worden sei, sei sein Fluchtgrund zweifellos asylrelevant. Im vorliegenden Fall sei eine Zwangsrekrutierung des BF bei einer Rückkehr in den Heimatstaat mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten. Für den BF sei es unmöglich gewesen, zu einem früheren Zeitpunkt zu fliehen, da seine Heimatstadt unter der Kontrolle des IS gewesen sei und jeder, der es versucht habe, diese zu verlassen, verhaftet oder umgebracht worden sei. Außerdem habe der BF für sich selbst keine Gefahr gesehen. Die Gründe des BF für das Verlassen seines Heimatlandes seien asylrelevante Gründe. Es sei nicht davon auszugehen, dass von den staatlichen Stellen im Irak Schutz geboten werden könne. Eine Rückkehr in den Irak würde eine Verletzung des Art. 2 und Art. 3 EMRK darstellen, da für den BF zweifellos die Gefahr einer Zwangsrekrutierung bestehe, auch wenn diese nicht unbedingt durch den IS erfolgen sollte. Auf zitierte Länderberichte wurde verwiesen.
5. Am 7.6.2017 wurde der Akt dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.
6. Mit Schreiben vom 11.7.2017 wurde ergänzendes Beschwerdevorbringen erstattet. Der Vater des BF sei durch die schiitische Miliz Asaib Ahl Al Haqq nach einer Entführung vor ca. zwei Wochen misshandelt und verletzt worden. Nach einer Woche sei er jedoch freigelassen worden. Der Bruder des BF sei mit seinem Vater entführt worden, jedoch sei er immer noch vermisst, obwohl der Vater nach einer Woche freigelassen worden sei.
Mit dem Schreiben wurden Lichtbilder vorgelegt.
7. Mit Schriftsatz vom 17.1.2018 wurde eine weitere Beschwerdeergänzung eingebracht. Zur Beweiswürdigung der belangten Behörde wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der BF sehr detailliert über die zentralen Aspekte des Fluchtgeschehens gesprochen habe. Es habe sich als fast unmöglich gestaltet, Mossul zu verlassen. Die Tatsache, dass es der BF trotz der widrigen Umstände geschafft habe, die Stadt schlussendlich dennoch zu verlassen, sei nicht als Widerspruch zu werten. Er habe erst im Zeitpunkt der Rekrutierungsbemühungen durch den IS im August 2015 die Lage in Mossul derart prekär eingeschätzt, dass er die Stadt verlassen habe müssen. Ergänzend wurde vorgebracht, dass, nachdem der Vater und der jüngste Bruder des BF vom IS freigelassen worden seien, das Haus und das Firmengelände der Familie vom IS beschlagnahmt worden seien. Die Eltern des BF und sein jüngster Bruder hätten ein anderes Haus mieten müssen. Anfang 2017, als sich die Kämpfe in Mossul intensiviert hätten, sei die Familie des BF dann in ein Flüchtlingscamp in der Nähe zur Grenze der Provinz Erbil geflüchtet. Das vom IS beschlagnahmte Haus, in dem die Familie ursprünglich gewohnt habe, und das dazugehörige Firmengelände seien durch einen Luftschlag zerstört worden, da sich IS-Anhänger darin verschanzt hätten. Ca. im Juni/Juli 2017 sei die Familie dann wieder nach Mossul in das vormals gemietete Haus zurückgezogen. Nach ihrer Rückkehr nach Mossul sei die Familie des BF in das Visier der schiitischen Asa'ib Ahl al-Haq-Miliz geraten. Der Vater und der jüngste Bruder des BF seien von der Asa'ib Ahl al-Haq-Miliz mitgenommen worden. Die Miliz habe der sunnitischen Familie vorgeworfen, dass der abwesende BF und sein zweiter Bruder sich dem IS angeschlossen hätten und nun in Syrien seien. Der Vater des BF sei von den Anhängern der Asa'ib Ahl al-Haq-Miliz geschlagen und misshandelt worden. Der Vater sei dann freigelassen worden, den jüngsten Bruder des BF habe die Miliz nicht freigelassen. Bis heute wisse die Familie nicht, was mit dem jüngsten Bruder des BF geschehen sei. Es sei daher davon auszugehen, dass der BF und seiner Bruder XXXX im Falle einer Rückkehr nach Mossul durch die Miliz Asa'ib Ahl al-Haq wegen ihrer Eigenschaft als Sunniten bzw. wegen unterstellter Zugehörigkeit zum IS verfolgt würden. Für sunnitische Rückkehrer bestehe in ehemals vom IS kontrollierten Gebieten wegen unterstellter Zugehörigkeit zum IS u.a. die Gefahr von willkürlichen Verhaftungen, Entführungen, Verschwindenlassen oder extralegalen Tötungen. Der BF sei von einer Rekrutierung seitens des IS geflohen, was ihn zwangsläufig zum Ziel der verbliebenen IS-Kämpfer mache. Er wäre im Fall einer Rückkehr daher weiter im Blickfeld des IS. Selbst, wenn der IS Mossul nicht mehr kontrolliere, sei nach der Berichtslage davon auszugehen, dass er weiterhin in der Lage sein werde, Zivilisten in Mossul zu verfolgen, u.a. durch Zellen im Untergrund. Die Sicherheitslage für Zivilisten in Mossul sei angespannt, die dortige Versorgungslage prekär. Die Familie des BF könne den BF finanziell nicht unterstützen. Die finanziellen Ressourcen der Familie seien erschöpft. Das Haus und das Firmengelände der Familie seien vollkommen zerstört. Dem BF drohe eine Verfolgung durch die Asa'ib Ahl al-Haq-Miliz auch in Bagdad. Diese habe in Bagdad großen Einfluss. Übergriffe auf sunnitische Viertel kämen vor. Die belangte Behörde verkenne die Gefahrenlage für den BF an den Checkpoints zwischen dem Flughafen und Bagdad City. Der BF wäre als sunnitischer Moslem, der aus einem Gebiet stamme, das ehemals vom IS besetzt gewesen sei, der Gefahr willkürlicher Inhaftierung und "Incommunicado"-Gefangenschaft ausgesetzt. Die Sicherheitslage in Bagdad sei als äußerst prekär einzustufen. Auf zitierte Länderberichte wurde verwiesen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung würde in ungerechtfertigter Weise in das Privat- und Familienleben des BF eingreifen.
Mit dem Schriftsatz wurden (soweit im Verfahren noch nicht vorgelegt) Lichtbilder, ein ÖSD-Zertifikat A2 vom 7.11.2017 ("bestanden"), ein Zertifikat von bpi vom 23.10.2017 über den Besuch eines Sprachkurses Deutsch A2 im Rahmen des Projekts "Start Wien Flüchtlinge – Integration ab Tag 1" sowie Anmeldebestätigungen von bpi über das Projekt "Start Wien Flüchtlinge – Integration ab Tag 1" und einen Deutschkurs B1 vorgelegt.
8. Mit Schriftsatz vom 5.11.2020 wurde dem Bundesverwaltungsgericht die Auflösung des bestehenden Vollmachtsverhältnisses zur bisherigen Rechtsvertreterin angezeigt.
9. Am 15.12.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des BF in dessen Beisein eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Ein Behördenvertreter ist unentschuldigt zur Verhandlung nicht erschienen.
Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA für den Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020), der Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 sowie die Kurzinformation der Staatendokumentation, Naher Osten, COVID-19 – aktuelle Lage, vom August 2020 wurden vom erkennenden Gericht in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingebracht. Nach zusammengefasster Darstellung des Inhalts der Länderberichte gab der BF an, wenn die Berichte nicht beinhalten würde, dass im Falle der Rückkehr eine Gefahr für jene, die abgeschoben werden, bestehe, so stimmte dies nicht. Im Falle der Rückkehr würden Milizen davon verständigt werden und wenn sie den Abgeschobenen suchen, dann würden sie ihn festnehmen und töten.
Der BF legte in der mündlichen Verhandlung (soweit im Verfahren noch nicht vorgelegt) einen irakischen Personalausweis samt Übersetzung, Kursbesuchsbestätigungen des Fonds Soziales Wien vom 24.7.2019 betreffend Deutschkurse, einen Kontoauszug, eine Rechnung, ein Schreiben des AWZ Soziales Wien betreffend Erstberatung Bildungsdrehscheibe, diverse Anmelde- bzw. Besuchsbestätigungen über Deutschkurse auf den Sprachniveaus A1, A2, A2+, B1 und B1+, ein ÖSD-Zertifikat Deutsch Österreich B1 vom 19.2.2018 ("nicht bestanden"), ein ÖSD-Zertifikat Deutsch Österreich B1 vom 25.4.2018 ("ausreichend bestanden"), ÖSD-Karten A2 und B1, eine Übersetzung einer irakischen Schulbescheinigung, ein irakisches Zeugnis samt Übersetzung, ein Schreiben der HTL XXXX , Schulbesuchsbestätigungen der Höheren Technischen Bundeslehranstalt XXXX . für die Schuljahre 2018/19, 2019/20 und 2020/21, eine Bestätigung über den Schulbesuch der HTL XXXX vom 10.11.2020, einen vorläufiger Führerschein B samt Prüfungsprotokoll, Werbematerial eines Fitnessstudios, eine Einstellungszusage vom 17.11.2020 sowie zwei Empfehlungsschreiben vor.
10. Mit Schreiben des erkennenden Gerichtes vom 22.3.2021 wurden dem BF die im gegenständlichen Verfahren relevanten Abschnitte aus dem Bericht von EASO zum Irak (Sicherheitslage – Informationsbericht über das Herkunftsland) von Oktober 2020 sowie den "UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen" von Mai 2019, das Kartenmaterial iMMAP, Humanitarian Access Response: Explosive Hazards Risk Level on Roads in Ninewa Governorate 1-28 February 2021 und iMMAP, Humanitarian Access Response: Explosive Hazards Risk Level on Roads in Erbil Governorate 1-28 February 2021 sowie Informationen zum Rückkehr- und Reintegrationsprogramm ERRIN übermittelt und wurde ihm die Gelegenheit gegeben, dazu eine Stellungnahme zu erstatten.
11. Am 6.4.2021 langten eine Vollmacht der BBU GmbH sowie eine Stellungnahme zu den vom BVwG mit Schreiben vom 22.3.2021 ergänzend in das Verfahren eingebrachten Länderberichten ein.
In seiner Stellungnahme betonte der BF unter Hinweis auf näher genannte Quellen, dass die Sicherheitslage im Irak immer noch instabil und hochgradig alarmierend sei. Zitiert wurden dabei insbesondere auch der vom BVwG bereits im Rahmen der Beschwerdeverhandlung in das Verfahren eingebrachte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie der Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak. Ergänzend wurde zudem auf die aktuelle Covid-19-Lage im Irak hingewiesen; im Fall einer Rückkehr habe der BF diesbezüglich eine ernsthafte Gesundheitsgefährdung zu befürchten, zumal es im Irak insbesondere keine adäquate medizinische Behandlung gebe. Zudem gewinne der IS im Irak im Schatten der Corona-Pandemie wieder an Stärke. Sunniten würden, wie auch aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation hervorgehe, weiterhin durch schiitische Milizen bedroht und verfolgt werden. Schließlich wurde nochmals auf die Integration des BF in Österreich hingewiesen; er stehe in Ausbildung, spreche sehr gut Deutsch und halte sich bereits seit mehr als fünf Jahren in Österreich auf. Eine Rückkehrentscheidung sei auf Dauer unzulässig.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF werden folgende Feststellungen getroffen:
Der BF trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am dort angeführten Datum geboren. Seine Identität steht fest. Der BF ist Staatsangehöriger des Irak und der Volksgruppe der Araber zugehörig. Er bekennt sich zum sunnitischen Islam. Die Muttersprache des BF ist Arabisch. Der BF ist gesund.
Der BF stammt aus Mossul, Gouvernement Ninewa. Der BF lebte bis zu seiner Ausreise im Haus der Familie im Bezirk XXXX in Mossul; zuvor lebte er im dortigen Bezirk XXXX . Der BF besuchte in Mossul ca. 14 Jahre lang die Schule. In den Sommerferien arbeitete er bei seinem Vater.
Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Er hat zwei Brüder und eine Schwester. Der Vater des BF war Inhaber von drei Geschäften (Schlosserei für Fenster und Türen) in Mossul. Anfang 2017 begab sich die Familie in ein Flüchtlingslager in der Nähe der Grenze des Gouvernements Erbil. Im Zuge von Kampfhandlung wurde das Haus der Familie zerstört. Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt kehrte die Familie nach Mossul zurück. Die Eltern des BF leben weiterhin in einem Haus in Mossul. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt durch den Verkaufserlös ihrer drei Geschäfte und drei Fahrzeuge und des zerstörten Hauses (Grundstück). Der BF steht in telefonischem Kontakt mit seinen Eltern im Irak.
Der BF reiste Ende August 2015 gemeinsam mit seinem Bruder XXXX aus dem Irak aus.
Der BF gehörte zu keinem Zeitpunkt dem IS an oder unterstützte diesen; ebenso finden sich unter seinen Familienangehörigen keine Anhänger oder Unterstützer des IS.
1.2. Zu den Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen des BF werden folgende Feststellungen getroffen:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt wäre.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung durch schiitische Milizen, konkret der Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq, oder seitens verbliebener Anhänger des IS ausgesetzt wäre. Nicht festgestellt werden kann, dass der jüngste Bruder des BF von der Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq entführt wurde. Dem BF wird im Falle einer Rückkehr in den Irak nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Anhängerschaft bzw. Unterstützung des IS oder ein sonstiges Naheverhältnis zum IS vor der Ausreise unterstellt werden.
Die Gefahr einer im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgung des BF aufgrund seines sunnitischen Glaubensbekenntnisses kann nicht festgestellt werden.
Es kann auch keine sonstige Gefahr einer Verfolgung des BF im Falle seiner Rückkehr in den Irak festgestellt werden.
1.3. Zur Lage des BF im Falle einer Rückkehr:
Es kann unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden, dass eine Abschiebung des BF in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK bedeuten oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit mit sich bringen würde.
Es kann insbesondere nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in den Irak in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden. Der BF ist gesund, arbeitsfähig und mobil und verfügt im Irak über eine ca. 14-jährige Schulbildung. Es spricht nichts dagegen, dass der BF durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit seine notwendigen Lebensbedürfnisse befriedigen könnte. Darüber hinaus verfügt der BF im Irak über ein soziales Netz in Form seiner dort lebenden Familienangehörigen, mit denen er auch in Kontakt steht.
Der BF besitzt einen irakischen Personalausweis. Die Stadt Mossul ist über den Flughafen Erbil und anschließend die Schnellstraße 2 (via Kalak und Bartella) bzw. über die Ausweichroute Richtung Machmur und die Schnellstraße 80 oder über den Flughafen Bagdad und anschließend die Schnellstraße 1 (via Samarra, Tikrit und Baidschi) erreichbar.
1.4. Zum Privat- und Familienleben des BF in Österreich:
Der BF reiste im September 2015 gemeinsam mit seinem Bruder XXXX illegal in das Bundesgebiet ein und hält sich somit seit ca. fünf Jahren und sieben Monaten in Österreich auf.
Der BF hat – abgesehen von seinem mitgereisten Bruder XXXX – keine Familienangehörigen oder Verwandten in Österreich. Der BF lebt nicht in einer Lebensgemeinschaft. Er wohnt gemeinsam mit seinem Bruder und anderen Personen in einer Mietwohnung in XXXX . Ein zwischen dem BF und seinem in Österreich aufhältigen Bruder bestehendes persönliches oder finanzielles Abhängigkeitsverhältnis kann nicht festgestellt werden. Mit Erkenntnis des BVwG vom heutigen Tag, GZ: L503 2160707-1, wurde die von XXXX gegen die Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz und Erlassung einer Rückkehrentscheidung erhobene Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der BF verfügt über gute Kenntnisse der deutschen Sprache. Er besuchte während seines Aufenthalts in Österreich mehrere Deutschkurse und legte im Jahr 2018 eine Deutschprüfung auf dem Sprachniveau B1 erfolgreich ab. Danach nahm er an einem weiteren Deutschkurs auf dem Sprachniveau B1+ teil.
Der BF besuchte im Schuljahr 2015/16 als außerordentlicher Schüler die Klasse XXXX der Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule XXXX . Am 26.4.2017 nahm der BF an einer Erstberatung der Bildungsdrehscheibe teil. Der BF verfügt aufgrund der Anerkennung seiner irakischen Zeugnisse über einen österreichischen Mittelschulabschluss. In den Schuljahren 2018/19, 2019/20 und 2020/21 besucht(e) der BF die Klassen XXXX bzw. XXXX und XXXX der Höheren Technischen Bundeslehranstalt XXXX (nunmehr HTL Wien West). Der BF besucht den Aufbaulehrgang für Berufstätige für Informatik dieser Schule.
Der BF besuchte ein "Sprachcafé" und nahm an einem "Interkulturellen Frühstück" in XXXX teil; dort hielt er ein Referat über den Irak. Im Jahr 2017 nahm der BF an dem Projekt "Start Wien Flüchtlinge – Integration ab Tag 1" teil und verrichtete einige Tage gemeinnützige Tätigkeiten. Der BF verfügt in Österreich über soziale Anknüpfungspunkte; verfestigte soziale oder freundschaftliche Bindungen zu in Österreich lebenden Personen können nicht festgestellt werden. Es kann nicht festgestellt werden, dass sich der BF aktuell in einem Verein bzw. einer sonstigen Organisation oder anderweitig ehrenamtlich engagiert.
Der BF ging während seines Aufenthalts in Österreich bisher keiner Erwerbstätigkeit nach; er steht im Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung. Der BF verfügt über eine Einstellungszusage der XXXX für eine Vollzeitbeschäftigung. Der BF besitzt einen österreichischen Führerschein der Klasse B.
Der BF ist strafrechtlich unbescholten. Vom BF im Bundesgebiet begangene Verwaltungsübertretungen sind nicht aktenkundig.
1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Zur Lage im Irak wird auf das vom Bundesverwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung vom 9.12.2020 in das Verfahren eingebrachte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020), den Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 und die Kurzinformation der Staatendokumentation, Naher Osten, COVID-19 – aktuelle Lage vom 14.8.2020 verwiesen, in denen eine Vielzahl von Berichten diverser allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt werden. Insoweit die Berichtslage konkret im gegenständlichen Verfahren relevant ist, wird darauf unten im Rahmen der Beweiswürdigung betreffend die Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen des BF näher eingegangen. Soweit der BF in der mündlichen Verhandlung den Länderberichten entgegentritt, indem er darauf hinweist, es sei falsch, dass für jene, die abgeschoben werden, im Falle der Rückkehr keine Gefahr bestehe (vgl. Verhandlungsschrift S. 11), ist dem zu entgegnen, dass sich die Länderberichte ausführlich mit der Sicherheitslage und relevanten Akteuren im Irak beschäftigen. Den Berichten lässt sich nicht entnehmen, dass – wie der BF in diesem Sinne vorgebracht hat – im Falle einer Abschiebung (nicht näher bezeichnete) Milizen verständigt würden, welche einen gesuchten Abgeschobenen festnehmen und töten würden. Hinsichtlich einer individuellen Gefährdung des BF im Falle einer Rückkehr ist im Übrigen auf die Ausführungen unter Punkt 2.2. zum Fluchtvorbringen bzw. zu den Rückkehrbefürchtungen des BF zu verweisen.
Ergänzend wird auf die relevanten Abschnitte aus dem Bericht von EASO zum Irak (Sicherheitslage – Informationsbericht über das Herkunftsland) von Oktober 2020 und den "UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen" von Mai 2019 und das Kartenmaterial iMMAP, Humanitarian Access Response: Explosive Hazards Risk Level on Roads in Ninewa Governorate 1-28 February 2021 und iMMAP, Humanitarian Access Response: Explosive Hazards Risk Level on Roads in Erbil Governorate 1-28 February 2021 verwiesen. Diese Berichte wurden dem BF am 22.3.2021 ergänzend übermittelt und wurde ihm die Gelegenheit gegeben, dazu eine Stellungnahme zu erstatten. In seiner Stellungnahme vom 6.4.2021 trat der BF diesen Berichten nicht entgegen, sondern erstattete ein allgemeines Vorbringen (insbesondere) zur Sicherheitslage im Irak.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person des BF:
Die zur Identität des BF getroffenen Feststellungen beruhen einerseits auf seinen eigenen Angaben vor der belangten Behörde (AS 13, 97 f) und andererseits auf den im Verfahren vorgelegten irakischen Identitätsdokumenten (AS 85 ff; vgl. auch den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten irakischen Personalausweis samt Übersetzung). Die Identität des BF konnte somit festgestellt werden.
Die Angaben des BF zu seiner Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und seinem religiösen Bekenntnis (vgl. AS 13, 99) waren nicht zweifelhaft und konnten der Entscheidung des erkennenden Gerichtes zugrunde gelegt werden.
Der BF gab in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde zu seinem Gesundheitszustand an, dass es ihm gut gehe (AS 95) und brachte auch im Beschwerdeverfahren keine gesundheitlichen Probleme vor. Es war daher zur Feststellung zu gelangen, dass der BF gesund ist.
Die getroffenen Feststellungen zum bisherigen Leben des BF im Irak und zu seinen dort lebenden Familienangehörigen beruhen unmittelbar auf seinen – grundsätzlich glaubhaften – Angaben vor der belangten Behörde (AS 97 ff) und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. Verhandlungsschrift S. 5 ff). Da die Angaben des BF zum Aufenthalt seiner Familienangehörigen im Irak untrennbar mit seinem Fluchtvorbringen verbunden sind, wird darauf unter Punkt 2.2. näher eingegangen.
2.2. Zum Fluchtvorbringen des BF:
2.2.1. Zur behaupteten Verfolgung des BF durch den IS bzw. durch schiitische Milizen im Irak:
2.2.1.1. Im Hinblick auf die Sicherheitslage im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020) auszugsweise wie folgt ausgeführt:
Zur allgemeinen Sicherheitslage (S. 14):
"Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat […]. Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert […]. Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete […].
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren […]. […]"
Zum Islamischen Staat (IS) (S. 16 ff):
"Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 […] hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt […] und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück […]. Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen […] und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes […].
Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst […]. Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch […]. Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar […]. Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din […]. Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken […]. Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten […].
Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungsziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter […], dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden […], sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen […].
Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert […]. Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat […].
Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab […]. Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour […]. Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern […].
Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein […]."
Zur Sicherheitslage in Bagdad (S. 21 ff):
"Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden […].
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden […]. Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt […]).
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen […], doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen […]. Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden […].
Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet […]. Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad […].
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet […], im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten […]. Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar […]
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren […].
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen."
Zur Sicherheitslage im Nord- und Zentralirak (S. 26 ff):
"Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten […], so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen […].
In den sogenannten "umstrittenen Gebieten", die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen […]. Die Sicherheitsaufgaben in den "umstrittenen Gebieten" werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt […]. Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat […].
Bei den zwischen Bagdad und Erbil "umstrittenen Gebieten" handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem "arabischen" und "kurdischen" Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt […]. Die "umstrittenen Gebiete" umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya and Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala […]. Die Bevölkerung der "umstrittenen Gebiete" ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die "umstrittenen Gebiete" umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen […].
Gouvernement Ninewa
Der Islamische Staat (IS) hat seine Präsenz in Ninewa durch Kräfte aus Syrien verstärkt und führte seine Operationen hauptsächlich im Süden und Westen des Gouvernements aus […]. Er verfügt aber auch in Mossul über Zellen […]. Es wird außerdem vermutet, dass der IS vorhat in den Badush Bergen, westlich von Mossul, Stützpunkte einzurichten […].
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Ninewa 40 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 33 Toten und 25 Verletzten verzeichnet […], im Februar 2020 waren es zwölf Vorfälle mit 35 Toten und 15 Verletzten […]. Die meisten der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Ninewa ereigneten sich im Süden des Gouvernements […].
[…]
Gouvernement Salah ad-Din
Im Gouvernement Salah ad-Din ist der IS hauptsächlich in ländlichen Regionen aktiv. Im Dezember 2019 setzte der IS erstmals seit Mai 2019 wieder Autobomben ein […]. Drei derartige Attacken trafen Sicherheitskräfte der PMF […], zusätzlich zu einem Vorfall mit einem Selbstmordattentäter mit Sprengstoffweste […].
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Salah ad-Din 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 27 Toten und 42 Verletzten […], im Februar 2020 waren es sechs Vorfälle mit zehn Toten und vier Verletzten […]. Während die übrigen Vorfälle dem IS zugeschrieben werden, werden für zwei Vorfälle im Jänner 2020 - ein Raketen-, bzw. ein Mörserbeschuss auf den Militärstützpunkt Balad - pro-iranische PMF verantwortlich gemacht […]."
Zur Sicherheitslage in der Kurdischen Region im Irak (S. 24 f):
"Erbil bzw. Sulaymaniyah und unmittelbarer Umgebung erscheint die Sicherheitssituation vergleichsweise besser als in anderen Teilen des Irak. Allerdings kommt es immer wieder zu militärischen Zusammenstößen, in die auch kurdische Streitkräfte (Peshmerga) verwickelt sind, weshalb sich die Lage jederzeit ändern kann. Insbesondere Einrichtungen der kurdischen Regionalregierung und politischer Parteien sowie militärische und polizeiliche Einrichtungen können immer wieder Ziele terroristischer Attacken sein […].
Im Juli 2019 führte der IS seine seit langem erste Attacke auf kurdischem Boden durch. Im Gouvernement Sulaymaniyah attackierte er einen Checkpoint an der Grenze zu Diyala, der von Asayish [Anm.: Inlandsgeheimdienst der Kurdischen Region im Irak (KRI)] bemannt war. Bei diesem Angriff wurden fünf Tote und elf Verletzte registriert […]. Im August 2019 wurde in Sulaymaniyah ein Vorfall mit einer IED verzeichnet, wobei es keine Opfer gab […]. Im November 2019 wurde ein weiterer Angriff im Gouvernement Sulaymaniyah verzeichnet. Der Vorfall ereignete sich im südlichen Sulaymaniyah, an der Grenze zu Diyala. Asayesh-Einheiten, die einen Mörserbeschuss untersuchten, wurden von Heckenschützen beschossen. Drei Personen, darunter ein Kommandant, starben, acht Personen, fünf Asayesh und drei Zivilisten wurden verletzt […].
Im Gouvernement Erbil wurde im Jänner 2020 ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer verzeichnet. Als Vergeltung für die Tötung des iranischen Generalmajors Qassem Soleimani und des stellvertretenden Leiters der Volksmobilisierungskräfte (PMF)-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis durch die USA feuerte der Iran Raketen auf die US-Militärbasis nahe dem Internationalen Flughafen Erbil ab […]. Im Februar 2020 wurden drei Vorfälle mit sieben Verletzten im südlichen Distrikt Makhmour verzeichnet. Dabei handelte es sich um einen Raketenangriff pro-iranischer PMF auf einen US-Militärstützpunkt […], um die Detonation zweier IEDs in einem Dorf mit sechs Verletzten […] und um einen Angriff des IS auf ein IDP Lager, mit einem verletzten Zivilisten […].
Seit dem Abbruch des Friedensprozesses zwischen der Türkei und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Jahr 2015 kommt es regelmäßig zu türkischen Militäroperationen und Bombardements gegen Stellungen von PKK-Kämpfern in Qandil und in den irakischen Grenzgebieten […]. Im Kreuzfeuer solcher Angriffe werden immer wieder kurdische Dörfer evakuiert, da manchmal auch Zivilisten und deren Eigentum von den Kämpfen bedroht und bei türkischen Luftangriffen getroffen wurden […].
Am 27.5.2019 initiierte die türkische Armee die „Operation Claw“ gegen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak. Die erste Phase richtete sich gegen Stellungen in der Hakurk/Khakurk-Region im Gouvernement Erbil […]. Die zweite Phase begann am 12.7.2019 und zielt auf die Zerstörung von Höhlen und anderen Zufluchtsorten der PKK […]. Die türkischen Luftangriffe konzentrierten sich auf die Region Amadiya im Gouvernement Dohuk, von wo aus die PKK häufig operiert […]. Ende August 2019 begann die dritte Phase, die sich wiederum gegen die PKK im Gouvernement Dohuk richtete. Betroffen waren vor allem grenznahe Orte, Regionen und Subdistrikte wie Zab, Sinat-Haftanin, Batifa und Avashin […].
Am 10. und 11.7.2019 bombardierte iranische Artillerie mutmaßliche PKK-Ziele im Subdistrikt Sidakan/Bradost im Gouvernement Sulaymaniyah, wobei ein Kind getötet wurde […]. In dem Gebiet gibt es häufige Zusammenstöße zwischen iranischen Sicherheitskräften und iranisch-kurdischen Aufständischen, die ihren Sitz im Irak haben, wie die “Partei für ein Freies Leben in Kurdistan‘‘ (PJAK), die von Teheran beschuldigt wird, mit der PKK in Verbindungen zu stehen […]."
2.2.1.2. Im Hinblick auf die Machtverhältnisse sowie neueste Sicherheitstrends und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in der Provinz Ninewa wird im Bericht der EASO zum Irak (Sicherheitslage – Informationsbericht über das Herkunftsland von Oktober 2020 auszugsweise wie folgt ausgeführt (S 141 ff):
"In Ninawa gingen der ISIL-Besatzung „Jahre des gewaltsamen Extremismus und des organisierten Verbrechens durch Milizengruppen [voraus], bei denen es sich um Vorläufer und/oder Gegner des IS handelte“. Aufgrund ihrer Lage in den umstrittenen Gebieten und ihrer ethnischen Vielfalt gilt die Provinz Ninawa als „langjähriges Zentrum des sunnitisch-arabischen Nationalismus im Irak“ und war einst der „Hauptstützpunkt von Al-Qaida im Irak“.
Im Juni 2014 wurde Mossul vom ISIL eingenommen und besetzt. Im Zuge der Angriffe des ISIL auf Sindschar, Zumar und die Ninawa-Ebene im August 2014 wurde innerhalb weniger Wochen fast eine Million Menschen vertrieben. Der Fall von Mossul im Juni 2014 und der Rückzug der kurdischen Streitkräfte aus weiten Teilen der Provinz im August 2014 führten dazu, dass der ISIL zahlreiche Minderheiten des Irak ins Visier nahm: Turkmenen, Christen, Jesiden, Schabak, Kaka‘i und andere Bevölkerungsgruppen wurden Opfer von Folter, öffentlichen Hinrichtungen, Kreuzigungen, Entführungen und sexueller Versklavung.
Der Kampf um Mossul dauerte mehr als neun Monate, und der Sieg über den ISIL wurde erst Anfang Juli 2017 offiziell verkündet. Dieser Kampf, und insbesondere sein zweiter Teil mit der Einnahme der historischen Altstadt im Westen Mossuls, war bislang die härteste Konfrontation zwischen dem ISIL und den Streitkräften der irakischen Regierung seit Beginn des Konflikts im Jahr 2014. Mossul – die zweitgrößte Stadt des Irak – wurde schwer beschädigt, und während der Feindseligkeiten wurden zahlreiche Zivilisten getötet. Die Angaben zur Zahl der zivilen Opfer reichen von 4 194 Toten und Verwundeten bis hin zu 9 000 bis 11 000 Toten. Einer Quelle zufolge könnten durch die massive Feuerkraft, die von den irakischen Sicherheitskräften, der internationalen Koalition und dem ISIL gegen die Stadt eingesetzt wurde, mehr als 40 000 Zivilisten ums Leben gekommen sein.
Viele der örtlichen Milizen und ihrer Gefolgschaften wurden von Minderheitengemeinschaften als Reaktion auf die Bedrohung durch den ISIL und die Tatsache gegründet, dass die irakische Armee und die Peschmerga ihre Posten im Zuge der ISIL-Offensive des Jahres 2014 aufgaben.
Nach der Zerschlagung des ISIL verübten die Aufständischen in Ninawa weiterhin zahlreiche Gewalttaten. Nach dem Verlust seiner territorialen Kontrolle in der Provinz führte der ISIL weiterhin asymmetrische Angriffe auf die ISF in Ninawa sowie in anderen Provinzen im nördlichen Zentralirak und in der zentralen Region durch.
[…]
Entwicklungen 2019-2020
Zu Sicherheitsvorfällen kam es 2019 überall in der Provinz: Neben Luftangriffen der irakischen Luftwaffe und der Internationalen Koalition auf mutmaßliche Verstecke des ISIL erfolgten militärische Bodenoperationen von ISF und PMU gegen den ISIL sowie Anschläge des ISIL auf die ISF und auch auf die Zivilbevölkerung. Die türkische Luftwaffe griff Stellungen der kurdischen/jesidischen YBS in Sindschar an. Es gab ferner Demonstrationen gegen Korruption durch den abgesetzten Gouverneur und Proteste von Angehörigen einer PMF-Brigade gegen den ihnen erteilten Befehl, aus Mossul und der Ninawa-Ebene abzuziehen.
Michael Knights und Alex Almeida beurteilten den Aufstand des ISIL in Ninawa 2018 als „lückenhaft und ziemlich schwach”, stellten jedoch in der zweiten Jahreshälfte 2019 einen plötzlichen Anstieg bei der Zahl der Anschläge fest, die sich ungefähr auf das Doppelte des Vorjahres belief, und ihrer Auffassung nach hielt sich diese Zahl auch während des ersten Quartals 2020. Allerdings wiesen diese Autoren auch auf den großen Unterschied in den Anschlagszahlen zwischen deren Spitzenzeiten im Jahr 2013 und der Gegenwart hin. 2013 gab es in Ninawa 278 Anschläge pro Monat, drei Viertel davon in der Stadt Mossul, während im März 2020 nur 31 Anschläge verübt wurden. Ab der zweiten Jahreshälfte 2019 bis hinein in das Jahr 2020 wurden die Anschläge immer raffinierter. Laut Knights/Almeida erfolgten seltener nächtliche Überfälle, bei denen mukhtars getötet wurden, und die das Tigris-Tal 2018 terrorisierten. Nach Auffassung der Autoren verfügt der ISIL über eine größere Spanne von Anschlagszellen in der Provinz als im Vorjahr sowie einsatzbereite Anschlaggruppen in elf Gebieten im ersten Quartal 2020 im Vergleich zu nur sechs Ende 2018.
Die Zahl der von Joel Wing erfassten Vorfälle in den Jahren 2019 und 2020 bewegte sich in der gleichen Spanne, nämlich zwischen neun und 25 Anschlägen pro Monat, doch nahm nach Meinung von Knights/Almeida die Zahl der Anschläge schon gegen Ende 2018 stetig zu; dieser Trend entwickelte sich dann in der zweiten Jahreshälfte zu einem plötzlichen Anstieg mit 34,1 Anschlägen pro Monat, was fast dem Doppelten der Zahlen von 2018 entspricht. Der gleichen Quelle zufolge wurde diese Zahl von Anschlägen der Aufständischen im ersten Quartal 2020 gehalten, und die Verfasser sahen hierin ein relativ stabiles neues Niveau von Anschlägen (32,3 Anschläge des ISIL pro Monat während des ersten Quartals 2020). Das USDOD verzeichnete zwischen 25 und 30 ISIL-Anschlägen in Ninawa im Zeitraum Januar bis April 2020 und 24 von April bis Juni 2020.
Nach Auffassung von Joel Wing war Ninawa im Februar, März, April und Mai 2020 für die Aufständischen nur eine Nebenfront. Michael Knights und Alex Almeida erklärten in ihrer Analyse von 2019 und vom ersten Quartal 2020, dass der Anstieg bei den Anschlägen des ISIL in Ninawa seit dem Sommer 2019 und das anhaltend hohe Niveau im Jahr 2020 hauptsächlich auf eine steigende Zahl und eine bessere Qualität der Sprengfallen an Straßen zurückzuführen ist. Die gleichen Analysten sahen eine allmähliche Verbreitung ausgefeilterer Taktiken beim Einsatz von USBV, wie Ketten mehrerer USBV, um den Wirkungsbereich zu vergrößern, Aufstellen von Sprengfallen in Häusern, um Sicherheitskräfte umzubringen, und Nutzung von Anschlägen als Köder, um Einsatzkräfte in die Nähe von Sprengfallen an Straßen zu locken. Wie den Berichten über Vorfälle von ACLED und Joel Wing zu entnehmen ist, sind die meisten Opfer von Sprengfallen an Straßen Angehörige von Sicherheitskräften. Es gibt allerdings auch zivile Opfer.
Das geografische Muster der Angriffe der Aufständischen im Jahr 2019 zeigt, dass mit Ausnahme der unter kurdischer Kontrolle stehenden nordöstlichen Teile der Provinz alle Bezirke von Ninawa betroffen waren. Typische Hotspots für die ISIL-Aktivität waren die südlich von Mossul gelegenen Gebiete im Tigris-Tal und generell ländliche Gebiete in Reichweite der Gebiete, in denen der ISIL aktiv ist, wie weiter oben im Kapitel „ISIL-Kämpfer“ aufgeführt.
Die folgende Karte zeigt die Orte, an denen ACLED Vorfälle im Zeitraum 1. Januar bis 19. Juni 2020 registrierte. Die Karte gibt nicht alle Vorfälle in der Provinz wieder, sondern nur die betroffenen geografischen Gebiete. ACLED verzeichnete in diesem Zeitraum 66 Vorfälle. Die in Akrê in der Nordostecke der Provinz Ninawa registrierten Vorfälle waren türkische Luftangriffe:
Karte 12: Von ACLED und EPIC zwischen dem 1. Januar und dem 26. Juni 2020 verzeichnete Vorfälle, Zusammenstellung durch Cedoca auf Google Maps
Zu den im ersten Halbjahr 2020 verzeichneten verschiedenen Arten von Vorfällen gehörten reguläre bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen des ISIL, einschließlich Schießereien oder Sprengstoffanschläge, Sicherheitsoperationen gegen Verstecke der Aufständischen in ländlichen und entlegenen Gebieten, aber auch in der Nähe von oder in besiedelten Orten. So gab es beispielsweise einen Anschlag der Aufständischen auf das Elektrizitätsnetz nahe Qayyarah im Mai 2020, bei dem drei Starkstrommasten getroffen wurden.
Der ISIL setzt unterschiedliche Taktiken ein, wie das Anbringen von USBV in Straßennähe, auf denen die Sicherheitskräfte patroullieren, oder das Abfeuern von Mörsergranaten auf besiedelte Gebiete oder deren Beschuss mit Kleinwaffen. Eine weitere Vorgehensweise der Aufständischen ist das Angreifen und Töten von Dorf-mukhtars. Auch wenn, wie Knights/Almeida unterstreichen, diese Form der Gewalt seltener als in früheren Jahren zu beobachten ist, kommt sie doch 2020 noch immer vor.
Auch 2020 werden noch Massengräber von Opfern des Konflikts mit dem ISIL zwischen 2014 und 2017 entdeckt, das größte dieser Gräber im Februar 2020 in der Region Tal Afar. Am 17. Mai 2020 gab der neue Premierminister Mustafa al-Kadhimi Anweisung, alle verfügbaren Ressourcen einzusetzen, um das Schicksal entführter und verschwundener Iraker zu klären. Die meisten Vermisstenanzeigen kommen aus Ninawa.
Luftangriffe gegen ISIL-Stellungen wurden von der irakischen Luftwaffe und der Internationalen Koalition geflogen, wohingegen die türkische Luftwaffe 2019 und 2020 Stellungen kurdischer und jesidischer Milizen mit Verbindungen zur PKK in den Bezirken Sindschar und Akre angriff.1077 Bei den türkischen Luftangriffen gab es zivile Opfer.
Einige Beispiele für Sicherheitsvorfälle
Nachstehend eine nicht erschöpfende Auflistung von Sicherheitsvorfällen, die sich Berichten zufolge zwischen dem 1. Januar 2019 und dem 31. Juli 2020 in der Provinz Ninawa ereignet haben:
Anschläge des ISIL auf mukhtars:
• Am 9. Mai 2019 wurde der mukhtar des Dorfes al-Lazaka im Bezirk Hammam al-Alil zusammen mit vier Mitgliedern seiner Familie von ISIL-Kämpfern ermordet. Zwei weitere Familienmitglieder wurden bei dem Anschlag verletzt.
• Am 18. November 2019 wurde der mukhtar des Dorfes Ahlila in Ost-Mossul ermordet.
• Am 26. Februar 2020 griffen ISIL-Kämpfer das Haus eines mukhtar in Al Muhallabiyah westlich von Mossul an, töteten dabei den mukhtar und verletzten seinen Sohn.
Bewaffnete Angriffe durch den ISIL:
• Am 22. Dezember 2019 griff der ISIL das Dorf Al-Rusif im Bezirk Shoura (Süd-Mossul) an, tötete zwei Zivilisten und verletzte einen weiteren.
• Am 10. Mai 2020 beschossen nicht identifizierte Bewaffnete mit einem Mörser das Haus eines Zivilisten in al Qayyarah südlich von Mossul und verletzten dabei drei Mitglieder des Haushalts.
USBV vom ISIL oder nicht identifizierten Tätern:
• Am 22. Mai 2019 kam ein Zivilist bei der Explosion einer USBV im Bezirk al-Shoura in Mossul ums Leben.
• Am 9. November 2019 explodierte eine USBV in einem Transportfahrzeug in dem Dorf Qaraj südwestlich von Mossul; durch die Explosion wurden drei Zivilpersonen verletzt.
• Am 12. Februar 2020 kam bei der Explosion einer USBV des ISIL in dem Gebiet al-Rashidiyah nördlich von Mossul ein Zivilist ums Leben und wurden zehn weitere verletzt.
• Am 3. März 2020 explodierte eine nicht identifizierte USBV in Tel Kayf in der Provinz Ninawa und verletzte zwei Zivilisten.
• Am 7. Mai 2020 explodierte nahe dem Dorf Ghuzayl südlich von Mossul eine nicht identifizierte USBV, wobei zwei Mitarbeiter des Stromversorgers verletzt wurden.
Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften:
• Am 8. November 2019 feuerten unbekannte Angreifer vier Raketen auf den Militärstützpunkt Qayyara ab. Die Sicherheitsdienste übten Vergeltung und töteten drei Angreifer.
• Am 24. März 2020 töteten irakische Streitkräfte drei ISIL-Kämpfer mit Sprengstoffgürteln in einem Dorf in der Nähe von Qayyarah.
Luftangriffe:
• Am 20. August 2019 meldete die Medienabteilung der Sicherheitskräfte den Tod von sechs ISIL-Kämpfern in einem Tunnel durch einen Luftangriff der Koalitionsstreitkräfte im Atshana-Gebirge westlich von Mossul.
• Am 4. November 2019 bombardierte die türkische Luftwaffe Khanasur in Sindschar. Zwei YBS-Kämpfer wurden verwundet.
• Am 15. Mai 2020 richtete sich ein Luftangriff der Streitkräfte der Internationalen Koalition gegen den ISIL in einem Wüstengebiet südwestlich von Hatra gegen eine Höhle des ISIL; sieben Kämpfer kamen dabei ums Leben.
• Am 15. Juni 2020 flog die Türkei Luftangriffe auf mehrere Ziele in Irak, auch gegen Stellungen der Jesidischen Widerstandseinheiten (YBS) im Bezirk Sindschar. Nach Angaben von jesidischen Quellen wurden mindestens drei Angehörige der YBS verwundet.
Zahl der zivilen Opfer
Die nachstehende Tabelle gibt Auskunft über mit bewaffneten Konflikten zusammenhängende Vorfälle und zivile Opfer in der Provinz, die von der UNAMI für den Zeitraum 1. Januar 2019 - 31. Juli 2020 erfasst wurden.
Anzahl der sicherheitsrelevanten Störfälle
Im Referenzzeitraum verzeichnete ACLED 92 Kämpfe, 150 Vorfälle von ferngesteuerter Gewalt/Explosionen, 46 Fälle von Gewalt gegen Zivilpersonen, 4 Unruhen; das sind insgesamt 292 sicherheitsrelevante Vorfälle dieser Arten in der Provinz Ninawa, meist im Bezirk Mossul. Ferner wurden für den Referenzzeitraum 21 Demonstrationen in der Provinz Ninawa gemeldet. Die folgende Abbildung gibt Auskunft über die Entwicklung aller Arten sicherheitsrelevanter Vorfälle im Referenzzeitraum.
Abbildung 13: Entwicklung von sicherheitsrelevanten Vorfällen, kodiert als Kämpfe, Explosionen/ferngesteuerte Gewalt und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, Unruhen und Proteste in der Provinz Ninawa, 1. Januar 2019 - 31. Juli 2020, gestützt auf ACLED-Daten1097
Fähigkeit des Staates zur Sicherung von Recht und Ordnung
Weitere Informationen über die Fähigkeit der irakischen Streitkräfte und der der KRG unterstehenden Streitkräfte als Akteure, die Schutz bieten, einschließlich der Fähigkeit, für Recht und Ordnung sorgen, sowie Informationen über die Integrität der Streitkräfte sind dem folgenden Bericht zu entnehmen: EASO-Informationsbericht über das Herkunftsland – Irak: Akteure, die Schutz bieten können (2018).
Den ISF und PMU, die Ninawa kontrollieren, wird vorgeworfen, dass sie ihre Macht missbrauchen, um durch illegale Aktivitäten Einnahmen zu erzielen, was wiederum ihre Kampfkapazitäten schwächt und für Unsicherheit in der örtlichen Gemeinschaft sorgt.
Im September 2019 gab es einen Aufsehen erregenden Fall, in dem Angehörige der 30. PMF-Brigade (Liwa al-Shabak) die Wagenkolonne des stellvertretenden Gouverneurs von Ninawa und eines Parlamentsabgeordneten an einem Kontrollpunkt außerhalb von Mossul anhielten. Vier Leibwächter wurden verletzt und festgenommen. Dies war einer von mehreren Vorfällen in Zusammenhang mit dieser Brigade, der bereits im August 2018 und nochmals im Juli 2019 von den zentralen Behörden befohlen worden war, aus Ninawa abzuziehen. Dieser Schabak-Miliz wurde vorgeworfen, Christen zu vertreiben, Eigentum zu beschlagnahmen, den Zugang zu Hilfsorganisationen zu verweigern und Geld an den von ihr bemannten Kontrollpunkten zu erpressen. Ferner wurde ihren Angehörigen Entführung und Vergewaltigung vorgeworfen. Im Juli 2019 protestierte diese Miliz zwei Tage lang gegen ihren Abzug und blockierte dabei die Straße zwischen Mossul und Erbil. Die 50. Brigade (Kata'ib Babilyun, Babylon-Brigade), eine sich selber als christlich bezeichnende Miliz, wurde wegen ähnlicher Tatenverurteilt. Gegen die Anführer der beiden Milizen wurden von der US-Regierung Sanktionen verhängt.
Nach Angaben des Education for Peace in Iraq Center (EPIC) fand am 6. Februar 2020 eine Demonstration von Dutzenden Einwohnern der Ninawa-Ebene gegen die Präsenz von PMF und ihnen nahestehenden Milizen in Städten der Region statt. Die aus verschiedenen Gemeinschaften (Araber, Kurden