Entscheidungsdatum
13.04.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W177 2180198-1/24E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Benno WAGENEDER, 4910 Ried/Innkreis, Promenade 3, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West, vom 15.11.2017, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.09.2018 und am 24.11.2020, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 03.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der am 04.05.2016 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er aus der Provinz Kabul stamme. In seinem Heimatland wären noch sein Bruder und seine Schwester aufhältig. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei fünf Jahre in Pakistan in die Grundschule gegangen. Er sei Moslem sunnitischer Glaubensrichtung und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er dort Saftverkäufer gewesen sei. Hierzu sei er seitens einer Person aufgefordert worden. Die Polizei habe den BF inhaftiert, weil es sich bei diesen Getränken um Alkohol gehandelt habe. Er habe fliehen müssen, weil er bei der Polizei den Namen des Verantwortlichen genannt habe, für den er die Getränke verkauft hätte. Da dieser davon erfahren habe und er den BF bedroht hätte, habe er die Flucht ergreifen müssen. Darüber hinaus sei die Lage in Afghanistan sehr schlecht. Es herrsche Krieg und es würden Bombenanschläge verübt werden. Bei einem solchen sei sein Vater vor zwei Jahren getötet worden. Im Falle seiner Rückkehr befürchte er die Rache der Person, für die er die Getränke verkauft habe und den Krieg.
3. Ein nach Untersuchung vom 14.07.2016 am 24.07.2016 erstelltes medizinisches Sachverständigengutachten zur Volljährigkeitsbeurteilung ergab, dass das festgestellte Mindestalter mit dem vom BF vorgebrachten Altersangaben nicht vereinbar sei. Das errechnete fiktive Geburtsdatum würde XXXX lauten, wodurch beim BF von einer Volljährigkeit auszugehen sei
4. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 19.10.2016 gab der BF an, dass er gesund sei und sein Geburtsdatum nicht genau wissen würde. Es wurde der Sachverhalt auch dahingehend erörtert, dass Ungarn ein Wiederaufnahmegesuch nach der Dublin-III-VO akzeptiert habe und sich daraus eine Verfahrenszuständigkeit Ungarns ergeben würde. Die Rechtsberatung des BF bestritt dies im Zuge der Einvernahme und in einer Stellungnahme, zumal Ungarn das Recht auf ein faires Verfahren verletzen würde.
5. Mit Bescheid vom 22.12.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz ohne in der Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurück. Für die Überprüfung des Antrags auf internationalen Schutz ist gemäß Artikel 18 (1) (d) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates Ungarn zuständig (Spruchpunkt I.). Demzufolge sei gemäß § 61 Abs. 2 FPG die Abschiebung des BF nach Ungarn zulässig (Spruchpunkt II.). Gegen diesen Bescheid des BFA wurde am 09.01.2017 Beschwerde erhoben.
6. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (nunmehr: BVwG), GZ: XXXX vom XXXX wurde der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG stattgegeben, das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz zugelassen und der bekämpfte Bescheid behoben.
7. Bei der Einvernahme durch das BFA am 31.10.2017 gab der BF an, dass er gesund sei und keine Medikamente benötige. Er habe die Tazkira seines Bruders verwendet, um in den Iran zu gehen, weil er damals noch minderjährig gewesen sei. Zur durgeführten Altersfeststellung vermeinte der BF, dass er noch 17 Jahre alt gewesen sei, als er nach Österreich gekommen sei. Er könne ein Konvolut an Integrationsunterlagen vorlegen.
Er sei afghanischer Staatsbürger, sunnitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Seine Muttersprache sei Dari. Er stamme Provinz Kabul, wo er im Distrikt XXXX aufgewachsen sei. Dort sei er vier Jahre in die Schule gegangen und habe im Alter von zehn Jahren als Straßenverkäufer zu arbeiten begonnen. Diese Tätigkeit habe er bis vor 2,5 Jahren ausgeübt. Er sei auch ein Jahr im Gefängnis gewesen und habe danach nicht mehr gearbeitet, weil er erpresst worden sei. In seinem Heimatdorf würden noch seine Tante, sein Bruder und seine Schwester leben. Mit seinem Bruder habe er zuletzt vor zwei Monaten telefonischen Kontakt gehabt. Er selbst sei ledig uns habe keine Kinder. Afghanistan habe er Ende Dezember 2015 verlassen, rund 40 Tage nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis. Eigene identitätsbezeugende Dokumente könne der BF nicht vorlegen. Der BF habe ansonsten keine Probleme mit den staatlichen Behörden gehabt und sei weder politisch aktiv noch Mitglied einer politischen Partei gewesen. Aufgrund seiner Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit habe er in Afghanistan keine Probleme gehabt.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er Saftverkäufer gewesen sei und eines Tages ein kräftiger Mann gekommen sei. Dieser habe immer drei bis vier Burschen dabeigehabt und gefragt, wie das Geschäft laufen würde. Es seien Kleinkriminelle gewesen, die Waffen unter ihren Sakkos gehabt hätten. Der Mann sagte, dass er ihm neue Säfte und Kunden verkaufen könne. Sie hätten dann Alkohol gebracht, den er in seiner Karre verstaut habe und der Mann habe versprochen, dass er Kunden zu ihm schicken werde. Bei den alkoholischen Getränken habe es sich um selbstgemachte Getränke gehandelt. Nach drei Monaten seien zwei Afghanen und ein Polizist gekommen, die seinen Karren durchsucht hätten. Sie hätten den Alkohol gefunden dem BF Handschellen angelegt und in ein Polizeizentrum nach Kabul gebracht. Er sei dort geschlagen worden und die Polizisten hätten herausfinden wollen, woher der Alkohol stamme. Unter Einräumung der Strafmilderung habe er schließlich den Namen des Verantwortlichen Preis gegeben.
Er sei in einen kleinen, dunklen Raum gesteckt worden und Polizist habe ihm angeboten, dass er freikäme, wenn er Sex mit ihm habe. Er habe geschrien, weil er vergewaltigt werden hätte sollen. Daraufhin sei ein anderer Polizist gekommen und habe den BF niedergeschlagen. Im Laufe des Verfahren habe es drei Gerichtsverhandlungen gegeben. In der dritten Instanz sei der BF zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 20.000 Afghani verurteilt worden. Nach einem Jahr Gefängnis sei der BF wieder freigekommen.
Sein Bruder habe gemeint, er solle in einem anderem Gebiet Kabuls Säfte verkaufen, weil dies am vorherigen Standort zu gefährlich gewesen wäre. Jedoch sei er am ersten Tag von den Verantwortlichen, die ihm damals Alkohol zum Verkauf gegeben hätten, gefunden worden. Er sei mit dem Messer angegriffen worden, jedoch sei die Polizei rechtzeitig eingeschritten und habe ihn und seinen Karren sicher nach Hause bringen können. Danach habe sein Bruder vermeint, dass es für den BF zu gefährlich sei und ihm einen gefälschten Pass besorgt, dass der BF in Iran ausreisen habe können. Sein Leben sei deswegen in Gefahr, weil die mächtigen Leute, die ihn verfolgen würden, die Polizei bestechen und ihn finden würden. Auch in einem anderen Landesteil hätten diese mächtigen Leute den BF gefunden, weil diese die Mafia wären. Sie seien einflussreich und als Bande respektiert worden. Egal, wie man sie bezeichne, die Polizei sei vor ihnen strammgestanden. Der BF räumte ein, dass er keine wichtige Person gewesen sei. Jedoch würden diese Bande, die eine Untergruppe der XXXX sei, sein Gesicht kennen. Daher sei er bekannt und würde in ganz Afghanistan gefunden werden. Er wisse nicht, ob noch jemand anderer von dieser Gruppe bedroht werde. Er selbst habe den Alkohol verkauft, weil er von diesen Personen unter Druck gesetzt worden sei.
Er habe weder in Österreich noch im Rest Europas Verwandte. Er habe hier viel Kontakt mit Menschen und arbeite gerne auf freiwilliger Basis. Er sei hier weder mit dem Gesetz in Konflikt geraten noch sei mit den Gerichten in Berührung gekommen. In Ungarn sei er nicht gut behandelt worden. Alle die mit ihm unterwegs gewesen wären, hätten gesagt, dass Österreich ein gutes Land sei. Hier möchte er Sprachprüfung auf dem Niveau A2 ablegen und eine Lehre als Tischler beginnen.
Dem BF wurden danach die aktuellen Länderfeststellungen zu Afghanistan ausgehändigt und ihm zur Abgabe einer Stellungnahme eine Frist von einer Woche eingeräumt.
8. Mit Bescheid vom 15.11.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab (Spruchpunkt II.). Weiters wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde gegen ihm gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgehalten, dass der BF in seiner Fluchtgeschichte zeitliche Widersprüche sowie widersprüchlich Angaben an sich enthalten habe. So wären die Angaben zum Verkauf der alkoholischen Getränke und des Abholens der Tazkria nicht plausibel gewesen. Ebenso waren die Angaben zum Machteinfluss der Verfolger widersprüchlich, sodass das Vorbringen in seiner Gesamtheit nicht nachvollziehbar habe geschildert werden können.
Aufgrund dessen, dass es sich bei der Herkunftsprovinz Kabul um eine auf dem Luftweg problemlos erreichbare Provinz handeln würde, die als hinreichend sicher eingestuft werde, sei es dem BF zumutbar, sich in dieser Gegend Afghanistans wieder anzusiedeln. Ebenfalls würden dort noch die Familienangehörigen des BF unbehelligt leben. Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Betreffend die Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.
9. Mit Verfahrensanordnung vom 15.11.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 15.11.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
10. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 15.12.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass dem BF keine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorgehalten werden könne, zumal es in Afghanistan unüblich sei, dass man selbst wichtige Daten, wie etwa den Geburtstag oder den Hochzeitstag, genau bezeichnen zu können. Die belangte Behörde habe ihrerseits die Ermittlungspflicht verletzt, indem sie keinerlei Recherchen über die vom BF namentlich genannte Gruppierung und dem namentlich genannten Verfolger angestellt habe. Der BF habe auch detaillierte Angaben getätigt, weshalb er in Afghanistan glaubhaft einer privaten Verfolgung, gegen die ihm kein ausreichender staatlicher Schutz seitens der afghanischen Behörde gewährt werden könne, ausgesetzt sei. Weiters stünde dem BF diesbezüglich auch keine innerstaatliche Schutzalternative offen. Ebenso habe es die belangte Behörde nicht überprüft, ob dem BF eine asylrechtliche Gefährdung aufgrund des Risikoprofils als verwestlichter Rückkehrer drohen würde.
Angesichts der in Afghanistan vorherrschenden Sicherheitslage, auch der in der Heimatprovinz Kabul, hätte die belangte Behörde dem BF zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen.
Der Ausspruch einer Rückkehrentscheidung sei seitens der belangten Behörde ebenfalls unverhältnismäßig gewesen. Des Weiteren wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
11. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 15.12.2017 vom BFA vorgelegt. In dieser führte die belangte Behörde aus, dass sie an der Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichte.
12. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 14.09.2018, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ebenso wie seine bevollmächtige Vertretung und ein Sachverständiger persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, mit Schreiben vom 13.03.2018 entschuldigt, auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Der gegenständliche Verfahrensakt würde nach umfangreicher Belehrung des BF zum Inhalt der Verhandlung erklärt. Der BF gab außerdem an, gesund zu sein und keine Einwände gegen den Dolmetscher zu haben. Er legte ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vor.
Zu seinen persönlichen Umständen befragt, führte der BF aus, dass ihn das Gutachten zur Altersfeststellung älter gemacht habe, als er tatsächlich sei. Er könne jedoch keine identitätsbezeugenden Dokumente vorlegen. Er habe sich in Österreich mit der Tazkira seines Bruders ausgewiesen, weil er diese für seine Ausreise aus Afghanistan benötigt hätte und man ihm gesagt habe, dass eine solche nützlich wäre. In Ungarn habe er ebenfalls den Namen seines Bruders angegeben. Dies habe er getan, weil er dort nicht habe bleiben wollen.
Er sei tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit und ein schiitischer (sic!) Moslem. Er sei ledig und habe keine Kinder. Er habe vier Jahre die Schule besucht im Alter von zehn Jahre zu arbeiten begonnen. Der BF und sein Bruder hätten einen Obstwagen gehabt, mit dem sie sowohl Obst als auch Obstsaft verkauft hätten. Afghanistan habe er am 05.01.2016 verlassen. Sein Bruder und seine Schwester würden sich noch in Afghanistan aufhalten und bei einer Tante in einem Dorf eines Distrikts der Provinz Kabul leben. Mit seinen Verwandten sei er regelmäßig in Kontakt. Er selbst habe sich noch nie in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif aufgehalten. In Österreich habe er keine Verwandten. Er lerne hier Deutsch und führe gemeinnützige Tätigkeiten durch.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er zusammen mit seinem Bruder auf einem Wagen Obst und Getränke verkauft hätte. Ein Stammkunde sei der Verfolger des BF geworden. Dieser sei immer in unterschiedlichen Auto unterwegs gewesen und habe ihn eines Tages angesprochen, dass er irgendwelche Energy-Drinks zur Weitergabe an ihn haben würde. Er müsse die Getränke nicht verkaufen, sondern nur als Vergabestelle für Kunden, die der Verfolger zu ihm schicken würde, fungieren. Das Geld habe der Verfolger kassiert, weil es um viel Geld gegangen sei. Dies sei drei Monate lang so gelaufen, ehe die Kriminalpolizei vorbeigekommen sei, nachdem sich sein Verfolger mit einem Kunden gestritten hätte. Die Polizei habe den BF geohrfeigt und mit Alkohol gefüllte Flaschen sichergestellt. Der BF sei von der Polizei nach Kabul Stadt gebracht worden, wo er geschlagen worden sei. Er habe dennoch den Namen des Verfolgers preisgegeben und sei zwei bis drei Tage in einem kleinen Zimmer eingesperrt gewesen. Ein Polizist habe ihn währenddessen gestreichelt. Der BF habe vermutet, dass dieser mit ihm schlafen oder ihn vergewaltigen wolle. Er habe geschrien und der Vorgesetzte sei gekommen. Dieser habe den BF nach Schilderung des Vorfalls geschlagen, weil er vermeinte, dass seine Leute so etwas nicht machen würden. Dieser Vorfall sei aber nicht fluchtauslösend gewesen, sondern die Angst vor seinem Verfolger und dessen Gefolgsleuten. Vor diesen Leuten habe der BF mehr Angst als vor diesen Polizisten. Mit der Polizei habe er weder damals noch jetzt Probleme gehabt. Daraufhin vermeinte die Rechtsvertretung des BF, dass dies einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung darstelle, woraufhin die Verhandlung abgebrochen wurde und die zuständige Richterin erklärte, eine Unzuständigkeitseinrede einzubringen. Die Unzuständigkeitsanzeige gemäß § 20 AsylG wurde seitens der zuständigen Richtern noch im Laufe desselben Tages an den Vorsteher der Geschäftsstelle des Bundesverwaltungsgerichts gestellt, der in weiter Folge die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W199 neu zuwies.
13. Mit Schreiben vom 19.11.2019 erging eine Bevollmächtigungsanzeige, dass der BF in gegenständlicher Rechtsache nun RA Dr. Benno WAGENENDER beauftragt habe, diesen rechtsfreundlich zu vertreten.
14. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 17.07.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache vom bisher zuständigen Gerichtsabteilung W199 abgenommen und der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.
15. Mit Bescheid des AMS vom 21.07.2020 wurde dem BF Beschäftigungsbewilligung als Saisonarbeitskraft für die berufliche Tätigkeit als Abwäscher für die Zeit von 01.08.2020 bis 29.09.2020 erteilt. Diese Beschäftigungsbewilligung wurde mit Bescheid des AMS vom 30.09.2020 für den Zeitraum vom 01.10.2020 bis zum 31.10.2020 erneut erteilt.
16. Am 28.08.2020 erging wegen Übertretung des Ausländerbeschäftigungsgesetzes ein Strafantrag gegen den Arbeitgeber des BF, zumal dieser den BF schon in der Zeit von 14.07.2020 bis 31.07.2020 beschäftigt hat.
17. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 24.11.2020, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ebenso wie seine bevollmächtige Vertretung persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, mit Schreiben vom 18.11.2020 entschuldigt, auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Nachdem die Parteien auf das Verlesen der Aktenteile verzichteten, erklärte der erkennende Richter diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift. Danach erfolgte die vorläufige Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19.
Der BF gab an, dass er nicht aus der Stadt Kabul stamme, sondern er immer vom Stadtrand etwa 50 Minuten lang ins Zentrum gefahren sei, um dort seine Waren zu verkaufen. In Afghanistan habe er nur einen Bruder und eine Schwester. Er könne sich an alle Angaben des Verfahrens erinnern und bestätigte deren Wahrheit. Diesbezüglich habe er weder etwas zu ergänzen noch zu korrigieren. Er habe vor sechs Monaten mit seinem Bruder telefoniert und dabei habe ihm dieser gesagt, dass unbekannte Leute nach dem BF gefragt hätten. Sein Bruder, der zuletzt Taxifahrer gewesen sei, lebe nach wie vor im Distrikt XXXX , der sich bei Kabul befinden würde.
Nach Erörterung der Situation im Falle einer Rückkehr des BF, insbesondere die Möglichkeit einer Ansiedlung in Herat oder Mazar-e Sharif, stellte dessen Vertretung in Aussicht, dass sie eine ergänzende schriftliche Stellungnahme zur heutigen Verhandlung einbringen werde. Zum Themenkreis der außergewöhnlichen Integration legte der BF ein Konvolut an Unterlagen vor.
Danach folgte der Schluss der mündlichen Verhandlung. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.
18. Mit Schreiben vom 21.12.2020 verwies die rechtsfreundliche Vertretung auf die Aktualisierung der Länderberichte zu Afghanistan vom 16.12.2020, die beinhalte, dass sich durch die COVID-19-Krise die Situation am Arbeitsmarkt im Segment der Tagelöhner drastisch verschlechtert habe. Dies würde auch den BF treffen, für den sich die Umstände für die Suche einer Arbeit im Falle seiner Rückkehr weiter verschlechtern würden.
19. Der BF legte im Laufe des Verfahrens folgende Dokumente vor:
? Zahlreiche Referenz- und Empfehlungsschreiben
? Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen (Niveau A1 und A2)
? Zahlreiche Bestätigungen für die Durchführung gemeinnütziger Tätigkeiten
? Teilnahmebestätigung an zahlreichen Workshops
? Prüfungsergebnis und Prüfungszeugnis ÖIF Deutsch A1
? Teilnahmebestätigung an einem ÖIF Werte- und Orientierungskurs
? Bescheinigung „Erste-Hilfe-Grundkurs“
? AMS-Bescheide über Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung als Saisonarbeitskraft
? Dienstzeugnis und Lohnabrechnungen über die saisonale Beschäftigung als Hausmeister und Abwäscher
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1.1. Zum sozialen Hintergrund des BF:
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist gesund.
Der BF wurde nach seinen Angaben im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Kabul geboren, wo er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan lebte. In seinem Heimatland hat der BF insgesamt vier Jahre die Schule besucht. Er hat in Kabul Berufserfahrung als Verkäufer von Obst und Getränken gesammelt. In seinem Heimatland leben noch seine Mutter und seine Geschwister (ein Bruder und eine Schwester). Zu seinen Angehörigen besteht regelmäßiger Kontakt. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.
Der BF ist in Österreich bislang strafrechtlich unbescholten. Der BF hatte in seinem Herkunftsstaat keine Probleme mit Behörden und war politisch nicht aktiv.
Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan über den Iran und die Türkei in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist. Er wurde in Ungarn erkennungsdienstlich behandelt. Am 03.05.2016 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF stellte am 03.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, weil er dort Saftverkäufer gewesen sei. Hierzu sei er seitens einer Person aufgefordert worden. Die Polizei habe den BF inhaftiert, weil es sich bei diesen Getränken um Alkohol gehandelt habe. Er habe fliehen müssen, weil er bei der Polizei den Namen des Verantwortlichen genannt habe, für den er die Getränke verkauft hätte. Da dieser davon erfahren habe und er den BF bedroht hätte, habe er die Flucht ergreifen müssen. Darüber hinaus sei die Lage in Afghanistan sehr schlecht. Es herrsche Krieg und es würden Bombenanschläge verübt werden. Bei einem solchen sei sein Vater vor zwei Jahren getötet worden. Im Falle seiner Rückkehr befürchte er die Rache der Person, für die er die Getränke verkauft habe und den Krieg.
Es wird festgestellt, dass der BF nicht einer seitens einer Privatperson bzw. einer dahinterstehenden Gruppierung bedroht bzw. gesucht wird.
Der BF wurde weder von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung noch von sonstigen Privatpersonen entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht. Der BF wurde seitens der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen, die ihn suchen würden.
Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch andere Personen.
Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Tadschiken konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.
Dem BF ist eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Kabul, die nicht zu den volatilen Provinzen Afghanistans zählt, aufgrund seiner persönlichen Umstände möglich und zumutbar.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch noch – neben einer Rückkehr nach Kabul – die Ansiedlung in einer der größeren Städten Afghanistans zumutbar. Auch bei einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.
Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen, konnten nicht festgestellt werden. Der BF ist gesund und leidet an keinen Krankheiten. Es bestehen keine Zweifel an der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des BF.
Die Angehörigen des BF leben derzeit in Kabul. Die Verwandten des BF können ihn daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan unterstützen.
Für den Fall, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keine Unterstützung von seiner Familienangehörigen, mit der er in regelmäßigem Kontakt steht, erhalten würde, hat der BF jedenfalls die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der BF wurde in der Beschwerdeverhandlung über die Rückkehrunterstützungen und Reintegrationsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt.
Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut, weil er in seinem Heimatland in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen ist und er dort auch vier Jahre die Schule sowie jahrelang Arbeitserfahrung als Verkäufer gesammelt hat.
1.4. Zum Leben in Österreich:
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 03.05.2016 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 03.05.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale zur einer Abhängigkeit zu anderen im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Personen.
Der BF pflegte in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Afghanen. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften, ist der BF auch kein Mitglied von Vereinen.
Der BF besuchte zahlreiche Deutschkurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen und Zertifikate bestätigen. Er ist daher in der Lage, auf elementarer Ebene in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren.
Der BF lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig, wobei nicht verkannt wird, dass der BF im Sommer 2020 aufgrund einer saisonalen Arbeitsbewilligung in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden ist. Er verfügt aber ansonsten über keine schriftliche Einstellungszusage und ist zumeist ausschließlich freiwillig gemeinnützig tätig gewesen. Eine wirtschaftliche Integration ist dem BF allerdings nicht gelungen.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.5.1. Politische Lage
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 (in der aktuellen Fassung vom 21.07.2020, bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):
Länderspezifische Anmerkungen
COVID-19:
Stand 21.7.2020
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan
Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020)
.
Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).
Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe
Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).
Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).
Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).
Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).
Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).
Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).
Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans
Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).
In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).
In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).
In der Provinz Daikundi gibt es ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Es gibt jedoch keine Auswertungsmöglichkeiten für COVID-19-Tests – es werden Proben entnommen und zur Laboruntersuchung nach Kabul gebracht. Es dauert Tage, bis ihre Ergebnisse von Kabul nach Daikundi gebracht werden. Es gibt Berichte, dass 90 Prozent der Menschen in Daikundi unter der Armutsgrenze leben und dass etwa 60 Prozent der Menschen in der Provinz stark von Ernährungsunsicherheit betroffen sind (RA KBL 16.7.2020).
In der Provinz Samangan gibt es ebenso ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Wie auch in der Provinz Daikundi müssen Proben nach Kabul zur Testung geschickt werden. Eine unzureichende Wasserversorgung ist eine der größten Herausforderungen für die Bevölkerung. Nur 20 Prozent der Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser (RA KBL 16.7.2020).
Wirtschaftliche Lage in Afghanistan
Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).
Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).
Einreise und Bewegungsfreiheit
Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).
Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).
Stand 29.6.2020
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).
In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).
Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung
Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan
Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).
Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran
Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).
Stand: 18.5.2020
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an CO-VID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).
Taliban und COVID-19
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).
Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten
IOM