TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/13 L503 2161304-1

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Veröffentlicht am 13.04.2021
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Entscheidungsdatum

13.04.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9

Spruch


L503 2161304-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.05.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 10.03.2021, zu Recht erkannt:

A.) Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs 1 AsylG, § 8 Abs 1 AsylG, § 57 AsylG, § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs 2 Z 2, § 52 Abs 9 FPG iVm § 46 FPG als unbegründet abgewiesen.

B.) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden kurz: „BF“), ein irakischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 28.9.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Zu seinen Fluchtgründen gab der BF in seiner Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 8.10.2015 an, dass er eine Beziehung mit einer Frau geführt habe. Die Familie der Frau sei aber gegen ihre Verbindung gewesen. Sie hätten schon seit Jahren heiraten wollen, aber die Familie habe dies verhindert. Kurz vor seiner Ausreise habe sie der Bruder der Frau belauscht und folglich alle ihre Mitteilungen und Nachrichten gelesen. Aus diesem Grunde habe der Bruder der Frau den BF zu einem Gespräch geholt, bei dem der Bruder dem BF gedroht habe, dass er ihn wegen der Verbindung umbringen werde und der BF sich von ihr fernhalten solle. Einige Tage nach diesem Gespräch sei der Bruder mit einem Freund zum BF gekommen. Beide seien Mitglieder der Miliz und deshalb auch bewaffnet gewesen. Abermals hätten sie den BF mit Waffen bedroht. Sie hätten zum ihm gesagt, dass er einen Tag hätte, das Land zu verlassen oder sie würden ihn töten. Aus diesem Grunde habe er sich entschlossen, das Land zu verlassen. Im Falle einer Rückkehr in seine Heimat fürchte der BF, dass ihn der Bruder und auch dessen Freund und die Miliz wegen der Verbindung zu seiner Freundin töten werde.

2. Am 5.4.2017 wurde der BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden kurz: „BFA“) niederschriftlich einvernommen. Zu seinem Gesundheitszustand befragt gab der BF an, dass es ihm gut gehe; er nehme Medikamente für Darmbeschwerden und gehe deswegen regelmäßig zur Kontrolle, er sei aber nicht in ärztlicher Behandlung. Zu seiner Person und zu seinem bisherigen Leben im Irak gab der BF an, dass er sunnitischer Araber sei und in Bagdad, im Bezirk XXXX , gelebt habe. Er sei ledig und habe keine Kinder. Im Irak würden sich nach wie vor diverse Brüder und eine Schwester aufhalten; seine Eltern seien bereits verstorben. Der BF habe im Irak die Schule abgeschlossen und danach Geschichte studiert und einen Abschluss erlangt. Zuletzt habe er im Bereich Alarmanlagen gearbeitet.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF zusammengefasst an, dass seine Probleme bereits 2013 angefangen hätten. Damals habe sein Neffe als Angestellter an einer Universität gearbeitet. Der BF habe eine seiner Kolleginnen kennengerlernt und hätten sie dann eine Beziehung geführt; die Frau habe XXXX geheißen. Schlussendlich habe sich der BF entschlossen, sie zu heiraten und Ende 2013 um ihre Hand angehalten, aber ihre Familie habe den Heiratsantrag abgelehnt. Speziell seit 2003 würden die alten Regeln und Traditionen der verschiedenen Clans und Stämme gelten und habe der BF sein grundlegendes Recht, den Menschen, den er liebe, zu heiraten, im Irak nicht ausüben können. Er habe ca. sechs bis sieben Monate gewartet, bevor er erneut um ihre Hand angehalten habe. Beim zweiten Mal sei die Absage vor allem von XXXX Bruder ziemlich aggressiv gewesen und führe der BF diesen aggressiven Ton auf den Umstand zurück, dass dieser Bruder eine führende Figur in einer Miliz gewesen sei; er habe zur Miliz Asa’ib Ahl al-Haqq gehört. Der BF habe ein drittes Mal bei der Familie vorgesprochen; bei diesem dritten Mal sei die Ablehnung ganz eindeutig negativ und aggressiv gewesen. Der Bruder der Frau habe Verdacht geschöpft, dass der BF und die Frau die ganze Zeit über in Kontakt gewesen seien. Am 19.8.2015 sei der BF im Büro gewesen und habe seine Freundin am Telefon angerufen. Sie hätten gesprochen, als plötzlich zwei Männer ins Büro gestürmt seien, einer davon sei ihr Bruder gewesen. Beide Männer seien bewaffnet gewesen und hätten auf den BF eingeschlagen und ihn beschimpft. Der Bruder habe ihn immer wieder gefragt, was zwischen ihm und XXXX , der Frau, laufe. Als der Bruder gegangen sei, habe er dem BF gesagt, er werde herausfinden, was zwischen ihnen laufe und falls zwischen ihnen etwas laufe, dann werde er den BF umbringen. Der BF sei nach Hause und anschließend zu seinem Freund XXXX gegangen, der Bruder des BF sei zu den älteren Männern in ihrem Clan gegangen, um sich Rat zu holen. Als der BF bei XXXX gewesen sei, habe er einen Anruf der Nachbarin und Freundin von XXXX erhalten. Diese habe ihm gesagt, dass jetzt alle über die Beziehung Bescheid wüssten und dass der Bruder XXXX zusammengeschlagen und ihr Handy durchgesehen und ihre Anrufe und Nachrichten gelesen habe. Die Schwägerin des BF habe beim Bruder des BF angerufen und ihm erzählt, dass der Bruder von XXXX mit anderen bewaffneten Männern zum Haus gekommen sei und sie auf das Haus geschossen und vor der Tür geschimpft hätten; es sei zu einem Aufstand in der Nachbarschaft gekommen. Er habe ständig nach dem BF gerufen und gefordert, herauszukommen und gesagt, er werde ihn finden, egal wo er sich verstecke. Die Polizei sei erst gekommen, als der Bruder und seine Truppe abgezogen gewesen seien. Der Bruder des BF habe am nächsten Tag eine Anzeige erstattet; von der Polizei sei keine Rückmeldung gekommen. Am 25.8.2015 sei der BF dann aus dem Irak ausgereist.

Der BF legte im Verfahren vor dem BFA diverse irakische Dokumente (Staatsbürgerschaftsnachweis, Personalausweis, Reisepass in Kopie, Führerschein, Zulassungsschein, Arbeitszeugnis, Gewerkschaftsmitgliedskarte, Identitätsbestätigung in Kopie, Dokumente betreffend den Tod eines Bruders, Meldezettel und Lebensmittelausweis der Schwester), eine Kursbesuchsbestätigung von Human Relief vom 30.3.2017 über den Besuch eines Deutschkurses (Alphabetisierung), Anmelde- und Kursbesuchsbestätigungen der VHS XXXX über einen Kurs Deutsch A1 sowie mehrere ärztliche Befunde vor.

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 24.5.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der BF bezüglich seiner Fluchtgründe in unglaubwürdiger Weise behauptet habe, dass er sich in eine Frau verliebt habe und die Familie der Frau gegen die Beziehung gewesen sei, er deshalb bedroht worden sei und den Irak verlassen habe. Das Vorbringen des BF, dass die Familie der Frau erst nach dem dritten Heiratsantrag Verdacht geschöpft habe, dass der BF Kontakt zu dieser Frau habe, sei unplausibel, dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass der BF bereits seit 2013 Kontakt mit dieser Frau gehabt haben will. Zudem habe der BF etwa eingangs angegeben, dass seine Schwester ledig und kinderlos sei, in weiterer Folge jedoch vorgebracht, dass sein Neffe – der Sohn seiner Schwester – an der besagten Universität gearbeitet habe, an der der BF die Frau kennengelernt haben will. Erst auf Vorhalt des Widerspruchs habe der BF plötzlich angemerkt, dass er doch noch eine Schwester habe, die bereits verstorben sei, was jedoch nicht glaubwürdig sei, da der BF eingangs explizit auch nach verstorebenen Geschwistern gefragt worden sei. Es habe somit nicht festgestellt werden können, dass der BF einer konkreten persönlichen asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung im Irak ausgesetzt gewesen sei bzw. eine solche zukünftig zu befürchten hätte. Der BF habe keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Er sei im Zuge seiner Einvernahme nicht in der Lage gewesen, ein fundiertes und konkretes Vorbringen darzulegen. Der BF könnte in den Irak, insbesondere in die Stadt Bagdad, zurückkehren. Der BF verfüge nicht über ein Familienleben in Österreich und habe auch keine nennenswerten Bindungen in Österreich.

4. Mit Schriftsatz vom 8.6.2017 erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des Bescheides des BFA vom 24.5.2017. In seiner Beschwerde brachte der BF nach Darstellung des bisherigen Fluchtvorbringens zusammengefasst vor, dass ihm Verfolgung von der Familie der Frau, die er heiraten habe wollen, insbesondere vom Bruder dieser Frau, aber auch von staatlicher Seite (wegen des Führens einer außerehelichen Beziehung), drohe. Der Bruder der Frau sei führendes Mitglied der Miliz Asa´ib Ahl al-Haqq, wobei nähere Ausführungen zu dieser Miliz getätigt wurden. Der BF habe seine Ausführungen in nachvollziehbarer, detaillierter, hinreichend bestimmter und mit den landeskundlichen Erkenntnissen übereinstimmender Weise geschildert. Der gegenständliche textbausteinartige Bescheid der Behörde gehe an den individuellen Ausführungen des BF vorbei und habe es die Behörde unterlassen, den BF ausführlich zu seinen Fluchtgründen zu befragen und den maßgeblichen Sachverhalt amtswegig zu erforschen. Auf – im Schriftsatz wiedergegebene – Länderberichte wurde hingewiesen.

5. Am 13.6.2017 wurde der Akt dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

6. Mit Schreiben vom 5.3.2021 wurde dem Bundesverwaltungsgericht die Bevollmächtigung der im Spruch angeführten Rechtsberatungsorganisation bekanntgegeben.

7. Am 10.3.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des BF im Beisein des BF und dessen Rechtsvertreter eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Ein Behördenvertreter ist zur Verhandlung nicht erschienen.

Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA für den Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020), der Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 sowie der Bericht von IOM Iraq, COVID-19 Response Overview #7, 7 – 28 December 2020, wurden vom erkennenden Gericht in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingebracht. Der Rechtsvertreter des BF nahm diese Berichte zur Kenntnis.

Der BF legte in der mündlichen Verhandlung (soweit im Verfahren nicht bereits vorgelegt) ein ärztliches Attest vom 4.3.2021, eine Teilnahmebestätigung des ÖIF über einen Werte- und Orientierungskurs vom 13.4.2016, ein Zertifikat vom 13.6.2019 über den Besuch eines Kurses „Deutsch A1“, mehrere Kursbesuchsbestätigungen betreffend einen Deutschkurs, ein Zeugnis des ÖIF zur Integrationsprüfung A1 vom 19.6.2019 („bestanden“), ein Prüfungsergebnis einer ÖSD Integrationsprüfung A2 vom 2.12.2019 („nicht bestanden“), Terminkarten des ÖIF, diverse Teilnahmebestätigungen von Interface Wien über Veranstaltungen zu verschiedenen Themen, eine Teilnahmebestätigung über einen StartWien-Charta Workshop, einen Sozialbericht des Samariterbundes vom 25.2.2021 sowie einen Arbeitsvorvertrag vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF werden folgende Feststellungen getroffen:

Der BF trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am dort angeführten Datum geboren. Seine Identität steht fest. Der BF ist Staatsangehöriger des Irak und der Volksgruppe der Araber zugehörig. Er bekennt sich zum sunnitischen Islam. Die Muttersprache des BF ist Arabisch.

Der BF wurde in Bagdad geboren und lebte dort bis zur Ausreise im Bezirk XXXX . Er besuchte in Bagdad 12 Jahre lang die Schule und studierte im Anschluss daran 5 Jahre lang Geschichte und schloss dieses Studium ab. Ab 1994 arbeitete der BF als Angestellter im Bereich Überwachungskameras und Alarmanlagentechnik; von 1998 bis zu seiner Ausreise war der BF in diesem Bereich auf selbständiger Basis erwerbstätig; er führte ein eigenes Geschäft.

Der BF lebte bis kurz vor seiner Ausreise aus dem Irak mit seinem Bruder XXXX und seiner Schwester im gemeinsamen Haushalt.

Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Aktuell leben in Bagdad drei Brüder und eine Schwester des BF. Seine Eltern, zwei weitere Brüder und eine weitere Schwester sind bereits verstorben.

Der BF reiste am 25.8.2015 legal mit dem Flugzeug über den Flughafen Bagdad aus dem Irak in die Türkei aus, von wo aus er illegal bis nach Österreich gelangte.

Keine Feststellungen können dahingehend getroffen werden, wie häufig der BF aktuell telefonisch in Kontakt mit seinen Geschwistern steht. Nicht festgestellt werden kann jedoch, dass der Kontakt mit seinen Geschwistern – wie in der Beschwerdeverhandlung behauptet – aktuell gänzlich abgerissen wäre.

1.2. Zu den Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen des BF werden folgende Feststellungen getroffen:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Irak einer unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder dies im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hätte.

Der BF hat insbesondere keine asylrelevante Verfolgung aufgrund einer behaupteten, außerehelichen Beziehung zu einer Frau zu befürchten.

Die Gefahr einer im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung des BF aufgrund seines sunnitischen Glaubensbekenntnisses kann nicht festgestellt werden.

Es kann auch keine sonstige Gefahr einer Verfolgung des BF im Falle seiner Rückkehr in den Irak festgestellt werden.

1.3. Zur Lage des BF im Fall einer Rückkehr:

Es kann unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden, dass eine Abschiebung des BF in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK bedeuten oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit mit sich bringen würde.

Es kann insbesondere nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall seiner Rückkehr in den Irak in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden. Der BF ist eigenen Angaben zufolge voll arbeitsfähig. Es spricht nichts dagegen, dass der BF durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Irak wieder für seinen Lebensunterhalt sorgen könnte. Darüber hinaus verfügt der BF im Irak über mehrere Geschwister, wobei nicht festgestellt werden kann, dass der Kontakt des BF mit seinen Geschwistern – wie in der Beschwerdeverhandlung behauptet – aktuell gänzlich abgerissen wäre.

Der BF hat gesundheitliche Beschwerden wie Gastritis, Schlafstörungen, Bluthochdruck, Nackenbeschwerden und Rückenschmerzen. Dessen ungeachtet kann in der Rückverbringung des BF in den Irak keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erblickt werden.

1.4. Zum Privat- und Familienleben des BF in Österreich:

Der BF reiste im September 2015 illegal und schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein und hält sich somit seit ca. fünf Jahren und sieben Monaten in Österreich auf.

Der BF hat keine Familienangehörigen oder Verwandten in Österreich. Er lebt nicht in einer Lebensgemeinschaft oder mit einer ihm sonst nahestehenden Person zusammen. Der BF verfügt in Österreich über soziale Anknüpfungspunkte; tiefergehende freundschaftliche Kontakte oder Beziehungen zu in Österreich lebenden Personen können aber nicht festgestellt werden.

Die Deutschkenntnisse des BF sind äußerst schwach ausgeprägt. Er hat zwar die Deutschprüfung auf Niveau A1 (konkret: die Integrationsprüfung A1 - Sprachkompetenz / Werte- und Orientierungswissen) am 19.6.2019 abgelegt; jene auf Niveau A2 hat der BF am 18.11.2019 wegen fehlender Sprachkenntnisse nicht bestanden. Eine probeweise Konversation mit dem BF in der Beschwerdeverhandlung ohne Beiziehung des anwesenden Dolmetschers war nicht möglich.

Der BF bestreitet seinen Lebensunterhalt aus Leistungen der Grundversorgung. Er führt gemeinnützige Reinigungstätigkeiten in der Unterkunft für Asylwerber durch. Der BF verfügt über einen „Arbeitsvorvertrag“ vom 25.2.2021 (Beschäftigung als Verkäufer in einem Supermarkt in Wien).

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Zur Lage im Irak wird auf das vom Bundesverwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung vom 10.3.2021 in das Verfahren eingebrachte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020), den Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 und den Bericht von IOM Iraq, COVID-19 Response Overview #7, 7 – 28 December 2020 verwiesen, in denen eine Vielzahl von Berichten diverser allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt werden. Insoweit die Berichtslage konkret im gegenständlichen Verfahren relevant ist, wird darauf unten im Rahmen der Beweiswürdigung betreffend die Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen des BF näher eingegangen. Der BF erstattete keine Stellungnahme zu den in das Verfahren eingebrachten Länderberichten und erhob keine konkreten Einwendungen gegen deren Richtigkeit und Vollständigkeit.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person des BF:

Die zur Identität des BF getroffenen Feststellungen beruhen einerseits auf seinen eigenen Angaben im Verfahren und andererseits auf den im Verfahren vorgelegten irakischen Urkunden (darunter sein irakischer Reisepass in Kopie). Die Identität des BF konnte somit festgestellt werden.

Die Angaben des BF zu seiner Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und seinem religiösen Bekenntnis waren nicht zweifelhaft und konnten der Entscheidung des erkennenden Gerichtes zugrunde gelegt werden.

Die getroffenen Feststellungen zum bisherigen Leben des BF im Irak und zu seinen Familienangehörigen im Herkunftsstaat beruhen auf seinen – grundsätzlich glaubhaften – Angaben vor der belangten Behörde und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Auch an den Angaben des BF zu seiner Ausbildung und seinem beruflichen Werdegang im Irak war nicht zu zweifeln.

Ebenso beruhen die Feststellungen zur legalen Ausreise des BF aus dem Irak per Flugzeug am 25.8.2015 in die Türkei sowie zur späteren illegalen Einreise in Österreich auf seinen eigenen Angaben.

Hinsichtlich des Umstands, dass nicht festgestellt werden kann, dass der Kontakt des BF mit seinen Geschwistern – wie in der Beschwerdeverhandlung behauptet – aktuell gänzlich abgerissen wäre, ist – aufgrund des näheren Zusammenhangs mit den vom BF vorgebrachten Fluchtgründen – auf die diesbezüglichen beweiswürdigenden Ausführungen sogleich im Anschluss zu verweisen.

2.2. Zu den Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen des BF sowie allfälligen sonstigen Bedrohungen:

2.2.1. Zur behaupteten Verfolgung aufgrund einer vorgebrachten außerehelichen Beziehung zu einer Frau:

2.2.1.1. Der BF brachte als Fluchtgrund zusammengefasst vor, er habe bereits seit 2013 eine Beziehung mit einer Frau namens XXXX geführt. Er habe sich entschlossen, sie zu heiraten und Ende 2013 um ihre Hand angehalten, aber ihre Familie habe den Heiratsantrag abgelehnt. Er habe ca. sechs bis sieben Monate gewartet, bevor er erneut um ihre Hand angehalten habe. Beim zweiten Mal sei die Absage vor allem von ihrem Bruder ziemlich aggressiv gewesen und führe der BF diesen aggressiven Ton auf den Umstand zurück, dass dieser Bruder eine führende Figur in einer Miliz gewesen sei. Der BF habe schließlich ein drittes Mal bei der Familie vorgesprochen; bei diesem dritten Mal sei die Ablehnung ganz eindeutig negativ und aggressiv gewesen. Der Bruder der Frau habe Verdacht geschöpft, dass der BF und die Frau die ganze Zeit über in Kontakt gewesen seien. Am 19.8.2015 sei der BF in seinem Büro gewesen und habe seine Freundin am Telefon angerufen. Sie hätten gesprochen, als plötzlich zwei Männer ins Büro gestürmt seien, einer davon sei ihr Bruder gewesen. Beide Männer seien bewaffnet gewesen und hätten auf den BF eingeschlagen und ihn beschimpft. Der Bruder habe ihn immer wieder gefragt, was zwischen ihm und XXXX , der Frau, laufe. Als der Bruder gegangen sei, habe er dem BF gesagt, er werde herausfinden, was zwischen ihnen laufe und falls zwischen ihnen etwas laufe, dann werde er den BF umbringen. Der BF sei nach Hause und anschließend zu seinem Freund XXXX gegangen und habe dort einen Anruf der Nachbarin und Freundin von XXXX erhalten, wonach jetzt alle über die Beziehung Bescheid wüssten und der Bruder XXXX zusammengeschlagen und ihr Handy durchgesehen und ihre Anrufe und Nachrichten gelesen habe und wonach der Bruder von XXXX mit anderen bewaffneten Männern zum Haus des BF gekommen sei und sie auf das Haus geschossen und vor der Tür geschimpft hätten. Aus diesem Grunde habe er unverzüglich am 25.8.2015 den Irak legal per Flugzeug verlassen; im Fall einer Rückkehr fürchte er, vom Bruder XXXX (bzw. auch dessen Freund und der Miliz) wegen seiner Beziehung getötet zu werden.

2.2.1.2. Dieses Vorbringen erwies sich bereits per se – unabhängig von diversen (weiter unten näher dargestellten) Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten – als äußerst unplausibel:

So muss man sich vor Augen halten, dass der BF eigenen Angaben zufolge mit XXXX seit Anfang 2013 eine Beziehung geführt habe. Dass – würde man diese Beziehung überhaupt für wahr unterstellen - zumindest seine starke Zuneigung zu dieser Frau keineswegs ein Geheimnis gewesen sein hätte können, folgt schon daraus, dass der BF eigenen Angaben zufolge drei Mal bei ihrer Familie um ihre Hand angehalten habe, und zwar Ende 2013, ca. August 2014 sowie Juni 2015 (AS. 61, 62). Bereits das BFA hat dem BF anlässlich der Befragung am 5.4.2017 zutreffend vorgehalten, dass es nicht nachvollziehbar ist, dass es erst, nachdem der BF zum dritten Mal um die Hand von XXXX angehalten habe, zum Konflikt mit deren Bruder gekommen sei. Diesbezüglich gab der BF unter anderem wie folgt zu Protokoll: „Der Bruder hat erst nach dem dritten Besuch Verdacht geschöpft, dass wir in Kontakt waren“ (AS. 63). Ohne die Sitten, Gebräuche und Moralvorstellungen im arabischen Raum zu übersehen, so wirkt dieses Vorbringen – wie sich dann insbesondere in der Beschwerdeverhandlung klar zeigte – im konkreten Fall doch als äußerst lebensfremd und konstruiert. So gab der BF etwa auf eingehendes Nachfragen des Richters zu dem – von ihm als ausreisekausal geschilderten – Vorfall vom 19.8.2015 in der Beschwerdeverhandlung wie folgt an (Verhandlungsschrift S. 9): „VR: Was hat der Bruder Ihrer Geliebten ganz konkret zu Ihnen bei dem Vorfall, bei dem Sie geschlagen wurden, gesagt? BF: ‚Was ist zwischen euch, meiner Schwester und dir, außer, dass du sie heiraten wolltest?‘ ‚Wie schaut die Beziehung zwischen euch beiden aus, wolltest du sie nur heiraten oder gibt es noch mehr zwischen euch?‘ VR: Wie ist er dann verblieben, als er gegangen ist? BF: Er sagte mir bevor er ging: ‚Ich gehe jetzt nachhause, ich werde die Sache überprüfen, wenn es stimmt, was ich denke, dann werde ich dich töten“. Dass der Bruder von XXXX den BF anlässlich der behaupteten Drohungen und tätlichen Übergriffe am 19.8.2015 gefragt haben soll, ob der BF XXXX nur heiraten will oder ob es zwischen den beiden noch mehr gebe und dass er angekündigt habe, er werde „die Sache überprüfen“, wirkte in Anbetracht der ebenfalls behaupteten, vorangehenden mehrmaligen Kontaktaufnahmen des BF mit der Familie von XXXX wegen seines klar kommunizierten Wunsches, diese zu heiraten, schlicht konstruiert. Auf die diesbezüglichen Vorhalte des Richters in der Beschwerdeverhandlung antwortete der BF darüber hinaus nur ausweichend (Verhandlungsschrift S. 9): „VR: Mir ist nicht ganz klar, welche großen Zweifel der Bruder Ihrer Geliebten hegen konnte: Sie hatten insgesamt drei Mal um die Hand Ihrer Geliebten angehalten, zuletzt relativ kurz vor dem Vorfall, dann muss es doch stets offensichtlich gewesen sein, dass hier doch eine zumindest intensivere Zuneigung besteht? BF: Das hat nichts miteinander zu tun. Es läuft in der arabischen Gesellschaft anders. Ihr Bruder hat zu entscheiden, auch wenn ich mehrmals bei ihm war. VR: So geheim kann das Ganze aber nicht gewesen sein, wenn Sie mehrmals wegen ihr bei ihm waren? BF: So laufen die Sitten und Bräuche bei uns ab, dass ich so oft hinkommen darf und er kann das zum Schluss auch ablehnen. Er hat, wie gesagt, zu entscheiden.“ Letztlich konnte der BF somit auf mehrmaliges Nachfragen keine Antwort darauf geben, zu welchen Erkenntnissen der Bruder von XXXX erstmalig und plötzlich am 19.8.2015 gelangt sein sollte, sodass sich zu diesem Zeitpunkt plötzlich eine Bedrohungslage für den BF ergeben habe.

Nachvollziehbar wäre nach Ansicht des BVwG allenfalls gewesen, wenn dem Bruder von XXXX immer schon die Beziehung seiner Schwester mit dem BF ein Dorn im Auge gewesen wäre, dass sich der Unmut des Bruders darüber im Laufe der Zeit gesteigert hätte und dass dies letztlich in Drohungen oder tätlichen Angriffen geendet hätte. Derartiges hat der BF aber gerade nicht vorgebracht, sondern einerseits auf seine zahlreichen Versuche ab Ende 2013, XXXX zu heiraten, andererseits aber auf die plötzlich hereinbrechenden, unglücklichen Umstände des 19.8.2015 verwiesen, als dem Bruder von XXXX klar geworden sei, dass eine Beziehung zwischen ihm und XXXX bestehe. Dies ist aber, wie dargestellt, völlig unplausibel.

2.2.1.3. Die angeblich ausreisekausalen Vorfälle wurden vom BF im Laufe des Verfahrens aber darüber hinaus auch durchaus widersprüchlich geschildert. So gab der BF bei seiner Erstbefragung zu Protokoll, der Bruder von XXXX habe den BF und XXXX (gemeint: bei einem Telefonat) belauscht und daraufhin alle ihre „Mitteilungen und Nachrichten“ gelesen. Aus diesem Grunde habe der Bruder von XXXX den BF für ein Gespräch zu sich geholt und dem BF bei diesem Gespräch gedroht, dass er ihn wegen der Verbindung umbringen werde und er sich von ihr fernhalten soll. Einige Tage danach sei der Bruder mit einem Freund bewaffnet zum BF gekommen, sie hätten ihn mit den Waffen bedroht und ihm einen Tag gegeben, um das Land zu verlassen, widrigenfalls er getötet werden würde.

Im weiteren Verfahrensverlauf schilderte der BF diese Ereignisse grundlegend anders: So fand der ursprünglich erwähnte Vorfall (der sich laut Aussagen des BF bei der Erstbefragung wenige Tage vor dem massiven Vorfall vom 19.8.2015 ereignet habe), bei dem der Bruder von XXXX den BF – nachdem dieser ein Telefonat zwischen dem BF und XXXX mitgehört und daraufhin das Mobiltelefon von XXXX „ausgewertet“ und alle ihre „Mitteilungen und Nachrichten“ gelesen habe – zu sich geholt und ihn mit (Todes-)Drohungen aufgefordert habe, sich von XXXX fernzuhalten, überhaupt keine Erwähnung mehr. Vielmehr habe der Bruder von XXXX erst an besagtem 19.8.2015 ein entsprechendes Telefonat mitgehört, sei daraufhin mit einem Freund zum BF in dessen Büro gegangen und habe den BF dort bedroht und geschlagen und zu seinem Verhältnis zu XXXX befragt und der Bruder sei dann erst im Anschluss daran – da es ihm nicht gelungen sei, vom BF nähere Informationen zu bekommen – wieder nach Hause zu XXXX gegangen, habe ihr ihr Mobiltelefon abgenommen und dieses „ausgewertet“, wodurch sämtliche Anrufe und Kurznachrichten zwischen dem BF und XXXX – und somit auch ihre Liebesbeziehung – hervorgekommen seien (AS. 61, 62; Verhandlungsschrift S. 8). Hierbei handelt es sich doch um gravierende Widersprüche, wenn man bedenkt, dass der BF ursprünglich noch zwei verschiedene – zeitlich getrennte - Vorfälle ins Treffen führte. Vor allem aber hat der BF bei seiner Erstbefragung sinngemäß angegeben, die „Auswertung“ des Mobiltelefons von XXXX durch deren Bruder habe erst zu jenem (ausreisekausalen) Vorfall (gemeint: vom 19.8.2015) geführt, bei dem er vom Bruder und dessen Freund bedroht und geschlagen worden sei – die „Auswertung“ des Mobiltelefons sei somit dem Vorfall vom 19.8.2015 vorgelagert gewesen -, während hingegen er im weiteren Verfahren die den BF und XXXX letztlich entlarvende „Auswertung“ des Mobiltelefons als Folge des gewalttätigen „Besuchs“ des Bruders und dessen Freundes beim BF am 19.8.2015 – somit zeitlich nachgelagert - darstellte, zumal es diesen trotz der Drohungen und Gewalt beim „Besuch“ nicht gelungen sei, dem BF entsprechende Aussagen zu entlocken, sodass eben auf das Mobiltelefon von XXXX zurückgegriffen werden musste. Der BF entgegnete in der Beschwerdeverhandlung auf Vorhalt seiner unterschiedlichen „Versionen“: „Bei der Erstbefragung handelt es sich wahrscheinlich um Übersetzungsfehler“ (Verhandlungsschrift S. 9). Dem ist aber zu entgegnen, dass es sich hier nicht nur um ein kleines Detail handelt, welches auf einen Übersetzungsfehler zurückzuführen sein könnte, sondern doch um grundlegende Umstände seiner Fluchtgeschichte. Darüber hinaus wurde dem BF auch das Protokoll der Erstbefragung rückübersetzt und hatte er keine Beanstandungen. Hinzu kommt, dass der BF bei seiner Befragung vor dem BFA am 5.4.2017 eingangs explizit nach der Richtigkeit seiner bei der Erstbefragung protokollierten Fluchtgründe gefragt wurde und diesbezüglich wie folgt angab (AS. 58): „Ja die Angaben stimmen, nur beim Fluchtgrund wurde angeführt, dass die beiden Männer mir einen Tag zur Ausreise gegeben haben, aber das stimmt nicht, das wurde glaube ich falsch übersetzt. Sonst stimmen die Angaben alle.“ Aufgrund der aus eigenem Antrieb, noch ohne Vorhalt eines Widerspruches erfolgten Klarstellung durch den BF am 5.4.2017 wird es zwar tatsächlich für möglich gehalten, dass es sich bei dem einen anlässlich der Erstbefragung protokollierten Satz, wonach ihm von den Bedrohern ein Tag zur Ausreise gegeben worden sei, tatsächlich um einen Irrtum handelt (darauf – und nur darauf – hat der BF auch in seinem Beschwerdeschriftsatz hingewiesen); e contrario – arg. insbesondere auch „sonst stimmen die Angaben alle“ – hatte der BF aber auch nachträglich, trotz Gelegenheit, keine Einwendungen gegen die Protokollierung seiner Erstbefragung erhoben bzw. diese sogar ausdrücklich für zutreffend erklärt. Insbesondere auch vor diesem Hintergrund kann seinem nunmehrigen vagen Einwand, der erst auf Vorhalt von gravierenden Widersprüchlichkeiten erstattet wurde, „bei der Erstbefragung handelt es sich wahrscheinlich um Übersetzungsfehler“ nicht weiter gefolgt werden.

Der Vollständigkeit halber sei auch angemerkt, dass der BF vor dem BFA angab, am Abend des besagten 19.8.2015 hätten, wie ihm berichtet worden sei, der Bruder von XXXX und andere bewaffnete Männer auf das Haus des BF geschossen (AS. 62). In der Beschwerdeverhandlung hingegen berichtete der BF unmissverständlich mehrfach davon, dass der Bruder von XXXX vor dem Haus (nur) „in die Luft geschossen“ hätte (Verhandlungsschrift S. 8). Nicht verkannt wird, dass es sich hierbei tatsächlich um ein Detail handelt, welches anfällig für Übersetzungsfehler ist. Allerdings hat der BF selbst in seinem Beschwerdeschriftsatz die Situation besonders bedrohlich dargestellt: „Er [gemeint: der Bruder von XXXX ] suchte sofort das Haus des BF auf und nahm dieses mit Milizmitgliedern unter Beschuss …“.

2.2.1.4. Als äußerst widersprüchlich und unplausibel stellen sich zudem die Angaben des BF zu den Ereignissen nach seiner Ausreise dar. So gab der BF vor dem BFA bei seiner Befragung am 5.4.2017 an, sein Bruder XXXX und seine Schwester, mit denen der BF im gemeinsamen Haushalt gelebt habe, hätten zwar nach den für den BF ausreisekausalen Vorfällen ihr Haus verlassen (müssen) und sich an einer anderen Adresse in Bagdad (im Bezirk XXXX ) niedergelassen, zumal sein Bruder (auch) dort ein großes Haus habe (AS. 63). Sein Bruder habe zudem versucht, mit den älteren Männern im Clan zu sprechen, allerdings habe dies keinen Erfolg gebracht (AS. 63). Dessen ungeachtet gab der BF auf Nachfragen explizit an, dass ihm seine Brüder von allfälligen Vorfällen nach seiner Ausreise „nichts berichtet“ hätten (AS. 63). Er telefoniere zudem regelmäßig mit seinen Angehörigen (gemeint: seinen Geschwistern) im Irak (AS. 60). Seine Familie würde ihm je nach Bedarf auch Geld nach Österreich schicken (AS. 63). Umso verwunderlicher erschien vor diesem Hintergrund, dass der BF sodann in der Beschwerdeverhandlung vom 10.3.2021 angab, er habe derzeit keinen Kontakt zu seinen Angehörigen, und zwar „wegen des damaligen Problems“ (Verhandlungsschrift S. 5). In Widerspruch zu seinen klaren Angaben vor dem BFA, wonach ihm seine Geschwister von keinen Vorfällen berichtet hätten, gab der BF auf die Frage seines Vertreters in der Beschwerdeverhandlung, ob ihm, als er zumindest eine Zeit lang nach seiner Einreise nach Österreich noch Kontakt mit seinen Angehörigen hatte, dabei von irgendwelchen Drohungen erzählt worden sei, an, „Meine Familie wurde mehrmals von ihm [gemeint: dem Bruder von XXXX ] unter Druck gesetzt und belästigt“ (Verhandlungsschrift S. 10), was er auf weiteres Nachfragen seines Vertreters als Belästigungen am Arbeitsplatz wie Erkundigungen nach dem BF und Todesankündigungen den BF betreffend - konkret als „psychischen Druck“ seinen Angehörigen gegenüber - schilderte; der Bruder von XXXX sei „kindisch und kriminell“ und wollten die Angehörigen des BF „ungestört ein ruhiges Leben führen“; mit Waffengewalt sei diesen aber nicht gedroht worden (Verhandlungsschrift S. 11). Wegen dieses Drucks sei der BF nunmehr auch von seinen Angehörigen „verstoßen“ worden, wobei man sich folgende Angaben des BF in der Beschwerdeverhandlung vor Augen halten muss (Verhandlungsschrift S. 10):

„BF: […] Meine Familie hat mich auch verstoßen müssen um jegliche Probleme zu vermeiden. VR: Sie haben vorhin gesagt, dass der Bruder von XXXX mehrere Versuche seitens Ihrer Familie, das Problem zu lösen, abgelehnt hat. Was hätte es denn zu lösen gegeben: Sie haben den Irak längst verlassen und somit zwangsläufig auch keinerlei Beziehung zu XXXX . BF: Dass ich die Beziehung mit XXXX beendet habe und das Land verlassen habe, das reicht XXXX Bruder nicht aus. Es geht um die Ehre und er wollte mich deshalb töten. Als meine Familie zu ihm mehrmals gegangen ist, hat sie darum ersucht zu vergeben. VR: Wie hätte Ihre Familie Sie verstoßen können, wo Sie doch längst nicht mehr im Irak aufhältig sind? BF: Meine Familie musste sich von mir loslösen, dass sie auf der sicheren Seite sind. Er hat sie nicht in Ruhe gelassen, deshalb mussten sie das tun. Er wollte mich um jeden Preis töten. VR: Was meinen Sie mit „loslösen“, Sie sind nicht mehr im Irak? BF: Das bedeutet, im Fall, dass er mich tötet, hat meine Familie dann nichts zu tun und kann keinen Schadenersatz verlangen. VR: Im April 2017 hatten Sie aber offensichtlich noch gutes Einvernehmen mit Ihren Angehörigen? BF: Ja, weil sie noch beim Versuch waren mit ihm das Problem zu lösen. Meine Familie hat den Druck und die Atmosphäre nicht ertragen können und musste sich von mir loslösen.“

Es ist in keiner Weise nachvollziehbar, dass der BF noch bei seiner Befragung am 5.4.2017 von regelmäßigem telefonischen Kontakt mit seinen Geschwistern spricht, wobei ihm diese von keinen Vorfällen berichten würden, während er nunmehr vorbringt, seine Angehörigen hätten ihm seinerzeit sehr wohl von Belästigungen seitens des Bruders von XXXX in Form von (psychischem) Druck und Todesdrohungen gegen den (abwesenden) BF berichtet, was sogar dazu geführt habe, dass ihn seine Angehörigen mittlerweile „verstoßen“ hätten und derzeit auch kein Kontakt mehr bestehe. Auch der Einwand des BF auf den diesbezüglichen Vorhalt des Richters, damals (gemeint: zum Zeitpunkt der Befragung vom 5.4.2017) sei das Problem noch „frisch“ gewesen und man habe es „noch in Ordnung bringen“ wollen (Verhandlungsschrift S. 5), vermag in keiner Weise plausibel darzulegen, warum seinerzeit noch gutes Einvernehmen mit seinen Angehörigen – und zwar ohne, dass dem BF von Vorfällen berichtet worden sei - bestanden habe (seine Angehörigen hätten ihm je nach Bedarf sogar Geld nach Österreich geschickt), während hingegen er nunmehr angibt, seine Angehörigen seien bereits seinerzeit regelmäßig vom Bruder von XXXX unter Druck gesetzt worden – wobei ihm seine Angehörigen dies bereits seinerzeit mitgeteilt hätten -, sodass sie den BF letztlich „verstoßen“ und den Kontakt abgebrochen hätten. Abgesehen davon erhellt auch nicht, inwiefern sich das vom BF erwähnte „Loslösen“ bzw. „Verstoßen“ manifestieren und seinen Angehörigen hätte helfen sollen, zumal sich der BF ja ohnedies bereits seit mehreren Jahren nicht mehr im Irak befand und es ist darüber hinaus auch in keiner Weise nachvollziehbar, inwiefern die bloße Aufrechterhaltung eines telefonischen Kontakts mit dem BF eine Gefährdung der Angehörigen des BF seitens des Bruders von XXXX bewirkt hätte.

2.2.2.1.5. Auch diese Umstände zeigen deutlich auf, dass das Vorbringen des BF nicht den Tatsachen entsprechen kann und geht das BVwG folglich davon aus, dass der BF sehr wohl noch in Kontakt mit seinen Angehörigen – in welcher Häufigkeit auch immer – steht. Ebenso wenig kann in Anbetracht der dargestellten beweiswürdigenden Ausführungen festgestellt werden, dass der BF irgendeiner Gefährdung seitens des Bruders seiner behaupteten Geliebten (bzw. auch seitens einer Miliz, zumal der Bruder Mitglied der Miliz Asa’ib Ahl al-Haqq gewesen sei) ausgesetzt war bzw. im Fall einer Rückkehr wäre, zumal dem Fluchtvorbringen des BF schlicht die Glaubwürdigkeit zu versagen ist.

2.2.2.1.6. Der Vollständigkeit halber sei auch angemerkt, dass in der Beschwerde zudem lapidar vorgebracht wird, dass dem BF wegen seiner außerehelichen Beziehung auch staatliche Verfolgung drohe.

Im Hinblick auf außereheliche Beziehungen im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020) auszugsweise zwar tatsächlich wie folgt ausgeführt (S. 112): „[…] Nach Artikel 394 ist jedoch das Eingehen einer außerehelichen sexuellen Beziehung strafbar […]. Die Behörden stützen sich aber auf Anklagen wegen Sittlichkeitsvergehen oder Prostitution, um gleichgeschlechtliche - aber auch außereheliche heterosexuelle - Aktivität strafrechtlich zu verfolgen […]. Herangezogen wird Artikel 401 bezüglich unsittlichem Verhalten in der Öffentlichkeit (bis zu sechs Monate Haft) […].“

Auch in diesem Zusammenhang ist aber nochmals darauf hinzuweisen, dass dem Fluchtvorbringen des BF die Glaubwürdigkeit zu versagen ist, sodass insofern auch keine staatliche Verfolgung des BF in Erwägung zu ziehen ist. Abgesehen davon ist aber zu betonen, dass der BF selbst – trotz mehrfacher Gelegenheit (wie zuletzt etwa in der Beschwerdeverhandlung) – keine staatliche Verfolgung ins Treffen führte, sondern findet sich ein solches Vorbringen ausschließlich im Beschwerdeschriftsatz seiner damaligen Vertretung. Es liegt auf der Hand, dass der BF selbst die Gefahr einer staatlichen Verfolgung erwähnt hätte, wenn ihm eine solche drohen würde. Der Vollständigkeit halber sei zudem angemerkt, dass der BF den Irak legal unter Verwendung seines Reisepasses per Flugzeug von Bagdad aus verlassen hat, was ebenso klar gegen ein Interesse der irakischen Behörden an der Person des BF – aus welchen Gründen auch immer – spricht.

2.2.2. Zu allfälligen sonstigen Gefährdungen des BF in objektiver Hinsicht:

2.2.2.1. Im Hinblick auf die politische Lage im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020) auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 7 f):

"[…] Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten […].

So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde […]. Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt […].

[…]"

2.2.2.2. Im Hinblick auf die innenpolitische Lage im Irak wird im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 7 f):

"[…] Traditionell bestimmen Stammesstrukturen und ethnisch-religiöse Zugehörigkeiten die gesellschaftlichen und politischen Loyalitäten bzw. Konfliktlinien. Die wichtigsten ethnischreligiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17 bis 22 %) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak (aus dieser Gruppe stammte bis zum Ende der Diktatur von Saddam Hussein 2003 der größte Teil der politischen und militärischen Führung) und die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend sunnitischen Kurden (15 bis 20 %). Entlang dieser ethnisch-religiösen Linien hat sich nach dem Ende der Diktatur von Saddam Hussein die Parteienlandschaft gebildet. […]"

2.2.2.3. Im Hinblick auf Religionsfreiheit im Irak wird im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 15 f):

"Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an: Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung, in Abs. 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Art. 3 legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung Iraks fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes. Art. 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten. Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z. B. den Abfall vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z. B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht. Mit Einführung eines neuen Personalausweises im Jahr 2015 wurde der Eintrag zur Religionszugehörigkeit dauerhaft abgeschafft. Allerdings wurde auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen: Art. 26 des Gesetzes zum Personalausweis stipuliert, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden. Darüber hinaus gilt, dass Kinder mit einem muslimischen Elternteil oder einem unbekannten Elternteil automatisch als muslimischen Glaubens registriert werden. Dies führt zu rechtlichen Schwierigkeiten und verstärkt soziale Ausgrenzung von Kindern aus „IS“-Zwangsehen bzw. -Vergewaltigungen.

Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze (fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Jesiden, Sabäer, Schabak und Fayli Kurden). Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen und Christen sowie einen für Armenier vor.

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Religiöse Minderheiten leiden im Alltag jedoch unter weitreichender faktischer Diskriminierung. Übergriffe werden selten strafrechtlich geahndet.

Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des „IS“ standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäern, Kakai, Schabak und Christen. Es liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert. In der RKI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden."

2.2.2.4. Im Hinblick auf die Situation von Minderheiten bzw. sunnitischen Arabern im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020) wie folgt ausgeführt (S. 76 ff):

"Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden problematische Versuche einer ethnisch-konfessionellen Neuordnung unternommen, besonders in dem ethnisch-konfessionell sehr heterogenen Gouvernement Diyala […].

[…]

Aufgrund der konfliktbedingten internen Vertreibungen und Rückkehrbewegungen hat sich seit 2014 die Demographie einiger Gebiete von mehrheitlich sunnitisch zu mehrheitlich schiitisch bzw. zu konfessionell gemischt entwickelt, insbesondere in den Gouvernements Bagdad, Basra und Diyala. Im Distrikt Khanaqin in Diyala ist die Anzahl der Orte mit einer sunnitischen Mehrheit von 81 auf 73 gesunken, jene mit einer kurdisch-sunnitischen Mehrheit von 20 auf 17. […]

[…]

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt […]. Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält […]. Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger […].

Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga […]. Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul […]."

2.2.2.5. Der BF hat im Verfahren keine religiös motivierten Verfolgungshandlungen gegen seine Person geltend gemacht. Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak sind ebenfalls nicht hervorgekommen:

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt im gegebenen Zusammenhang nicht, dass die irakische Gesellschaft bereits seit dem Sturz des (sunnitisch geprägten) Regimes von Saddam Hussein in zunehmendem Maße religiös gespalten ist und sich in den Jahren 2006 bis 2008 massive konfessionelle Konflikte ereigneten. Während des Bürgerkrieges der (ebenfalls sunnitischen) Milizen des Islamischen Staates wurde die sunnitische Minderheit im Irak darüber hinaus oftmals einerseits für das Erstarken des Islamischen Staates und die damit verbundenen zahlreichen vornehmlich schiitischen Opfer unter den Sicherheitskräften (wie etwa beim Massaker von Tikrit) und Zivilisten verantwortlich gemacht und andererseits selbst fallweise mit einer unterstellten Sympathie gegenüber dem Islamischen Staat konfrontiert.

Eine systematische und asylrelevante Verfolgung sämtlicher Angehöriger der sunnitischen Minderheit durch die schiitische Mehrheitsbevölkerung kann dessen ungeachtet angesichts der Quellenlage nicht nachvollzogen werden, was sich gegenständlich auch daraus ergibt, dass die Familie des BF auch weiterhin in Bagdad lebt; der BF hat in diesem Zusammenhang auch in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht von keinerlei konfessionellen Problemen berichtet, die seine Familienangehörigen dort zu gewärtigen hätten.

Ein genereller Ausschluss von Sunniten vom Arbeitsmarkt und von Bildungseinrichtungen liegt in Anbetracht der Quellenlage sowie den vom Bundesverwaltungsgericht bei der Bearbeitung ähnlich gelagerter, den Irak betreffender Verfahren gewonnenen Wahrnehmungen ebenfalls nicht vor; so konnte etwa auch der BF als Inhaber eines Geschäfts für Alarmanlagen- und Überwachungstechnik tätig sein. Über finanzielle Probleme seiner Geschwister berichtete der BF nichts; so arbeite etwa einer seiner Brüder als Beamter im Gesundheitsministerium in Bagdad (AS. 63). Dazu tritt, dass ausweislich der Feststellungen zur allgemeinen Lage im Irak, hohe Staatsämter, etwa jenes des Parlamentspräsidenten, Sunniten vorbehalten und diese auch im irakischen Parlament angemessen repräsentiert sind, was auch gegen eine Verfolgung sämtlicher Angehöriger des sunnitischen Religionsbekenntnisses im Irak spricht. Würde eine Gruppenverfolgung sämtlicher Angehöriger der sunnitischen Glaubensrichtung im Irak tatsächlich stattfinden, wäre ferner mit Sicherheit davon auszugehen, dass entsprechende eindeutige und aktuelle Quellen vorhanden wären.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass von schiitischen Milizen nach wie vor Menschenrechtsverletzungen ausgehen und auch eine nicht feststellbare Zahl von Übergriffen auf sunnitische Iraker stattfindet, welche über bloße Diskriminierungen hinausgehen. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes ist noch nicht davon auszugehen, dass sämtliche sunnitischen Araber in Bagdad mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ungerechtfertigte Eingriffe von erheblicher Intensität in ihre schützende persönliche Sphäre zu gewärtigen hätten. Eine systematische Verfolgung oder Misshandlung von Sunniten in Bagdad ergibt sich anhand der Quellenlage nicht. Die Wahrscheinlichkeit, einem solchen zielgerichteten Übergriff zum Opfer zu fallen, ist derzeit vielmehr nicht als erheblich anzusehen. Diese nur entfernte Möglichkeit, Opfer eines religiös motivierten Übergriffes zu werden, genügt indes nicht zur Annahme einer Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit (VwGH 5.9.2016, Ra 2016/19/0074).

Der Verwaltungsgerichtshof trat im Übrigen einer behaupteten Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak durch die schiitische Bevölkerungsmehrheit oder durch schiitische Milizen in einer Revisionssache nicht näher (Beschluss vom 25.4.2017, Ra 2017/18/0014). Auch in seiner jüngeren Rechtsprechung trat der Verwaltungsgerichtshof einer behaupteten Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak nicht näher und beanstandete auch die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den mehrheitlich sunnitisch besiedelten Stadtteilen Bagdads nicht (Beschluss vom 25.9.2020, Ra 2019/19/0407).

Es konnte damit nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung aufgrund seines sunnitischen Glaubensbekenntnisses drohen würde.

Die Gefahr einer Verfolgung des BF aus sonstigen Gründen wurde nicht geltend gemacht und sind im Verfahren auch keine Anhaltspunkte dafür hervorgekommen.

Es konnte damit im Ergebnis nicht festgestellt werden, dass der BF im Irak einer unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder dies im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hätte.

Der BF hat keine asylrelevante Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft gemacht.

2.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:

2.3.1. Zur Sicherheitslage im Irak:

Im Hinblick auf die Sicherheitslage im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020) auszugsweise wie folgt ausgeführt:

Zur allgemeinen Sicherheitslage (S. 14):

"Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat […]. Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert […]. Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete […].

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren […]. […]"

Zur Sicherheitslage in Bagdad (S. 21 ff):

"Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden […].

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden […]. Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt […]).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen […], doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen […]. Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden […].

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet […]. Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad […].

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet […], im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten […]. Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar […]

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren […].

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen."

Wenngleich die Berichte noch ein durchaus problematisches Bild von der Sicherheitslage im Irak – so auch in Bagdad – zeichnen, kann daraus nach Ansicht des erkennenden Gerichtes aber nicht abgeleitet werden, dass gleichsam jeder, der dorthin verbracht wird, einer maßgeblichen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt ist. Die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung des BF wurde bereits verneint; eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des BF allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage kann – auch vor dem Hintergrund, dass seine Familienangehörigen weiterhin in Bagdad leben – nicht festgestellt werden.

2.3.2. Zur Versorgungs- und Wirtschaftslage im Irak und der konkreten Situation des BF im Fall einer Rückverbringung in den Irak

2.3.2.1. Im Hinblick auf die Grundversorgung im Irak wird im Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 25):

"Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Jenseits des Ölsektors – daraus stammen 90% der Staatseinnahmen – verfügt Irak kaum über eigene Industrie. Der Hauptarbeitgeber ist die öffentliche Hand. Über 4 Mio. der geschätzt 38 Mio. Iraker sind Staatsbedienstete.

Öffentliche Gehälter wurden in den letzten Jahren aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise gar nicht oder erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt. Nach Angaben der Weltbank (2018) leben über 70 % der Iraker in Städten, wobei die Mehrzahl der Stadtbewohner in prekären Verhältnissen lebt, ohne ausreichenden Zugang zu öffentlichen Basis-Dienstleistungen. Bedürftige erhalten Lebensmittelgutscheine, mit denen sie in speziellen staatlichen Geschäften einkaufen können. Die vom "IS" befreiten Gebiete sind immer noch stark durch improvisierte Sprengfallen oder nicht-explodierte Kampfmittel kontaminiert. Einige Städte und Siedlungen sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv von UNDP und internationalen Gebern unterstützt. Deutschland ist seit 2014 mit kumuliert ca. 2 Mrd. Euro einer der größten Geber.

Über die befreiten Gebiete hinaus ist im gesamten Land die durch Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur stark sanierungsbedürftig. Die Versorgungslage ist für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Nach Angaben der WHO (2014) leben 17% der Bevölkerung unterhalb der internationalen Armutsgrenze (1,90 USD/Tag). Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt.

Die Stromversorgung ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten häufig unterbrochen. In der RKI erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag, insbesondere im Sommer und Winter (höherer Verbrauch durch Klimatisierung und Heizperiode).

Die Wasserversorgung leidet unter völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen. Sie führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Hinzu kommt Verschmutzung durch (Industrie-)Abfälle. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. Kritisch wird die Wasserversorgung in den Sommermonaten immer wieder in der Hafenstadt Basra (ca. 2 Mio. Einwohner), die insbesondere im Sommer 2018 unter einer Wasserkrise litt. Über 100.000 Fälle von registrierte

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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