TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/14 L514 2221203-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.04.2021
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Entscheidungsdatum

14.04.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


L514 2221203-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KLOIBMÜLLER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei alias Bulgarien, vertreten durch RAe Dr. Max Kapferer, Dr. Thomas Lechner und Dr. Martin Dellasega, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.06.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 19.02.2021 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am XXXX 2017 illegal mit einem gefälschten bulgarischen Reisepass über den Flughafen XXXX in Österreich ein.

Am XXXX 2017 wurde der Beschwerdeführer von Beamten der deutschen Polizei einer Kontrolle unterzogen. Dabei wies sich der Beschwerdeführer mit dem gefälschten bulgarischen Reisepass, einem gefälschten bulgarischen Personalausweis und einem gefälschten bulgarischen Führerschein, aus. Bei einer Gepäckkontrolle konnte der gültige türkische Reisepass vorgefunden werden. Da der Beschwerdeführer über kein gültiges Schengen-Visum verfügte, wurde er von der deutschen Polizei festgenommen. Die gefälschten Dokumente wurden von der PI XXXX beschlagnahmt.

Am XXXX 2017 wurde die Zurückschiebung nach Österreich verfügt und der Beschwerdeführer am selben Tag nach Österreich überstellt und dort der LPD XXXX übergeben.

2.       Am XXXX 2017 stellte der Beschwerdeführer in weiterer Folge einen Antrag auf internationalen Schutz. Hierzu wurde der Beschwerdeführer am selben Tag von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

Im Rahmen der Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, dass sein Name XXXX sei, er aus der Türkei stamme und am XXXX in XXXX geboren sei.

Als Grund für die Ausreise führte der Beschwerdeführer an, dass er Kurde sei und an einer politischen Demonstration teilgenommen habe, weshalb er festgenommen worden sei. Er sei mehrmals wegen dem gleichen Delikt festgenommen worden, wodurch er starke Verletzungen erlitten habe. Die Polizei habe ihn schwer an der rechten Hand verletzt. Er sei außerdem Mitglied der Oppositionspartei HDP gewesen und habe immer bei den Veranstaltungen teilgenommen. In der Türkei sei ein Verfassungsreferendum abgehalten worden, wobei es um die Ausweitung der Befugnisse des Präsidenten gegangen sei, dagegen habe er demonstriert. Danach sei er von den Behörden festgenommen worden. Sie hätten ihn gewarnt, wenn er noch einmal auffallen würde, würden sie ihn für immer festnehmen. Im Falle der Rückkehr drohe ihm eine unmenschliche Behandlung durch die türkischen Behörden, weil er Kurde sei und außerdem ein Mitglied der HDP. Weiter brachte er vor, dass er nach Österreich gekommen sei, da er zu seinem Onkel nach XXXX reisen habe wollen.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er ledig und kinderlos sei. Seine Familie bestehe aus seinen Eltern ( XXXX ), sowie aus seinen beiden Brüdern ( XXXX und XXXX ) und seiner Schwester XXXX . Die Familie würde noch in der Türkei leben. Er selbst habe zuletzt in XXXX gelebt. Der Beschwerdeführer habe in XXXX die Hauptschule beendet und anschließend zwei Jahre lang eine allgemeinbildende höhere Schule besucht. Zuletzt habe er den Beruf Koch ausgeübt.

Der türkische Reisepass, Nr. XXXX , ausgestellt am XXXX 2014, und der türkische Führerschein Nr. XXXX wurden von der LPD XXXX gemäß §39 Abs. 3 BFA-VG sichergestellt.

Am 06.02.2019 wurde der Beschwerdeführer im Beisein seiner Vertrauensperson (Schwager) vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab befragt zu seiner Gesundheit an, dass er Medikamente wegen Schlaflosigkeit und Albträume genommen habe, derzeit nehme er jedoch keine Medikamente. Unterlagen habe er diesbezüglich keine. Seine Albträume würde er wegen der politischen Gründen haben.

Hinsichtlich seiner persönlichen Verhältnissen wiederholte der Beschwerdeführer seine bisherigen Angaben. Ergänzend führte er aus, dass seine Eltern und seine beiden Brüder nach wie vor in der Türkei leben würden und er zuletzt vor sechs Monaten Kontakt zu seiner Mutter gehabt habe. Sein Vater besitze in XXXX eine Wohnung und ein Haus in XXXX . Einer seiner Brüder würde in der Türkei als Koch arbeiten und die Familie versorgen. Der Beschwerdeführer würde gerne Kontakt zu seiner Familie haben, aber er wolle nicht, dass seine Familie Probleme bekomme. Wenn es die politischen Probleme nicht geben würde, würde er in XXXX leben können. Der Beschwerdeführer habe weiters zwei Jahre lang eine Ausbildung als Koch in XXXX gemacht. Zuletzt sei er im Restaurant „ XXXX “ in XXXX ein Jahr lang beschäftigt gewesen. Insgesamt habe er seinen Beruf sechs Jahre lang ausgeübt. Seinen Militärdienst habe er von XXXX 2010 bis XXXX 2012 abgeleistet. Er sei normaler Soldat in XXXX gewesen. Insgesamt sei er 15 Monate lang bei der türkischen Armee gewesen. Er sei an der Grenze zu Syrien stationiert gewesen. Kampfhandlungen habe es zu dieser Zeit nicht gegeben. Er habe bis zu seiner Ausreise in einem Apartment in XXXX , XXXX , gelebt. Davor habe er bei seinen Eltern gewohnt. Er habe in durchschnittlichen Verhältnisse gelebt; er habe gearbeitet. Als Koch habe er ca. 3000,- türkische Lira verdient.

Auf Nachfrage führte der Beschwerdeführer weiter aus, dass er am XXXX 2017 mit dem bulgarischen Reisepass direkt von XXXX , Flughafen XXXX , nach XXXX geflogen sei. Er habe sich im Anschluss 12-13 Tage in XXXX und XXXX aufgehalten. Dann habe er zu seiner Schwester nach XXXX fahren wollen. Dabei sei er in XXXX von der deutschen Polizei kontrolliert worden. Den bulgarischen Reisepass habe er von einem Bulgaren in XXXX um € 4.500 gekauft. Dieses Geld habe er sich von einem Freund in XXXX , namens XXXX , geliehen. Auf Nachfrage gab er weiter an, dass er bei der Ausreise auch seinen echten türkischen Reisepass dabeigehabt habe. Am Flughafen in XXXX habe er mit dem gefälschten Reisepass keine Probleme gehabt, da sein Cousin namens XXXX mit einem Freund hinter ihm einen Streit begonnen habe und so die Polizei abgelenkt worden sei. Im Reisepass sei sein Foto gewesen; die Ausstellung habe ca. zwei Wochen gebraucht. Auch bei der Einreise in Österreich sei er mit dem Pass nicht aufgefallen.

Seine Schwester XXXX , geb. XXXX , lebe mit ihrem Ehegatten XXXX in XXXX , ebenso wie vier weitere Onkel des Beschwerdeführers. Dabei handle es sich um XXXX , geb. XXXX (StA Österreich), XXXX geb. XXXX , StA Österreich, XXXX , geb. XXXX (StA Österreich) und XXXX , geb. XXXX , StA Österreich. Auch habe er einen Cousin namens XXXX geb. XXXX , StA Österreich, welcher in Niederösterreich lebe.

Zu seinen Ausreisegründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er einmal Probleme mit der Polizei gehabt habe und für drei Tage eingesperrt worden sei. Er sei immer wieder beschuldigt worden, dass er Kämpfer für die HDP gewesen sei. Er sei auch tatsächlich Mitglied der HDP gewesen. Er sei nur einmal festgenommen worden, jedoch sei er immer wieder von Beamten bedroht worden, es seien Polizisten in Zivil gewesen. Sie hätten ihn umbringen wollen, hätten es jedoch nicht geschafft. Auch sei er verfolgt worden, weil er Kurde sei. Er habe in ständiger Angst gelebt. Als er vor ca. sechs Monate mit seiner Familie telefoniert habe, sei daraufhin die Polizei zur Familie gekommen und habe gefragt, wo er sich aufhalte. Das Telefonat sei nämlich abgehört worden. Er sei seit der Gründung der HDP im Jahr 2015 Mitglied gewesen; er habe auch Fotos vorgelegt, welche ihn bei Demonstrationen in XXXX am XXXX zeigen würden. Am XXXX 2015 hätten Wahlen stattgefunden und handle es sich bei der Demonstration um eine Wahlkampfkundgebung der HDP. Befragt, was es mit den vorgelegten Fotos von zerstörten Orten auf sich habe, führte er aus, dass es sich dabei um zerstörte kurdische Gebiete handeln würde, wo die HDP Wahlzugewinne verzeichnen habe können. Er sei auch als Mitglied der HDP vor Ort gewesen, um seinem Volk, den Kurden, zu helfen. In XXXX habe er Essen, Kleidung und medizinische Ausrüstung organisiert und sie in weiterer Folge mit einen LKW in das kurdische Krisengebiet gebracht. In der Stadt XXXX sei es den Menschen verboten worden, auf die Straße zu gehen. Zu dieser Zeit habe es auch Kampfhandlungen zwischen der Armee und den Kurden gegeben, er habe sich daran aber nicht beteiligt. Er sei Politiker, aber kein Kämpfer. Der Beschwerdeführer habe sich in den kurdischen Krisengebieten 45 Tage lang ab XXXX 2015 aufgehalten. Er habe dort den Verletzten geholfen, es seien auch Tote dabei gewesen. Das Gebiet sei von der Armee abgesperrt gewesen, weswegen er es nicht verlassen habe können. Dem Beschwerdeführer sei es in weiterer Folge aber gelungen nach Syrien zu gelangen und von dort zurück nach XXXX . Das Ganze habe sich XXXX 2015 zugetragen. Auf Nachfrage des BFA, ob er jemals Mitglied der PKK gewesen sei, gab der Beschwerdeführer an, dass er gegen den Kampf sei und wenn er Mitglied der PKK gewesen wäre, wohl auch kämpfen hätte müssen. XXXX 2016/Anfang 2017 habe die Polizei erfahren, dass er in XXXX / XXXX im Kampfgebieten gewesen sei. Ein Polizist aus XXXX namens XXXX habe einem Bekannten gesagt, dass der Beschwerdeführer flüchten solle, sonst würde er umgebracht werden. XXXX habe seinen Freund auch gewarnt, dass die Polizei wüsste, wo sie sich aufhalten würden und zwar in der Wohnung eines Freundes. Sie hätten die Wohnung sodann verlassen und hätten beobachten können, wie die Polizei die Wohnung gestürmt habe. Sie hätten geschossen und Handgranaten in die Wohnung geschmissen. Der Beschwerdeführer habe daraufhin beschlossen die Türkei zu verlassen. Die Polizei habe über eine Drohne einen Film im Krisengebiet aufgenommen, weshalb sie vom Aufenthalt des Beschwerdeführers dort gewusst hätten; das habe er auch von XXXX erfahren. Es werde ihm nun von der Polizei unterstellt, dass er Kämpfer bzw. ein Terrorist sei. Alle Mitglieder der HDP würden als Terroristen bezeichnet werden. Befragt gab der Beschwerdeführer weiter an, dass er keinen Mitgliederausweis gehabt habe, weil das Gebäude der HDP in XXXX abgebrannt sei. Er sei jedoch seit der Gründung im Jahr 2015 Mitglied gewesen. Er sei innerhalb der Partei Vorsprecher gewesen und habe auch bei der Planung mitgearbeitet. Er habe nur an legalen Wahlkampfveranstaltungen teilgenommen. Die Demonstrationen hätten von XXXX 2015 bis XXXX 2016 in XXXX / XXXX stattgefunden; von diesen Veranstaltungen würden auch die Fotos stammen. Auf Nachfrage gab er wiederholt an, dass er niemals Mitglied der PKK gewesen sei und diese auch nie unterstützt habe.

Auf Nachfrage, weshalb er nicht sofort bei der Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, führte der Beschwerdeführer aus, dass er dies in XXXX machen wollte, zumal er dort Verwandte habe. Zurzeit lebe er bei seiner Schwester. Einer Arbeit gehe er nicht nach. Seine Schwester und sein Schwager würden ihn finanziell unterstützen. Seit XXXX 2018 bekomme er auch keine Grundversorgung mehr, weil er privat verzogen sei.

Am 11.02.2019 wurde vom Beschwerdeführer dem BFA ein Arztbrief von XXXX , Arzt in XXXX vorgelegt.

3.       Mit gegenständlich in Beschwerde gezogenen Bescheid des BFA vom 13.06.2019, XXXX , wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass der Beschwerdeführer weder wegen seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit noch wegen seiner politischen Gesinnung in der Türkei verfolgt werden würde. Auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer an Demonstrationen der HDP teilgenommen habe und sich im Jahr 2015 45 Tage in einem umkämpften Kurdengebieten aufgehalten haben, könne nicht als asylrelevanter Sachverhalt festgestellt werden. Das Vorbringen des Beschwerdeführers dazu sei nicht glaubhaft gewesen. Der Beschwerdeführer sei mit gefälschten Identitätsdokumenten (bulgarischen Reisepass, einen gefälschten bulgarischen Führerschein und eine gefälschte bulgarische ID- Karte) in das Bundesgebiet eingereist, welche auf seinen richtigen Namen und Geburtsdatum ausgestellt gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe nach der Einreise am XXXX 2017, jedoch nicht sofort, um internationalen Schutz angesucht. Erst nach der Festnahme durch die deutsche Polizei und der Rückübernahme durch Österreich habe der Beschwerdeführer am XXXX 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt. Von einem Verfolgten, der es schafft, sein Herkunftsland zu verlassen, würde man jedoch erwarten, dass dieser umgehend einen entsprechenden Antrag stellen würde.

Der Beschwerdeführer habe nach Aufforderung einer freien Erzählung zu seine Fluchtgründe nur zwei Sätze ausgeführt. Hingegen entspreche es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Menschen über persönlich Erlebtes detailreiche und weitschweifende Angabe machen können und dabei auch eigene Gefühle bzw. spontane Rückerinnerung zum Ausdruck bringen. Dies insbesondere dann, wenn es sich um wichtige Erlebnisse handeln würde. Von einer Einholung eines ärztlichen Gutachtens hinsichtlich der vorgebrachten Verletzung an der Hand sei abgesehen worden, da auch ein ärztliches Gutachten nicht feststellen könne, woher die Verletzung stammen würden.

Die vom Beschwerdeführer gemachten Orts- und Zeitangaben stehen offensichtlich mit der militärischen Intervention der türkischen Armee gegen die PKK im Jahr 2015 in Zusammenhang. Er selbst verneinte ausdrücklich eine aktive Teilnahme an den dortigen Kämpfen. Es erscheine jedoch unglaubwürdig, dass eine Person, welche nur humanitäre bzw. medizinische Hilfe leisten würde, keinerlei unbewaffnete Mitstreiter habe bzw. diese jedenfalls nie erwähnte. Aufgrund der Schilderungen ergebe sich der Eindruck, dass der Beschwerdeführer in eine militärische Einheit eingebunden gewesen sei, da er sonst mit anderen – zivilen und unbewaffneten – Personen geflüchtet wäre. Verwiesen wurde auch auf die militärische Ausbildung des Beschwerdeführers. Im Falle einer bloßen humanitären Hilfe sei eine Verfolgung durch die Behörden nicht nachvollziehbar. Aufgabe des Asylrechts sei es nicht, jemanden vor einer Strafverfolgung durch die Justizbehörden in seinem Heimatland zu schützen.

Die Mitgliedschaft in der HDP hätte der Beschwerdeführer nicht nachweisen können. Die Partei sei auch bereits entgegen den Aussagen des Beschwerdeführers im Jahr 2012 gegründet worden. Dass die Gefahr einer Verfolgung allein aufgrund der Mitgliedschaft in der HDP durch die Zivilpolizei bzw. durch türkische Behörden bestehe, stehe im Gegensatz zu den dem BFA vorliegenden Länderfeststellungen. Außerdem sei der Beschwerdeführer, trotz des gefälschten Reisepasses, mit seinem echten Namen aus der Türkei ausgereist und würde dies auch gegen eine Verfolgung sprechen. Die Sicherheitsvorkehrungen an Flughäfen seien sehr streng und die Ablenkungsgeschichte des Beschwerdeführers nicht glaubhaft. Das BFA ging weiter davon aus, dass der Beschwerdeführer bei der Ausreise seinen echten Pass verwendete und den falschen Pass erst für seinen Aufenthalt in Europa verwendet habe. Die vorgelegten Bilder würden weiters keine Beweiskraft haben, da nicht feststehe, wann und von wem sie aufgenommen worden seien und habe der Beschwerdeführer selbst angegeben, diese aus dem Internet zu haben. Die Ausführungen zu angeblichen Verhaftung aus politischen Gründen seien vage und oberflächlich gewesen. Auch hinsichtlich der Verfolgung als Kurde wurde kein substantiiertes Vorbringen erstattet.

Spruchpunkt II. begründete die Behörde zusammengefasst damit, dass nicht festgestellt werden konnte, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsland die Lebensgrundlage gänzlich entzogen wäre oder dass er bei einer Rückkehr in eine die Existenz bedrohende (oder medizinische) Notlage kommen würde.

Zu Spruchpunkt III. hielt das BFA fest, dass beim Beschwerdeführer zwar ein Familienbezug vorliege, dieser jedoch nicht im Sinne des Art 8 EMRK als schützenswert anzusehen sei.

Mit Verfahrensanordnung vom 14.06.2019 wurde dem Beschwerdeführer ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

4.       Mit Schriftsatz vom 06.07.2019 wurde der belangten Behörde das Vollmachtverhältnis von RA Mag. Dr. Bernhard Rosenkranz bekanntgegeben und gleichzeitig gegen den ergangenen Bescheid vom 13.06.2019 fristgerecht vollumfängliche Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben.

In der Beschwerde wurde ausgeführt, dass die Fluchtgründe des Beschwerdeführers so umfangreich seien, dass es für ihn schwierig sei diese chronologisch zu erzählen. Der Beschwerdeführer habe in den Krisengebieten lediglich geholfen, er sei politisch tätig, jedoch sei er kein Kämpfer. In den Gebieten, in welchen sich der Beschwerdeführer aufgehalten habe, würden die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPS) kämpfen; diese seien jedoch nicht Teil der PKK (dies gehe auch aus dem der Behörde mit der Beschwerde übermittelten Bericht „Country Policy and Information Note“ vom August 2018 hervor). Aus dem Vorgehen der Polizei gegen den Beschwerdeführer und dass seine Wohnung in XXXX gestürmt worden sei, könne nicht geschlossen werden, dass der Beschwerdeführer im Krisengebiet als bewaffneter Kämpfer teilgenommen habe. Der Beschwerdeführer habe die Wohnung mit einem Freund geteilt, welcher verdächtigt wurde im Krisengebiet gekämpft zu haben. XXXX habe zu diesem Zeitpunkt auch gesagt, dass der Beschwerdeführer von einer Drohne aufgenommen worden sei. Nur weil sich der Beschwerdeführer im Krisengebiet aufgehalten habe, stehe er im Generalverdacht sich an Kämpfen der YPS beteiligt zu haben. Der Beschwerdeführer habe seinen Antrag nicht nur damit begründet, dass er HDP-Mitglied sei, sondern auch damit, dass er im Krisengebiet gewesen sei. Die Behörde sei fälschlich davon ausgegangen, dass er im Krisengebiet als Kämpfer eingesetzt gewesen sei. Der Beschwerdeführer sei entgegen der Ansicht der Behörde auch nicht legal mit seinem echten Reisepass ausgereist. Im Falle einer Abschiebung müsse der Beschwerdeführer mit einem Verfahren wegen terroristischer Aktivitäten und mit einer Haftstrafe rechnen sowie auch eine unmenschliche Behandlung oder Folter in den türkischen Gefängnissen fürchten.

5.       Mit Schriftsatz vom 18.01.2021 wurde dem Bundesverwaltungsgericht das Vollmachtverhältnis von RAe Dr. Max Kapferer, Dr. Thomas Lechner und Dr. Martin Dellasega bekanntgegeben.

Mit Schriftsatz vom 27.01.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Fristsetzungsantrag des nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertreters des Beschwerdeführers ein.

Begründend wurde ausgeführt, dass gegen den Bescheid des BFA vom 13.06.2019 am 06.07.2019 Beschwerde erhoben wurde und damit die sechsmonatige Entscheidungsfrist bereits abgelaufen sei.

Mit Schriftsatz vom 17.02.2021 erfolgte seitens des rechtsfreundlichen Vertreters eine Urkundenvorlage zur Vorbereitung der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Vorgelegt wurde Antrag auf Aufnahme in die HDP vom XXXX 2013 in Kopie sowie eine Karte für Wahlhelfer und einer Liste für Wahlhelfer (vom XXXX 2015) und ein Dankesschreiben der HDP vom XXXX 2017 im Original. Die Originaldokumente seien dem Beschwerdeführer von einem Sprecher der HDP im XXXX 2020 zugeschickt worden. Des Weiteren wurden vorgelegt der Nachweis über die bestandene Integrationsprüfung A2 (vom XXXX 2020) und eine Einstellungszusage des „ XXXX “ XXXX . Ferner noch die Zustimmungserklärung des Beschwerdeführers betreffend Erhebungen im Heimatland durch das Gericht. Ausgeführt wurde noch, dass der Beschwerdeführer am XXXX 2015 und XXXX 2015 als Wahlhelfer der HDP in XXXX ( XXXX ) tätig gewesen sei und eine Kopie der Liste für Wahlhelfer vom XXXX 2015, sowie eine Karte für Wahlhelfer vorliege. Für die Teilnahme am Verfassungsreferendum habe er am XXXX 2017 ein Dankesschreiben erhalten.

Am 19.02.2021 fand vor dem erkennenden Gericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, zu welcher die Parteien ordnungsgemäß geladen wurden. Im Rahmen der Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt, neuerlich seine Ausreisegründe darzulegen. Mit der Ladung wurden dem Beschwerdeführer die Länderfeststellungen der Türkei (LIB Stand 27.01.2021) übermittelt und dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt bis zur Verhandlung dazu Stellung zu nehmen.

Mit Schriftsatz des rechtsfreundlichen Vertreters des Beschwerdeführers vom 05.03.2021 langte eine Stellungnahme zu den übermittelten aktuellen Länderberichten bei Gericht ein.

Mit Schriftsatz vom 02.04.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerdeergänzung ein, in welcher auf einen ORF Bericht vom 17.03.2021 Bezug genommen wird, dass die Türkei planen würde, die HDP zu verbieten. Dadurch sei der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer noch größeren Gefährdung ausgesetzt.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Sachverhalt:

1.1.    Feststellungen zur Person:

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer heißt XXXX und ist am XXXX in XXXX ( XXXX ) in der Türkei geboren.

Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger der Türkei, gehört der Volksgruppe der Kurden an und bekennt sich zum moslemischen Glauben mit der Glaubensrichtung Sunnit. Dass sich der Beschwerdeführer nunmehr zu keinem Glauben mehr bekennt, konnte hingegen nicht festgestellt werden. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Die Eltern und die beiden Brüder des Beschwerdeführers leben noch in der Türkei. Seine Eltern leben in XXXX ( XXXX ), seine beiden Brüder leben in XXXX , wo auch der Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise gelebt hat. Der Beschwerdeführer steht in Kontakt zu seiner Familie in der Türkei.

Der Vater des Beschwerdeführers betreibt eine Viehwirtschaft und verfügt über Ländereien in der Türkei, von welcher die Familie lebt. Sein Vater besitzt in XXXX weiters ein Haus und eine Wohnung. Seine beiden Brüder gehen einer Arbeit nach und sind selbsterhaltungsfähig. Ein Bruder arbeitet als Koch, der andere hat die Schule abgeschlossen und arbeitet in einer Speisefabrik. Bei finanziellen Problemen werden die Eltern auch von den Brüdern des Beschwerdeführers unterstützt.

Der Beschwerdeführer hat in XXXX ( XXXX ) acht Jahre lang die Grundschule besucht. Im Jahr 2005 ist er nach XXXX gezogen. Dort hat er zwei Jahre lang eine höhere Schule besucht, diese jedoch nicht abgeschlossen. Des Weiteren hat der Beschwerdeführer in XXXX eine Lehre als Koch im XXXX 2016 abgeschlossen und verfügt über ein entsprechendes Diplom. Der Beschwerdeführer hat in der Türkei mehrere Jahre als Koch gearbeitet und seinen Unterhalt selbst bestritten.

In Österreich lebt die Schwester des Beschwerdeführers namens XXXX , geb. XXXX , mit ihrem Ehemann XXXX , geb. XXXX XXXX in XXXX . Ferne leben noch vier weitere Onkel des Beschwerdeführers XXXX in XXXX : XXXX , geb. XXXX , XXXX geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX und XXXX , geb. XXXX . Alle vier Onkel besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft. Darüber hinaus lebt noch ein sehr weitschichtiger Verwandter des Beschwerdeführers namens XXXX geb. XXXX , in XXXX . Der Beschwerdeführer hat derzeit zu seiner Schwester und zu seinem Verwandten XXXX Kontakt, zu den Onkeln hat er hingegen keinen Kontakt. Auch sein Cousin XXXX hält sich seit 2020 in Österreich auf. Er ist illegal nach Österreich gereist und hat ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Sein Antrag wurde mit Entscheidung vom XXXX 2021 im Beschwerdeverfahren durch das Bundesverwaltungsgericht abgewiesen.

Der Beschwerdeführer reiste am XXXX 2017 unter Verwendung eines gefälschten bulgarischen Reisepasses über den Flughafen XXXX XXXX aus XXXX in das österreichische Bundesgebiet ein.

Der Beschwerdeführer wurde am XXXX 2017 in Deutschland von der PI XXXX einer Verkehrskontrolle unterzogen. Dabei legte er den deutschen Polizisten einen gefälschten bulgarischen Reisepass (Nr. XXXX ), einen gefälschten bulgarischen Führerschein und eine gefälschte bulgarische ID-Karte lautend auf den Namen XXXX , geb. XXXX , vor. Von den deutschen Behörden wurde in weiterer Folge eine Zurückschiebung verfügt und gegen den Beschwerdeführer ein befristetes Einreiseverbot bis zum XXXX 2020 erlassen. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer am XXXX 2017 von der PI XXXX eine Strafverfügung in der Höhe von € 1.500,- wegen Urkundenfälschung erlassen.

Am XXXX 2017 wurde der Beschwerdeführer der LPD XXXX übergeben. Erst zu diesem Zeitpunkt stellte der Beschwerdeführer gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer lebt seit seiner Einreise in Österreich überwiegend von der österreichischen Grundversorgung. Lediglich im Zeitraum von XXXX 2019 bis XXXX 2019 war der Beschwerdeführer nicht in Grundversorgung, da er in dieser Zeit bei seiner Schwester in XXXX gelebt hat. Seit XXXX 2019 lebt der Beschwerdeführer allein an der Adresse XXXX . Er bezieht die volle Leistung aus der Grundversorgung.

Der Beschwerdeführer ist seit mehr als zwei Jahren Mitglied eines kurdischen Kulturvereins in Österreich. Eine Funktion hat er in diesem Verein nicht inne.

Der Beschwerdeführer ist bisher in Österreich noch keiner sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgegangen, verfügt jedoch über eine Einstellungszusage des „ XXXX “ XXXX als Küchenhilfe.

Er verfügt über deutsche Sprachnachweise auf dem Niveau A2. Der Beschwerdeführer spricht auf einfachem Niveau die deutsche Sprache.

Der Beschwerdeführer verfügt über familiäre und soziale Anknüpfungspunkte in Österreich. Es wird jedoch von keiner besonderen Schutzwürdigkeit zu den Verwandten und Freunden in Österreich ausgegangen, weil zum einen kein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis besteht, zumal der Beschwerdeführer von der österreichischen Grundversorgung lebt, und eine besonders enge Beziehung zu den in Österreich lebenden Personen nicht vorgebracht oder nachgewiesen wurde.

Es kann insgesamt von keiner berücksichtigungswürdigen Integration des Beschwerdeführers in Österreich ausgegangen werden. Der Beschwerdeführer verfügt über eine stärkere Bindung zur Türkei, wo auch der Großteil seiner Familie aufhältig ist und er bis zu seiner Einreise in Österreich im XXXX 2017 gelebt hat und seinen Unterhalt durch eigene Arbeit finanzierte.

Der Beschwerdeführer leidet zwar an psychischen Problemen, jedoch stellen diese keine schwere oder lebensbedrohliche Erkrankung dar. Er ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2.    Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsland Türkei asylrelevante Schwierigkeiten aufgrund seiner politischen Ansichten, der Religion, der Volksgruppenzugehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hatte.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Türkei einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Fest steht, dass der Beschwerdeführer ein einfaches Mitglied der HDP ist.

Das Vorbringen in der Türkei einer staatlichen Verfolgung durch die Polizei aufgrund der Tätigkeit und Mitgliedshaft für die bzw in der HDP sowie der humanitären Hilfe in den kurdischen Krisengebieten ausgesetzt zu sein, war hingegen nicht glaubhaft.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung der EMRK bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit mit sich bringen würde.

1.3.    Zur aktuellen Lage in der Türkei wird auf folgende Feststellungen verwiesen (Länderinformation der Staatendokumentation Türkei aus dem COI-CMS, 27.01.2021):

COVID-19

Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Mit Jahresende 2020 wurden 2,18 Mio. Corona-Fälle und rund 21.000 Tote in der Türkei verzeichnet (JHU 30.12.2020).

Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Fahrettin Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. XXXX Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis XXXX Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020). Das kam für den türkischen Ärzteverband nicht überraschend, der seit Monaten davor warnt, dass die bisherigen Zahlen der Regierung das Ausmaß der Ausbreitung verschleiern und dass der Mangel an Transparenz zu dem Anstieg beiträgt. Der Ärzteverband behauptet, dass die Zahlen des Ministeriums immer noch zu niedrig seien, verglichen mit ihrer eigenen Schätzung von mindestens 50.000 neuen Infektionen pro Tag. Die Krankenhäuser des Landes sind laut der Vorsitzenden des Ärzteverbandes, Sebnem Korur Fincanci, überlastet, das medizinische Personal ist ausgebrannt und die Contract-Tracer, die einst dafür bekannt waren, den Ausbruch unter Kontrolle zu halten, haben Schwierigkeiten, die Übertragungen zu verfolgen (AP 29.11.2020).

Beginnend mit 1.12.2020 ist ein Lockdown in Kraft getreten, welcher Ausgangssperren unter der Woche von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr umfasst. An den Wochenenden herrschte eine totale Ausgangssperre von Freitag 21.00 Uhr bis Montag 5.00 Uhr. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Auf öffentlichen Plätzen wurde ein Rauchverbot auch im Freien eingeführt. Das Verbot zur Durchführung von öffentlichen Veranstaltungen durch staatliche und staatsnahe Organisationen sowie von Verbänden bleibt aufrecht. Sportveranstaltungen werden ohne Zuschauer durchgeführt. An Beerdigungen und Hochzeiten dürfen maximal 30 Personen teilnehmen. Feiern und Zusammenkünfte in häuslicher Umgebung sind untersagt. Gastronomische Einrichtungen bleiben tagsüber nur für Lieferservice geöffnet. Einkaufszentren und Lebensmittelgeschäfte dürfen nur zwischen 10.00 Uhr und 20.00 Uhr geöffnet haben. Beim Betreten von Einkaufszentren wird der sogenannten HES (Hayat Eve Sigar) - Code verlangt, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren. Beginnend mit 5.11.2020 müssen kulturelle Einrichtungen, wie Theater, ab 22.00 Uhr geschlossen sein. Kinos bleiben bis auf weiteres geschlossen. Alle Schulen inklusive Vorschulen sind geschlossen und werden bis auf weiteres nur mehr im Fernunterricht fortgeführt. Jugendliche unter 20 Jahren dürfen nur zwischen 13.00 Uhr und 16.00 Uhr die Wohnung verlassen. Die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln ist Ihnen untersagt. Ältere Menschen über 65 Jahre dürfen tagsüber nur während bestimmter Uhrzeiten (10.00 Uhr – 13.00 Uhr) die Wohnungen verlassen. Auch für diese Personengruppe ist die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln verboten (WKO 21.1.2021).

Ab 28.12.2020 müssen alle Personen, die mit dem Flugzeug in die Türkei reisen, einen Nachweis erbringen, dass sie innerhalb von 72 Stunden vor der Einreise mit einem PCR-Test negativ auf COVID-19 getestet wurden. Einreisende ohne einen negativen Test müssen entweder an ihrer gemeldeten Adresse in der Türkei oder in einer von der Regierung bezeichneten Einrichtung in Quarantäne gehen. Alle Personen, die über die Land- oder Seegrenzen in die Türkei einreisen, unterliegen ab dem 30.12.2020 den gleichen Anforderungen. Die Richtlinie wird mindestens bis zum 1.3.2021 in Kraft bleiben (Garda World 25.12.2020).

Am 30.12.2020 wurde das bis 17.1.2021 gültige Entlassungsverbot per Präsidialdekret um weitere zwei Monate verlängert (Hürriyet 30.12.2020).

In der zweiten Jänner-Woche 2021 ist mit den Impfungen begonnen worden. Zum Einsatz kommt das chinesische Vakzin der Firma Sinovac, dem am 13.1.2021 nach einem Eilverfahren eine Notzulassung erteilt wurde. Die Prüfung sei noch nicht abgeschlossen, sie werde parallel zur Impfkampagne fortgesetzt, teilten die Behörden mit. Prioritär werden die 1,1 Mio. Mitarbeiter des Gesundheitswesens sowie Menschen über 65 Jahren geimpft. Laut dem Generalsekretär der Ärztevereinigung werde die landesweite Impfkampagne voraussichtlich im Juli 2021 angeschlossen werden. Bei Lieferverzögerungen könne sie auch bis XXXX dauern. Türkische Mediziner haben infolge der Ergebnisse in Brasilien und Indonesien ihre Zweifel an der Wirksamkeit des Impfstoffs geäußert. Die türkische Rechtsmedizinerin und Vorsitzende der Ärztevereinigung Sebnem Korur Fincanci sagte, die Sicherheit des Impfstoffs stehe jedoch außer Frage und appellierte, sich impfen zu lassen. Als Folge der intransparenten Politik will sich allerdings nur jeder zweite impfen lassen (FAZ 14.1.2021).

Quellen:

?        AP - Associated Press (29.11.2020): Turkey’s new virus figures confirm experts' worst fears, https://apnews.com/article/turkey-europe-coronavirus-pandemic-recep-tayyip-erdogan-07b8e18fa2268b847e84cd9702e9a895, Zugriff 11.1.2021

?        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, https://www.ecoi.net/en/file/local/2041720/briefingnotes-kw49-2020.pdf, Zugriff 11.1.2021

?        DS - Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news, Zugriff 30.12.2020

?        Hürriyet (30.12.2020): Entlassungsverbot der Türkei erneut verlängert, https://www.hurriyet.de/news_entlassungsverbot-der-tuerkei-erneut-verlaengert_143543902.html, Zugriff 30.12.2020

?        FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.1.2021): Türkei beginnt mit Impfkampagne, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tuerkei-impfung-gegen-corona-beginnt-mit-china-impfstoff-sinovac-17146041.html, Zugriff 15.1.2021

?        FNS - Friedrich-Naumann-Stiftung (16.3.2020): Türkei Bulletin 5-2020, http://shop.freiheit.org/download/P2@876/248113/05-2020-T%C3%Bcrkei-Bulletin.pdf, Zugriff 30.12.2020

?        Garda World (25.12.2020): Turkey: Government to tighten COVID-related international entry restrictions effective Dec. 28; flights with Netherlands resume /update 30, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/421926/turkey-government-to-tighten-covid-related-international-entry-restrictions-effective-dec-28-flights-with-netherlands-resume-update-30, Zugriff 11.1.2020

?        Hürriyet (30.12.2020): Entlassungsverbot der Türkei erneut verlängert, https://www.hurriyet.de/news_entlassungsverbot-der-tuerkei-erneut-verlaengert_143543902.html, Zugriff 30.12.2020

?        JHU - Johns Hopkins University & Medicine (30.12.2020): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 30.12.2020

?        WKO - Wirtschaftskammer Österreich (21.1.2020): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben, Zugriff 25.1.2021

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020), wobei das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wurde (DFAT 10.9.2020; vgl. bpb 9.7.2018).

Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten. Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in XXXX die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in XXXX lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in XXXX ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).

Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis XXXX 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).

Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand XXXX XXXX 2020), im Falle von Selahattin Demirta? trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 6.10.2020). Nach dem XXXX des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019).

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020). Mit Stand Oktober 2020 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom XXXX 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister, hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hatten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 6.10.2020; vgl. bianet 2.10.2020). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Da keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 1.10.2020

?        Anadolu – Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins XXXX ’s mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins- XXXX -s-mayoral-poll/1513613, Zugriff 20.10.2020

?        bianet (2.10.2020): Co-Mayor Ayhan Bilgen arrested, trustee appointed to Kars Municipality, http://bianet.org/english/politics/231997-co-mayor-ayhan-bilgen-arrested-trustee-appointed-to-kars-municipality, Zugriff 5.10.2020

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?        EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 9.10.2020

?        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in XXXX , https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in- XXXX -16250529.html, Zugriff 20.10.2020

?        HDN – Hürriyet Daily News (27.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen, Ergebnisse Parlamentswahlen, https://web.archive.org/web/20180730173700/http://www.hurriyetdailynews.com:80/wahlen-turkei-2018, Zugriff 20.10.2020

?        HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 20.10.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHP-Kandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in XXXX , https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer-erdogans-akp-chp-kandidat-imamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in- XXXX -ld.1490981, Zugriff 20.10.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 25.1.2021

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?        OSCE/ODIHR – Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (21.9.2018): Turkey, Early Presidential and Parliamentary Elections, 24 June 2018: Final Report,https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/397046?download=true, 20.10.2020

?        Standard – Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in XXXX , https://derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholung-in- XXXX -in-Fuehrungin- XXXX , Zugriff 20.10.2020

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?        ZO - Zeit Online (22.12.2020): Menschenrechtshof fordert Freilassung von türkischem Oppositionellen, https://www.zeit.de/politik/2020-12/selahattin-demirtas-europaeischer-gerichtshof-menschenrechte-tuerkei, Zugriff 28.12.2020

?        ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.10.2020

Sicherheitslage

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Die Türkei musste von Sommer 2015 bis XXXX 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vgl. SD 29.6.2016, AJ 12.12.2016).

Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Dort sind die Spannungen besonders groß und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen (EDA 28.12.2020). Die Regierung setzte die inneren und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und in Syrien sowie innerhalb des Landes fort (USDOS 24.6.2020; vgl. EC 6.10.2020). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020). In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen (EDA 28.12.2020).

Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (?HD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (?HD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (?HD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (?HD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (?HD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe fast 5.200 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 10.12.2020. Im Jahr 2020 wurden bis zum 10.12.2020 311 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten XXXX bis September 2020 (ICG 20.12.2020). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 8.10.2020). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen XXXX , ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, XXXX , Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, XXXX , Batman, Bitlis, XXXX , Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder "zeitweilige Sicherheitszonen" eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, XXXX , Urfa, Hakkâri, Batman und A?r? (AA 28.12.2020a).

Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020).

Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 28.12.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.12.2020a): Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/tuerkeisicherheit/201962#content_1, Zugriff 28.12.2020

?        AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsr

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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