TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/14 L503 2162363-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.04.2021
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Entscheidungsdatum

14.04.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


L503 2162363-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.5.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 1.3.2021, zu Recht erkannt:

A.) I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs 1 AsylG, § 8 Abs 1 AsylG, § 57 AsylG, § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs 2 Z 2, § 52 Abs 9 FPG iVm § 46 FPG als unbegründet abgewiesen.

II. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass die Frist für eine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit vier Wochen ab Rechtskraft dieses Erkenntnisses festgelegt wird.

B.) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden kurz: "BF"), ein irakischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 17.7.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Zu seinen Fluchtgründen gab der BF in seiner Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Folgetag an, dass er vor den Kämpfern des IS flüchte. Im Falle einer Rückkehr in seine Heimat befürchte er, von IS-Kämpfern umgebracht zu werden. Er habe für die irakische Regierung gearbeitet. Der IS akzeptiere ihren Staat nicht und habe einen Scharia-Staat gegründet.

2. Am 11.9.2015 wurde der BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden kurz: "BFA") zu seiner Ausreise aus dem Irak und seinem Reiseweg nach Österreich niederschriftlich einvernommen.

3. Am 27.4.2017 wurde der BF neuerlich durch das BFA niederschriftlich einvernommen. Zu seiner Person und zu seinem bisherigen Leben im Irak gab der BF dabei an, dass er arabischer Sunnit sei. Er sei ledig und habe mit seinen Eltern in einem Haus im Kleinbezirk XXXX in Mossul gelebt. Der BF habe Geologie an der Universität Mossul studiert, anschließend sei er als Autohändler und Großhändler für Lebensmittel tätig gewesen. Zuletzt habe er bei der höheren Wahlkommission gearbeitet. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF zusammengefasst an, dass 2014 der IS in Mossul einmarschiert sei. Ende Mai, Anfang Juni 2015 habe sich verbreitet, dass sie (gemeint: die Mitarbeiter der Wahlkommission) sich entschuldigen und Reue zeigen sollten, dass sie daran schuld seien, es so weit gebracht hätten, es der Regierung ermöglicht zu haben, was sie tun. Am 5.6. habe der BF in der Früh eine Nachricht vom Sicherheitsbeauftragten der Wahlkommission bekommen. Sie sollten ihre Häuser verlassen, da sie drei von ihnen in der Nacht zuvor entführt hätten. Der BF habe zwei Stunden später das Haus verlassen und sei zu einem Freund gegangen. In derselben Nacht seien Leute des IS gekommen und hätten seinen Vater nach ihm gefragt. Sie hätten das gesamte Haus durchsucht und viele Sachen mitgenommen. Weiters hätten sie das Auto des BF durchsucht und mitgenommen. Sie hätten gesagt, dass sein Eigentum jetzt dem IS gehöre und sein Tod legitimiert sei. Seinem Vater hätten sie einen Vortrag gehalten, warum er es zulasse, dass der BF bei der Wahlkommission arbeite und die schlechte Arbeit der Regierung unterstütze. Sie hätten ihm gesagt, dass er sie benachrichtigen müsse, sobald der BF nach Hause komme. Am nächsten Tag habe sein Vater ihn angerufen und ihm erzählt, dass der IS bei ihnen zuhause gewesen sei und nach ihm gesucht habe. Er solle möglichst schnell Mossul verlassen. Der BF habe Mossul – und sein Heimatland – am 10.6.2015 verlassen.

Der BF legte im Verfahren vor der belangten Behörde diverse irakische Dokumente (Reisepass, Personalausweis, Staatsbürgerschaftsnachweis, Führerschein, Mitgliederausweis der Geologenkammer, Dienstausweis der Wahlkommission), ein Zeugnis der Universität Mossul samt englischer Übersetzung, Urkunden der Universität Glasgow und eine Wohnkarte betreffend seinen Vater, einen Spenderausweis, eine Bestätigung der Caritas vom 9.11.2016 über die Teilnahme an einer "außerordentlichen Spracherwerbsmaßnahme für AsylwerberInnen in Grundversorgung", eine Seminarbestätigung des bfi vom 20.12.2016 über das Seminar "Deutsch lernen für AsylwerberInnen – A1.1." vor.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 31.5.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für seine freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der BF sein Herkunftsland aufgrund einer Verfolgung oder Furcht vor solcher verlassen habe. Seine diesbezüglichen Ausführungen hätten nicht als glaubhaft festgestellt werden können. Es habe ebenso nicht festgestellt werden können, dass dem BF im Fall einer Rückkehr in den Irak Verfolgung drohe. Eine Rückkehr in sein Heimatland sei ihm jedenfalls zumutbar. Der BF weise keine sozialen Bindungen an Österreich auf.

Die persönliche Glaubwürdigkeit des BF sei nicht gegeben, nachdem er bereits in Italien, Deutschland und Finnland jeweils einen Asylantrag gestellt habe und es ihm darum gegangen sei, unter Ausnutzung des Asylrechts sein Studium in Europa fortsetzen zu wollen. Auf seiner ersten Reise habe der BF auch die Identität eines Freundes verwendet und versucht, die Behörden vorsätzlich zu täuschen und sich Asyl in Europa zu erschleichen. Die Angaben des BF im Zusammenhang mit seinem Fluchtvorbringen seien äußerst vage und würden sich lediglich auf Informationen anderer Personen beziehen. Das Fluchtvorbringen des BF stelle sich als konstruiert und nicht plausibel und nachvollziehbar dar. Die Art und Weise, wie der BF von den behaupteten Geschehnissen berichte, lasse eine Distanz zu den Akteuren und situationsspezifischen Aspekten erkennen. Der BF sei nicht in der Lage gewesen, von sich aus Details zu nennen, jegliche konkrete Angabe sei erst durch Hinterfragen zutage gekommen.

5. Mit Schriftsatz vom 13.6.2017 erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 31.5.2017. Darin brachte er nach Darstellung des Fluchtvorbringens zusammengefasst vor, dass die Behörde ihre Ermittlungspflichten missachtet und es unterlassen habe, genauere Untersuchungen zum Vorbringen des BF anzustellen. Der BF habe sowohl in der Erstbefragung als auch in der Einvernahme vor der belangten Behörde seine asylrelevante Verfolgung geltend gemacht. Der BF sei Mitarbeiter bei der höheren Wahlkommission gewesen und habe somit für die Regierung gearbeitet, weshalb er vom IS im Irak verfolgt worden sei. Die belangte Behörde habe es gänzlich unterlassen, Länderberichte zum Vorbringen des BF einzuholen. Die Länderberichte seien teilweise veraltet und würden sich nur unzureichend mit dem konkreten Fluchtvorbringen des BF (der Situation betreffend die Aktivitäten des IS und dessen Vorgehensweise bei regierungsfreundlichen Bürgern) befassen und widerspreche die belangte Behörde in einzelnen Argumentationslinien direkt dem in den von dieser selbst vorgelegten Länderberichten Widergegebenen. Der BF sei in der Einvernahme angehalten worden, kurze Antworten zu geben. Auch hieraus ergebe sich ein grober Verfahrensfehler. Die belangte Behörde habe eine fehlerhafte Beweiswürdigung vorgenommen. Dass die belangte Behörde aus den vom BF bereits in drei europäischen Ländern gestellten Asylanträgen schließe, dass dieser Jahre später aus genau denselben Gründen einen Asylantrag stelle, könne nicht nachvollzogen werden. Der BF habe seine Heimat verlassen müssen, da ihn Mitglieder des IS aufgrund seiner Arbeit für die Regierung gesucht, verfolgt und mit dem Tod bedroht hätten. Als der BF die Nachricht bekomme habe, dass nun jedermann, der für die Regierung gearbeitet habe, verfolgt werde und bereits zwei seiner Freunde von Mitgliedern des IS entführt worden seien, habe er sich zu fliehen entschieden. Da der Vater des BF nicht über dauernden Internetzugang verfüge, dort überwiegend kein Netzempfang herrsche und es in dieser Gegend überdies äußerst gefährlich sei, ein Handy zu besitzen, sei es dessen rascheste und einzige Möglichkeit gewesen, am nächsten Morgen in einem Internetcafé mit seinem Sohn in Kontakt zu treten und diesen zu warnen.

Die irakische Regierung sei weder schutzwillig noch -fähig. Im Gegenteil werde er aufgrund seines langjährigen und bis zuletzt aufrechten Aufenthaltes in Mossul und der ihm daher von der Regierung unterstellten Arbeit für den IS vielmehr auch von der Regierung gesucht, weshalb diese wohl kaum bereit sei, ihm Schutz zu bieten. Die Sicherheitslage im Irak sei äußerst prekär und leide die Zivilbevölkerung neben dem Terror des IS auch unter dem zunehmenden Einfluss der schiitischen Milizen als Zielscheibe ihrer breit angelegten systematischen Menschenrechtsverletzungen. Auf – im Schriftsatz wiedergegebene – Länderberichte wurde hingewiesen.

6. Am 23.6.2017 wurde der Akt dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

7. Mit Schreiben vom 11.12.2020 wurde dem Bundesverwaltungsgericht die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses zur bisher bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation angezeigt.

8. Mit Schreiben vom 25.2.2021 wurde dem Bundesverwaltungsgericht die Bevollmächtigung der im Spruch angeführten Rechtsberatungsorganisation bekanntgegeben.

9. Am 1.3.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des BF im Beisein des BF und dessen Rechtsvertreter eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Ein Behördenvertreter ist zur Verhandlung entschuldigt nicht erschienen.

Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA für den Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020), der Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 sowie der Bericht von IOM Iraq, COVID-19 Response Overview #7, 7 – 28 December 2020, wurden vom erkennenden Gericht in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingebracht. Nach zusammengefasster Darstellung des Inhalts der Länderberichte wurde dem BF die Möglichkeit eingeräumt, dazu eine Stellungnahme zu erstatten. Der BF gab zu den Länderberichten an, dass gestern oder vorgestern im Kanal 2 des österreichischen Fernsehens ein Bericht über den Irak veröffentlicht worden sei. Es seien die Zeiten zwischen dem Jahr 2003 und dem Jahr 2017 dargestellt worden, wie das Land Irak zerstört worden sei. Der BF wolle trotzdem betonen, dass alle Berichte, die über den Irak verfasst worden seien, nicht das tatsächliche Leben widerspiegeln würden. Er sei ein Einheimischer aus dem Irak und könne bestätigen, dass die Sicherheit im Irak fehle.

Der BF legte in der mündlichen Verhandlung eine irakische Sterbeurkunde seines Vaters samt deutscher Übersetzung, eine Einstellungszusage und einen Arbeitsvorvertrag sowie mehrere Empfehlungsschreiben vor.

10. Mit Schreiben des erkennenden Gerichtes vom 30.3.2021 wurden dem BF die im gegenständlichen Verfahren relevanten Abschnitte aus dem Bericht von EASO zum Irak (Sicherheitslage – Informationsbericht über das Herkunftsland) von Oktober 2020 sowie den "UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen" von Mai 2019, das Kartenmaterial iMMAP, Humanitarian Access Response: Explosive Hazards Risk Level on Roads in Ninewa Governorate 1-28 February 2021 und iMMAP, Humanitarian Access Response: Explosive Hazards Risk Level on Roads in Erbil Governorate 1-28 February 2021 sowie Informationen zum Rückkehr- und Reintegrationsprogramm ERRIN übermittelt und wurde ihm die Gelegenheit gegeben, dazu eine Stellungnahme zu erstatten.

11. Am 12.4.2021 langte eine Stellungnahme der Vertretung des BF zu den vom Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 30.3.2021 ergänzend in das Verfahren eingebrachten Länderberichten ein.

In seiner Stellungnahme monierte der BF eingangs, die in das Verfahren eingebrachten Länderinformationen würden die aktuelle Lage im Irak vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie nicht berücksichtigen. Dass Länder wie der Irak, die sich in einer Konfliktsituation befinden, besonders von der Pandemie betroffen seien, sei notorisch. Es würden daher „zur Beurteilung der Rückkehrsituation relevante Berichte zu den konkreten Auswirkungen der Covid-19-Pandemie im Irak“ fehlen. Dies insbesondere, da sich die Covid-19-Pandemie „massiv auf die politische und wirtschaftliche Lage im Irak auswirke.“

Im Übrigen betonte der BF unter Hinweis auf näher genannte Quellen, dass die Sicherheitslage im Irak immer noch instabil und hochgradig alarmierend sei. Insbesondere würden die Milizen, die im Kampf gegen den IS mobilisiert wurden, eine erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung darstellen. Die steigenden Spannungen zwischen den USA und dem Iran und ihre Aktionen innerhalb des Iraks hätten die Sicherheitslage des Landes weiter verkompliziert und würden in hohem Maße die Stabilität des Landes gefährden. Trotz der territorialen Niederlage des IS im Dezember 2017 bleibe dieser weiterhin der Hauptverantwortliche für Gewalt und Gräueltaten im Irak. Zitiert wurden dabei insbesondere auch das vom BVwG bereits im Rahmen der Beschwerdeverhandlung in das Verfahren eingebrachte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom März 2020 sowie der Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom März 2020. Der BF wäre im Falle einer Rückkehr einer erheblichen Gefahr für sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit ausgesetzt, zumal die Zivilbevölkerung nach wie vor im ganzen Land durch den IS, die Milizen und verschiedene militärische Auseinandersetzungen bedroht werde.

Abschließend wurde nochmals auf die aktuelle COVID-19-Pandemie im Irak verwiesen; im Falle einer Rückkehr des BF sei von einer ernsthaften Gesundheitsgefährdung auszugehen, „da eine adäquate Behandlung im Heimatland nicht mit Sicherheit zur Verfügung stehen würde.“ Dies gelte nicht nur für COVID-19, sondern für jegliche medizinische Behandlung, da das irakische Gesundheitssystem derart erodiert sei, dass auch standardmäßige Behandlungen aufgrund der Pandemie nicht möglich sein würden. Zudem nütze der IS das durch die Pandemie entstehende Sicherheitsvakuum aus, um erneut zu erstarken; dies bedeute eine Zunahme an Anschlägen gegenüber der Zivilbevölkerung und somit auch eine große Gefahr für das Leben des BF. Es werde daher beantragt, den in der Beschwerde gestellten Anträgen stattzugeben und dem BF im Falle einer Abweisung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. jedenfalls subsidiären Schutz gemäß § 8 AsylG zuzuerkennen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF werden folgende Feststellungen getroffen:

Der BF trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am dort angeführten Datum geboren. Seine Identität steht fest. Der BF ist Staatsangehöriger des Irak und der Volksgruppe der Araber zugehörig. Er bekennt sich zum sunnitischen Islam. Die Muttersprache des BF ist Arabisch. Der BF ist gesund.

Der BF wurde in Erbil geboren. Im Kindesalter lebte der BF mit seinen Eltern für einige Jahre in Großbritannien, wo sein Vater einen Studienaufenthalt absolvierte. Zwischen 1987 und 1990 kehrte die Familie nach Erbil zurück. Später zog die Familie nach Mossul, Gouvernement Ninewa. Der BF besuchte dort zwölf Jahre lang die Schule und erlangte den Schulabschluss. Anschließend studierte er vier Jahr lang Geologie an der Universität Mossul und erwarb im Jahr 2007 den akademischen Grad eines Bachelors. Danach versuchte der BF, durch Stellung von insgesamt drei Asylanträgen im Jahr 2008 – konkret in Italien, Deutschland und Finnland – einen Aufenthaltstitel in einem europäischen Staat zu erlangen, um dort seine Ausbildung fortzusetzen. Nach seiner Zurückschiebung aus Finnland nach Italien kehrte der BF nach Mossul zurück. Dort war er zunächst als Inhaber eines Geschäfts (Großhandel für Lebensmittel) sowie ab 2011 als Autohändler tätig. Zuletzt arbeitete der BF als Angestellter bei der höheren Wahlkommission im Mossuler Bezirk XXXX .

Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Er hat zwei Brüder und eine Schwester. Der Vater des BF ist im Jahr 2018 verstorben. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Vater des BF vorsätzlich durch einen Anhänger des IS überfahren wurde. Es kann weiters nicht festgestellt werden, dass ein Bruder des BF aufgrund eines solchen Vorfalls vermisst ist oder sich versteckt hält. Die Familie des BF lebt weiterhin in Mossul. Die Mutter des BF bezieht die Rente seines Vaters. Die Schwester des BF ist verheiratet; ihr Ehegatte arbeitet als Lehrer. Ein Bruder des BF leidet an einer geistigen Behinderung und wohnt, wie die Mutter des BF, bei seiner Schwester. Der BF steht mit seiner Schwester in Kontakt.

Der BF reiste im Juni 2015 aus dem Irak aus.

Der BF gehörte zu keinem Zeitpunkt dem IS an oder unterstützte diesen; ebenso finden sich unter seinen Familienangehörigen keine Anhänger oder Unterstützer des IS. Dem BF wurde niemals unterstellt, dass er dem IS angehöre oder diesen unterstütze.

1.2. Zu den Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen des BF werden folgende Feststellungen getroffen:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt wäre.

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung durch verbliebene Anhänger des IS oder aufgrund unterstellter IS-Anhängerschaft oder -Unterstützung ausgesetzt wäre. Dem BF wird im Falle einer Rückkehr in den Irak nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Anhängerschaft bzw. Unterstützung des IS oder ein sonstiges Naheverhältnis zum IS vor der Ausreise unterstellt werden.

Die Gefahr einer im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgung des BF aufgrund seines sunnitischen Glaubensbekenntnisses kann nicht festgestellt werden.

Es kann auch keine sonstige Gefahr einer Verfolgung des BF im Falle seiner Rückkehr in den Irak festgestellt werden.

1.3. Zur Lage des BF im Falle einer Rückkehr:

Es kann unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden, dass eine Abschiebung des BF in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK bedeuten oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit mit sich bringen würde.

Es kann insbesondere nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in den Irak in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden. Der BF ist gesund, arbeitsfähig und mobil und verfügt im Irak über eine zwölfjährige Schulbildung, einen Universitätsabschluss und Berufserfahrung in verschiedenen Bereichen. Es spricht nichts dagegen, dass der BF durch Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit seine notwendigen Lebensbedürfnisse befriedigen könnte. Darüber hinaus verfügt der BF in Mossul über ein soziales Netz in Form seiner dort lebenden Familienangehörigen; der BF steht mit seiner dort lebenden Schwester weiterhin in Kontakt.

Der BF besitzt einen irakischen Reisepass, Personalausweis und Staatsbürgerschaftsnachweis. Die Stadt Mossul ist über den Flughafen Erbil und anschließend die Schnellstraße 2 (via Kalak und Bartella) bzw. über die Ausweichroute Richtung Machmur und die Schnellstraße 80 oder über den Flughafen Bagdad und anschließend die Schnellstraße 1 (via Samarra, Tikrit und Baidschi) erreichbar.

1.4. Zum Privat- und Familienleben des BF in Österreich:

Der BF reiste im Juli 2015 illegal und schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein und hält sich somit seit ca. fünf Jahren und neun Monaten in Österreich auf.

Der BF hat keine Familienangehörigen oder Verwandten in Österreich. Der BF lebt nicht in einer Lebensgemeinschaft. Er wohnt gemeinsam mit zwei weiteren irakischen Staatsangehörigen in einer Mietwohnung in XXXX .

Der BF verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache, die es ihm in der mündlichen Verhandlung erlaubten, auf gestellte Fragen zu seiner persönlichen Lebenssituation auf Deutsch zu antworten. Er nahm im Jahr 2016 an einer "außerordentlichen Spracherwerbsmaßnahme für AsylwerberInnen in Grundversorgung" der Caritas sowie an einem Seminar "Deutsch lernen für AsylwerberInnen – A1.1." des bfi teil. Der BF lernt über das Internet Deutsch. Die Ablegung von Deutschprüfungen wies der BF nicht nach.

Der BF verfügt in Österreich über soziale Anknüpfungspunkte; verfestigte soziale oder freundschaftliche Bindungen zu in Österreich lebenden Personen können nicht festgestellt werden. Der BF legte im Beschwerdeverfahren mehrere Empfehlungsschreiben vor.

Der BF unterstützte in der Vergangenheit einmal wöchentlich eine Einrichtung, in der für Bedürftige gekocht wird. Er beteiligte sich zweimal freiwillig an der Reinigung der Mur und half auch beim Marathon in XXXX mit, indem er den Teilnehmern Trinkwasser überreichte. Während der Coronavirus-Pandemie ging er für einige Personen einkaufen. Er verfügt über einen Plasmaspender-Ausweis. Es kann nicht festgestellt werden, dass sich der BF aktuell in einem Verein bzw. einer sonstigen Organisation oder anderweitig ehrenamtlich engagiert.

Der BF ging während seines Aufenthalts in Österreich bisher keiner Erwerbstätigkeit nach; er steht im Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung. Der BF verfügt über eine Einstellungszusage und einen Arbeitsvorvertrag mit der XXXX für eine Vollzeitbeschäftigung als Arbeiter im Bereich Entsorgung und Reinigung.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten. Vom BF im Bundesgebiet begangene Verwaltungsübertretungen sind nicht aktenkundig.

1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Zur Lage im Irak wird auf das vom Bundesverwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung vom 9.12.2020 in das Verfahren eingebrachte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020), den Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 und den Bericht von IOM Iraq, COVID-19 Response Overview #7, 7 – 28 December 2020 verwiesen, in denen eine Vielzahl von Berichten diverser allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt werden. Insoweit die Berichtslage konkret im gegenständlichen Verfahren relevant ist, wird darauf unten im Rahmen der Beweiswürdigung betreffend die Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen des BF näher eingegangen. Indem sich der BF in der mündlichen Verhandlung (vgl. Verhandlungsschrift S. 11) auf einen Fernsehbeitrag des ORF zum Irak in der Zeit von 2003 bis 2017 bezogen hat, trat er den vom erkennenden Gericht herangezogenen Länderberichten nicht substantiiert entgegen, zumal er zum Inhalt dieses Beitrages nur pauschal ausführte, dass darin gezeigt worden sei, wie das Land zerstört worden sei. Der BF betonte, dass alle Berichte, die über den Irak verfasst worden seien, nicht das tatsächliche Leben widerspiegeln würden, ohne jedoch eine konkrete Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Länderberichte aufzuzeigen. Soweit der BF ausführte, dass im Irak die Sicherheit fehle, ist dem zu entgegnen, dass sich die Länderberichte ausführlich mit der Sicherheitslage und den Akteuren im Irak auseinandersetzen und darauf in der Beweiswürdigung näher eingegangen wird.

Ergänzend wird auf die relevanten Abschnitte aus dem Bericht von EASO zum Irak (Sicherheitslage – Informationsbericht über das Herkunftsland) von Oktober 2020 und den "UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen" von Mai 2019 und das Kartenmaterial iMMAP, Humanitarian Access Response: Explosive Hazards Risk Level on Roads in Ninewa Governorate 1-28 February 2021 und iMMAP, Humanitarian Access Response: Explosive Hazards Risk Level on Roads in Erbil Governorate 1-28 February 2021 verwiesen. Diese Berichte wurden dem BF am 30.3.2021 ergänzend nach der Beschwerdeverhandlung übermittelt und wurde ihm die Gelegenheit gegeben, dazu eine Stellungnahme zu erstatten. In seiner Stellungnahme vom 12.4.2021 (siehe dazu im Detail oben im Verfahrensgang Punkt 11) nahm der BF in keiner Weise konkret Bezug auf auch nur einen dieser Berichte – sodass davon auszugehen ist, dass er diesen Berichten nicht entgegen zu treten vermag -, sondern verwies einerseits anhand verschiedener Berichter auf die immer noch instabile und hochgradig alarmierende Sicherheitslage im Irak, die Bedrohung durch Milizen und (nach wie vor) durch terroristische Akte des IS und andererseits darauf, dass die in das Verfahren eingebrachten Länderinformationen die aktuelle Lage im Irak vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie nicht berücksichtigen würden. Zu letzterem Einwand ist allerdings anzumerken, dass der BF hier übersieht, dass bereits in der Beschwerdeverhandlung vom 1.3.2021 aktuelles Berichtsmaterial konkret zur Covid-19-Situation im Irak in das Verfahren eingebracht worden war (konkret: IOM Iraq, COVID-19 Response Overview #7, 7 – 28 December 2020) und dass der oben erwähnte EASO-Bericht zum Irak sowie das Kartenmaterial iMMAP betreffend sicherheitsrelevante Vorfälle aus einer Zeit stammen, zu der die COVID-19-Pandemie bereits mehrere Monate lang voll im Gang war. Im Übrigen sei auf die ausführliche Würdigung der relevanten Berichte zur (Sicherheits-)Lage im Irak im Rahmen der Beweiswürdigung verwiesen.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person des BF:

Die zur Identität des BF getroffenen Feststellungen beruhen einerseits auf seinen eigenen Angaben im Rahmen der Erstbefragung (AS 31 ff) sowie vor der belangten Behörde (AS 247) und andererseits auf den im Verfahren vorgelegten irakischen Identitätsdokumenten (vgl. AS 53 ff, 167 ff), insbesondere seinem im Original vorgelegten Reisepass (293 ff). Die Identität des BF konnte somit festgestellt werden.

Die Angaben des BF zu seiner Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und seinem religiösen Bekenntnis (vgl. AS 31, 251) waren nicht zweifelhaft und konnten der Entscheidung des erkennenden Gerichtes zugrunde gelegt werden.

Der BF gab in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde zu seinem Gesundheitszustand an, dass er gesund sei (AS 247) und brachte auch im Beschwerdeverfahren keine gesundheitlichen Probleme vor. Es war daher zur Feststellung zu gelangen, dass der BF gesund ist.

Die getroffenen Feststellungen zum bisherigen Leben des BF im Irak und zu seinen dort lebenden Familienangehörigen beruhen unmittelbar auf seinen – grundsätzlich glaubhaften – Angaben vor der belangten Behörde (AS 247 ff) und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. Verhandlungsschrift S. 5 f). Da die Angaben des BF zu aktuellen Ereignissen im Zusammenhang mit seinen Familienangehörigen im Irak untrennbar mit seinem Fluchtvorbringen verbunden sind, wird darauf unter Punkt II.2.2. näher eingegangen.

Die Feststellungen zu den bisherigen Asylanträgen des BF in mehreren europäischen Staaten sowie zu seiner anschließenden Rückkehr in den Irak beruhen einerseits auf dem im Verwaltungsakt erliegenden Eurodac-Ergebnisbericht, in welchem Zeit und Ort der jeweiligen Antragstellung dokumentiert sind (vgl. AS 39 f) und andererseits auf den eigenen Angaben des BF im Rahmen seiner Einvernahme vor der belangten Behörde (AS 259).

2.2. Zum Fluchtvorbringen des BF:

2.2.1. Zur behaupteten Verfolgung des BF durch Anhänger des IS bzw. aufgrund unterstellter IS-Anhängerschaft oder -Unterstützung:

2.2.1.1. Im Hinblick auf die Sicherheitslage im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020) auszugsweise wie folgt ausgeführt:

Zur allgemeinen Sicherheitslage (S. 14):

"Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat […]. Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert […]. Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete […].

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren […]. […]"

Zum Islamischen Staat (IS) (S. 16 ff):

"Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 […] hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt […] und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück […]. Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen […] und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes […].

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst […]. Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch […]. Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar […]. Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din […]. Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken […]. Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten […].

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter […], dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden […], sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen […].

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert […]. Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat […].

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab […]. Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour […]. Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern […].

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein […]."

Zur Sicherheitslage in Bagdad (S. 21 ff):

"Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden […].

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden […]. Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt […]).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen […], doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen […]. Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden […].

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet […]. Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad […].

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet […], im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten […]. Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar […]

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren […].

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen."

Zur Sicherheitslage im Nord- und Zentralirak (S. 26 ff):

"Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten […], so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen […].

In den sogenannten "umstrittenen Gebieten", die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen […]. Die Sicherheitsaufgaben in den "umstrittenen Gebieten" werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt […]. Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat […].

Bei den zwischen Bagdad und Erbil "umstrittenen Gebieten" handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem "arabischen" und "kurdischen" Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt […]. Die "umstrittenen Gebiete" umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya and Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala […]. Die Bevölkerung der "umstrittenen Gebiete" ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die "umstrittenen Gebiete" umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen […].

Gouvernement Ninewa

Der Islamische Staat (IS) hat seine Präsenz in Ninewa durch Kräfte aus Syrien verstärkt und führte seine Operationen hauptsächlich im Süden und Westen des Gouvernements aus […]. Er verfügt aber auch in Mossul über Zellen […]. Es wird außerdem vermutet, dass der IS vorhat in den Badush Bergen, westlich von Mossul, Stützpunkte einzurichten […].

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Ninewa 40 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 33 Toten und 25 Verletzten verzeichnet […], im Februar 2020 waren es zwölf Vorfälle mit 35 Toten und 15 Verletzten […]. Die meisten der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Ninewa ereigneten sich im Süden des Gouvernements […].

[…]

Gouvernement Salah ad-Din

Im Gouvernement Salah ad-Din ist der IS hauptsächlich in ländlichen Regionen aktiv. Im Dezember 2019 setzte der IS erstmals seit Mai 2019 wieder Autobomben ein […]. Drei derartige Attacken trafen Sicherheitskräfte der PMF […], zusätzlich zu einem Vorfall mit einem Selbstmordattentäter mit Sprengstoffweste […].

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Salah ad-Din 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 27 Toten und 42 Verletzten […], im Februar 2020 waren es sechs Vorfälle mit zehn Toten und vier Verletzten […]. Während die übrigen Vorfälle dem IS zugeschrieben werden, werden für zwei Vorfälle im Jänner 2020 - ein Raketen-, bzw. ein Mörserbeschuss auf den Militärstützpunkt Balad - pro-iranische PMF verantwortlich gemacht […]."

Zur Sicherheitslage in der Kurdischen Region im Irak (S. 24 f):

"Erbil bzw. Sulaymaniyah und unmittelbarer Umgebung erscheint die Sicherheitssituation vergleichsweise besser als in anderen Teilen des Irak. Allerdings kommt es immer wieder zu militärischen Zusammenstößen, in die auch kurdische Streitkräfte (Peshmerga) verwickelt sind, weshalb sich die Lage jederzeit ändern kann. Insbesondere Einrichtungen der kurdischen Regionalregierung und politischer Parteien sowie militärische und polizeiliche Einrichtungen können immer wieder Ziele terroristischer Attacken sein […].

Im Juli 2019 führte der IS seine seit langem erste Attacke auf kurdischem Boden durch. Im Gouvernement Sulaymaniyah attackierte er einen Checkpoint an der Grenze zu Diyala, der von Asayish [Anm.: Inlandsgeheimdienst der Kurdischen Region im Irak (KRI)] bemannt war. Bei diesem Angriff wurden fünf Tote und elf Verletzte registriert […]. Im August 2019 wurde in Sulaymaniyah ein Vorfall mit einer IED verzeichnet, wobei es keine Opfer gab […]. Im November 2019 wurde ein weiterer Angriff im Gouvernement Sulaymaniyah verzeichnet. Der Vorfall ereignete sich im südlichen Sulaymaniyah, an der Grenze zu Diyala. Asayesh-Einheiten, die einen Mörserbeschuss untersuchten, wurden von Heckenschützen beschossen. Drei Personen, darunter ein Kommandant, starben, acht Personen, fünf Asayesh und drei Zivilisten wurden verletzt […].

Im Gouvernement Erbil wurde im Jänner 2020 ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer verzeichnet. Als Vergeltung für die Tötung des iranischen Generalmajors Qassem Soleimani und des stellvertretenden Leiters der Volksmobilisierungskräfte (PMF)-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis durch die USA feuerte der Iran Raketen auf die US-Militärbasis nahe dem Internationalen Flughafen Erbil ab […]. Im Februar 2020 wurden drei Vorfälle mit sieben Verletzten im südlichen Distrikt Makhmour verzeichnet. Dabei handelte es sich um einen Raketenangriff pro-iranischer PMF auf einen US-Militärstützpunkt […], um die Detonation zweier IEDs in einem Dorf mit sechs Verletzten […] und um einen Angriff des IS auf ein IDP Lager, mit einem verletzten Zivilisten […].

Seit dem Abbruch des Friedensprozesses zwischen der Türkei und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Jahr 2015 kommt es regelmäßig zu türkischen Militäroperationen und Bombardements gegen Stellungen von PKK-Kämpfern in Qandil und in den irakischen Grenzgebieten […]. Im Kreuzfeuer solcher Angriffe werden immer wieder kurdische Dörfer evakuiert, da manchmal auch Zivilisten und deren Eigentum von den Kämpfen bedroht und bei türkischen Luftangriffen getroffen wurden […].

Am 27.5.2019 initiierte die türkische Armee die „Operation Claw“ gegen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak. Die erste Phase richtete sich gegen Stellungen in der Hakurk/Khakurk-Region im Gouvernement Erbil […]. Die zweite Phase begann am 12.7.2019 und zielt auf die Zerstörung von Höhlen und anderen Zufluchtsorten der PKK […]. Die türkischen Luftangriffe konzentrierten sich auf die Region Amadiya im Gouvernement Dohuk, von wo aus die PKK häufig operiert […]. Ende August 2019 begann die dritte Phase, die sich wiederum gegen die PKK im Gouvernement Dohuk richtete. Betroffen waren vor allem grenznahe Orte, Regionen und Subdistrikte wie Zab, Sinat-Haftanin, Batifa und Avashin […].

Am 10. und 11.7.2019 bombardierte iranische Artillerie mutmaßliche PKK-Ziele im Subdistrikt Sidakan/Bradost im Gouvernement Sulaymaniyah, wobei ein Kind getötet wurde […]. In dem Gebiet gibt es häufige Zusammenstöße zwischen iranischen Sicherheitskräften und iranisch-kurdischen Aufständischen, die ihren Sitz im Irak haben, wie die “Partei für ein Freies Leben in Kurdistan‘‘ (PJAK), die von Teheran beschuldigt wird, mit der PKK in Verbindungen zu stehen […]."

2.2.1.2. Im Hinblick auf die Machtverhältnisse sowie neueste Sicherheitstrends und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in der Provinz Ninewa wird im Bericht von EASO zum Irak (Sicherheitslage – Informationsbericht über das Herkunftsland von Oktober 2020 auszugsweise wie folgt ausgeführt (S 141 ff):

"In Ninawa gingen der ISIL-Besatzung „Jahre des gewaltsamen Extremismus und des organisierten Verbrechens durch Milizengruppen [voraus], bei denen es sich um Vorläufer und/oder Gegner des IS handelte“. Aufgrund ihrer Lage in den umstrittenen Gebieten und ihrer ethnischen Vielfalt gilt die Provinz Ninawa als „langjähriges Zentrum des sunnitisch-arabischen Nationalismus im Irak“ und war einst der „Hauptstützpunkt von Al-Qaida im Irak“.

Im Juni 2014 wurde Mossul vom ISIL eingenommen und besetzt. Im Zuge der Angriffe des ISIL auf Sindschar, Zumar und die Ninawa-Ebene im August 2014 wurde innerhalb weniger Wochen fast eine Million Menschen vertrieben. Der Fall von Mossul im Juni 2014 und der Rückzug der kurdischen Streitkräfte aus weiten Teilen der Provinz im August 2014 führten dazu, dass der ISIL zahlreiche Minderheiten des Irak ins Visier nahm: Turkmenen, Christen, Jesiden, Schabak, Kaka‘i und andere Bevölkerungsgruppen wurden Opfer von Folter, öffentlichen Hinrichtungen, Kreuzigungen, Entführungen und sexueller Versklavung.

Der Kampf um Mossul dauerte mehr als neun Monate, und der Sieg über den ISIL wurde erst Anfang Juli 2017 offiziell verkündet. Dieser Kampf, und insbesondere sein zweiter Teil mit der Einnahme der historischen Altstadt im Westen Mossuls, war bislang die härteste Konfrontation zwischen dem ISIL und den Streitkräften der irakischen Regierung seit Beginn des Konflikts im Jahr 2014. Mossul – die zweitgrößte Stadt des Irak – wurde schwer beschädigt, und während der Feindseligkeiten wurden zahlreiche Zivilisten getötet. Die Angaben zur Zahl der zivilen Opfer reichen von 4 194 Toten und Verwundeten bis hin zu 9 000 bis 11 000 Toten. Einer Quelle zufolge könnten durch die massive Feuerkraft, die von den irakischen Sicherheitskräften, der internationalen Koalition und dem ISIL gegen die Stadt eingesetzt wurde, mehr als 40 000 Zivilisten ums Leben gekommen sein.

Viele der örtlichen Milizen und ihrer Gefolgschaften wurden von Minderheitengemeinschaften als Reaktion auf die Bedrohung durch den ISIL und die Tatsache gegründet, dass die irakische Armee und die Peschmerga ihre Posten im Zuge der ISIL-Offensive des Jahres 2014 aufgaben.

Nach der Zerschlagung des ISIL verübten die Aufständischen in Ninawa weiterhin zahlreiche Gewalttaten. Nach dem Verlust seiner territorialen Kontrolle in der Provinz führte der ISIL weiterhin asymmetrische Angriffe auf die ISF in Ninawa sowie in anderen Provinzen im nördlichen Zentralirak und in der zentralen Region durch.

[…]

ISIL Präsenz und Aktivität

Obwohl der ISIL keine territoriale Kontrolle in der Provinz hatte, verübte er in den Jahren 2019 und 2020 in Ninawa weiterhin asymmetrische Anschläge auf ISF und die Zivilbevölkerung.

Laut einer Analyse des Center for Global Policy vom Mai 2020 geriet der ISIL durch von den ISF und der US-geführten Koalition vom 7. Juli 2019 bis Ende des Jahres in Ninawa und benachbarten Provinzen durchgeführten Operation „Will of Victory“ unter Druck. Allerdings eröffneten die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und Iran in Verbindung mit COVID-19 neue Chancen für die terroristische Gruppe: Der Abzug von US-Beratern aus den Hauptquartieren an der Front behinderte die Koordinierung der Nachrichtendienste der Koalition und ihrer Unterstützung aus der Luft mit den irakischen Streitkräften.

In Ninawa benutzt der ISIL dünn besiedelte Gebiete als Versteck und als Ausgangspunkt für Anschläge, doch laut Knights/Almeida versucht er, relativ starke Stützpunkte in den ländlichen Gürteln größerer Städte aufzubauen, um wieder zu Anschlägen auf Menschenmengen zurückzukehren, wie die Verfasser vermuten. Auch Husham Al-Hashimi vertrat im Mai 2020 die Ansicht, der ISIL versuche, in ländlichen Gebieten rund um Städte wieder Fuß zu fassen, unter anderem in Tal Afar und Qayara. Nach Meinung von Al-Hashimi konzentrierte sich der ISIL darauf, „verlassene Dörfer in Nord- und Zentralirak zu besiedeln, wo natürliche geografische Hindernisse und das Gelände - wie Täler, Gebirge, Wüsten und ländliche Gebiete - konventionelle militärische Operationen erschweren“. Laut Al-Hashimi hatte der ISIL etwa 350-400 aktive Kämpfer in jedem Sektor, in dem er tätig war, darunter die Provinz Ninawa, die von ungefähr 400 inaktiven Kämpfern unterstützt wurden, die sich vorrangig um die Logistik kümmerten.

Wie die ICG im Oktober 2019 schrieb, war der ISIL hauptsächlich im südlichen und südwestlichen Teil der Provinz Ninawa aktiv (zusammen mit anderen Gebieten in anderen Provinzen). Husham Al-Hashimi befand im Dezember 2019 in einer Konfliktkarte, der ISIL sei weiterhin in Baaj präsent, südlich der Ninawa-Wüste. Die DIA stellte im März 2020 fest, dass der Bezirk Rutbah, die Hadr-Wüste und Ba’aj im Westen von Ninawa die Gebiete der Provinz sind, in denen der ISIL nach wie vor am aktivsten ist.

In einem im Mai 2020 veröffentlichten Artikel ermittelten Knights/Almeida elf Gebiete, in denen der ISIL in Ninawa aktiv ist (2018 waren es noch sechs Gebiete), darunter: Ost-Mossul; Ash Shura/Hammam al-Alil; Qayyarah; Sharqat; das Jurn-Dreieck; der Hatra/Irak-Türkei-Pipeline-Korridor südwestlich von Mossul; Badush/Atashana/West-Mossul; Tal Afar/Muhallabiyah; Tal Afar/Ayadhiyah; Sindschar/Ba’aj; Sunnislah-See/Jazeera.

Neueste Sicherheitstrends und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

Entwicklungen 2019-2020

Zu Sicherheitsvorfällen kam es 2019 überall in der Provinz: Neben Luftangriffen der irakischen Luftwaffe und der Internationalen Koalition auf mutmaßliche Verstecke des ISIL erfolgten militärische Bodenoperationen von ISF und PMU gegen den ISIL sowie Anschläge des ISIL auf die ISF und auch auf die Zivilbevölkerung. Die türkische Luftwaffe griff Stellungen der kurdischen/jesidischen YBS in Sindschar an. Es gab ferner Demonstrationen gegen Korruption durch den abgesetzten Gouverneur und Proteste von Angehörigen einer PMF-Brigade gegen den ihnen erteilten Befehl, aus Mossul und der Ninawa-Ebene abzuziehen.

Michael Knights und Alex Almeida beurteilten den Aufstand des ISIL in Ninawa 2018 als „lückenhaft und ziemlich schwach”, stellten jedoch in der zweiten Jahreshälfte 2019 einen plötzlichen Anstieg bei der Zahl der Anschläge fest, die sich ungefähr auf das Doppelte des Vorjahres belief, und ihrer Auffassung nach hielt sich diese Zahl auch während des ersten Quartals 2020. Allerdings wiesen diese Autoren auch auf den großen Unterschied in den Anschlagszahlen zwischen deren Spitzenzeiten im Jahr 2013 und der Gegenwart hin. 2013 gab es in Ninawa 278 Anschläge pro Monat, drei Viertel davon in der Stadt Mossul, während im März 2020 nur 31 Anschläge verübt wurden. Ab der zweiten Jahreshälfte 2019 bis hinein in das Jahr 2020 wurden die Anschläge immer raffinierter. Laut Knights/Almeida erfolgten seltener nächtliche Überfälle, bei denen mukhtars getötet wurden, und die das Tigris-Tal 2018 terrorisierten. Nach Auffassung der Autoren verfügt der ISIL über eine größere Spanne von Anschlagszellen in der Provinz als im Vorjahr sowie einsatzbereite Anschlaggruppen in elf Gebieten im ersten Quartal 2020 im Vergleich zu nur sechs Ende 2018.

Die Zahl der von Joel Wing erfassten Vorfälle in den Jahren 2019 und 2020 bewegte sich in der gleichen Spanne, nämlich zwischen neun und 25 Anschlägen pro Monat, doch nahm nach Meinung von Knights/Almeida die Zahl der Anschläge schon gegen Ende 2018 stetig zu; dieser Trend entwickelte sich dann in der zweiten Jahreshälfte zu einem plötzlichen Anstieg mit 34,1 Anschlägen pro Monat, was fast dem Doppelten der Zahlen von 2018 entspricht. Der gleichen Quelle zufolge wurde diese Zahl von Anschlägen der Aufständischen im ersten Quartal 2020 gehalten, und die Verfasser sahen hierin ein relativ stabiles neues Niveau von Anschlägen (32,3 Anschläge des ISIL pro Monat während des ersten Quartals 2020). Das USDOD verzeichnete zwischen 25 und 30 ISIL-Anschlägen in Ninawa im Zeitraum Januar bis April 2020 und 24 von April bis Juni 2020.

Nach Auffassung von Joel Wing war Ninawa im Februar, März, April und Mai 2020 für die Aufständischen nur eine Nebenfront. Michael Knights und Alex Almeida erklärten in ihrer Analyse von 2019 und vom ersten Quartal 2020, dass der Anstieg bei den Anschlägen des ISIL in Ninawa seit dem Sommer 2019 und das anhaltend hohe Niveau im Jahr 2020 hauptsächlich auf eine steigende Zahl und eine bessere Qualität der Sprengfallen an Straßen zurückzuführen ist. Die gleichen Analysten sahen eine allmähliche Verbreitung ausgefeilterer Taktiken beim Einsatz von USBV, wie Ketten mehrerer USBV, um den Wirkungsbereich zu vergrößern, Aufstellen von Sprengfallen in Häusern, um Sicherheitskräfte umzubringen, und Nutzung von Anschlägen als Köder, um Einsatzkräfte in die Nähe von Sprengfallen an Straßen zu locken. Wie den Berichten über Vorfälle von ACLED und Joel Wing zu entnehmen ist, sind die meisten Opfer von Sprengfallen an Straßen Angehörige von Sicherheitskräften. Es gibt allerdings auch zivile Opfer.

Das geografische Muster der Angriffe der Aufständischen im Jahr 2019 zeigt, dass mit Ausnahme der unter kurdischer Kontrolle stehenden nordöstlichen Teile der Provinz alle Bezirke von Ninawa betroffen waren. Typische Hotspots für die ISIL-Aktivität waren die südlich von Mossul gelegenen Gebiete im Tigris-Tal und generell ländliche Gebiete in Reichweite der Gebiete, in denen der ISIL aktiv ist, wie weiter oben im Kapitel „ISIL-Kämpfer“ aufgeführt.

Die folgende Karte zeigt die Orte, an denen ACLED Vorfälle im Zeitraum 1. Januar bis 19. Juni 2020 registrierte. Die Karte gibt nicht alle Vorfälle in der Provinz wieder, sondern nur die betroffenen geografischen Gebiete. ACLED verzeichnete in diesem Zeitraum 66 Vorfälle. Die in Akrê in der Nordostecke der Provinz Ninawa registrierten Vorfälle waren türkische Luftangriffe:

Karte 12: Von ACLED und EPIC zwischen dem 1. Januar und dem 26. Juni 2020 verzeichnete Vorfälle, Zusammenstellung durch Cedoca auf Google Maps

Zu den im ersten Halbjahr 2020 verzeichneten verschiedenen Arten von Vorfällen gehörten reguläre bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen des ISIL, einschließlich Schießereien oder Sprengstoffanschläge, Sicherheitsoperationen gegen Verstecke der Aufständischen in ländlichen und entlegenen Gebieten, aber auch in der Nähe von oder in besiedelten Orten. So gab es beispielsweise einen Anschlag der Aufständischen auf das Elektrizitätsnetz nahe Qayyarah im Mai 2020, bei dem drei Starkstrommasten getroffen wurden.

Der ISIL setzt unterschiedliche Taktiken ein, wie das Anbringen von USBV in Straßennähe, auf denen die Sicherheitskräfte patroullieren, oder das Abfeuern von Mörsergranaten auf besiedelte Gebiete oder deren Beschuss mit Kleinwaffen. Eine weitere Vorgehensweise der Aufständischen ist das Angreifen und Töten von Dorf-mukhtars. Auch wenn, wie Knights/Almeida unterstreichen, diese Form der Gewalt seltener als in früheren Jahren zu beobachten ist, kommt sie doch 2020 noch immer vor.

Auch 2020 werden noch Massengräber von Opfern des Konflikts mit dem ISIL zwischen 2014 und 2017 entdeckt, das größte dieser Gräber im Februar 2020 in der Region Tal Afar. Am 17. Mai 2020 gab der neue Premierminister Mustafa al-Kadhimi Anweisung, alle verfügbaren Ressourcen einzusetzen, um das Schicksal entführter und verschwundener Iraker zu klären. Die meisten Vermisstenanzeigen kommen aus Ninawa.

Luftangriffe gegen ISIL-Stellungen wurden von der irakischen Luftwaffe und der Internationalen Koalition geflogen, wohingegen die türkische Luftwaffe 2019 und 2020 Stellungen kurdischer und jesidischer Milizen mit Verbindungen zur PKK in den Bezirken Sindschar und Akre angriff. Bei den türkischen Luftangriffen gab es zivile Opfer.

Einige Beispiele für Sicherheitsvorfälle

Nachstehend eine nicht erschöpfende Auflistung von Sicherheitsvorfällen, die sich Berichten zufolge zwischen dem 1. Januar 2019 und dem 31. Juli 2020 in der Provinz Ninawa ereignet haben:

Anschläge des ISIL auf mukhtars:

• Am 9. Mai 2019 wurde der mukhtar des Dorfes al-Lazaka im Bezirk Hammam al-Alil zusammen mit vier Mitgliedern seiner Familie von ISIL-Kämpfern ermordet. Zwei weitere Familienmitglieder wurden bei dem Anschlag verletzt.

• Am 18. November 2019 wurde der mukhtar des Dorfes Ahlila in Ost-Mossul ermordet.

• Am 26. Februar 2020 griffen ISIL-Kämpfer das Haus eines mukhtar in Al Muhallabiyah westlich von Mossul an, töteten dabei den mukhtar und verletzten seinen Sohn.

Bewaffnete Angriffe durch den ISIL:

• Am 22. Dezember 2019 griff der ISIL das Dorf Al-Rusif im Bezirk Shoura (Süd-Mossul) an, tötete zwei Zivilisten und verletzte einen weiteren.

• Am 10. Mai 2020 beschossen nicht identifizierte Bewaffnete mit einem Mörser das Haus eines Zivilisten in al Qayyarah südlich von Mossul und verletzten dabei drei Mitglieder des Haushalts.

USBV vom ISIL oder nicht identifizierten Tätern:

• Am 22. Mai 2019 kam ein Zivilist bei der Explosion einer USBV im Bezirk al-Shoura in Mossul ums Leben.

• Am 9. November 2019 explodierte eine USBV in einem Transportfahrzeug in dem Dorf Qaraj südwestlich von Mossul; durch die Explosion wurden drei Zivilpersonen verletzt.

• Am 12. Februar 2020 kam bei der Explosion einer USBV des ISIL in dem Gebiet al-Rashidiyah nördlich von Mossul ein Zivilist ums Leben und wurden zehn weitere verletzt.

• Am 3. März 2020 explodierte eine nicht identifizierte USBV in Tel Kayf in der Provinz Ninawa und verletzte zwei Zivilisten.

• Am 7. Mai 2020 explodierte nahe dem Dorf Ghuzayl südlich von Mossul eine nicht identifizierte USBV, wobei zwei Mitarbeiter des Stromversorgers verletzt wurden.

Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften:

• Am 8. November 2019 feuerten unbekannte Angreifer vier Raketen auf den Militärstützpunkt Qayyara ab. Die Sicherheitsdienste übten Vergeltung und töteten drei Angreifer.

• Am 24. März 2020 töteten irakische Streitkräfte drei ISIL-Kämpfer mit Sprengstoffgürteln in einem Dorf in der Nähe von Qayyarah.

Luftangriffe:

• Am 20. August 2019 meldete die Medienabteilung der Sicherheitskräfte den Tod von sechs ISIL-Kämpfern in einem Tunnel durch einen Luftangriff der Koalitionsstreitkräfte im Atshana-Gebirge westlich von Mossul.

• Am 4. November 2019 bombardierte die türkische Luftwaffe Khanasur in Sindschar. Zwei YBS-Kämpfer wurden verwundet.

• Am 15. Mai 2020 richtete sich ein Luftangriff der Streitkräfte der Internationalen Koalition gegen den ISIL in einem Wüstengebiet südwestlich von Hatra gegen eine Höhle des ISIL; sieben Kämpfer kamen dabei ums Leben.

• Am 15. Juni 2020 flog die Türkei Luftangriffe auf mehrere Ziele in Irak, auch gegen Stellungen der Jesidischen Widerstandseinheiten (YBS) im Bezirk Sindschar. Nach Angaben von jesidischen Quellen wurden mindestens drei Angehörige der YBS verwundet.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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