TE Vwgh Beschluss 2021/5/21 Ra 2021/19/0143

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Veröffentlicht am 21.05.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art3
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des S D A in W, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. März 2021, W204 2189798-1/16E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 15. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er mit seiner Furcht vor den Taliban begründete. Im weiteren Verfahren gab er überdies an, „verwestlicht“ und nicht religiös zu sein, weshalb ihm im Herkunftsstaat vorgeworfen werden würde, dass er ungläubig sei.

2        Mit Bescheid vom 10. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Begründend führte das BVwG - zusammengefasst und soweit für das Revisionsverfahren relevant - aus, dass der Revisionswerber von den Taliban nicht konkret als Person verfolgt werde. Wie auch seine Familie sei der Revisionswerber bereits im Herkunftsstaat nicht streng religiös gewesen. Bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat drohe ihm keine Verfolgung aufgrund des von ihm gepflegten Lebensstils. Dem Revisionswerber könne eine Rückkehr in seine Heimatprovinz aufgrund der dortigen Sicherheitslage nicht zugemutet werden, jedoch stehe ihm vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen zu Afghanistan unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif offen. Die durchgeführte Interessenabwägung ergebe unter anderem mit Blick auf die bestehenden Bindungen zum Herkunftsstaat auch bei Einbeziehung seiner sprachlichen, schulischen und sozialen Integrationsbemühungen in Österreich, dass die öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung überwögen.

4        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

5        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

6        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

7        Unter dem Gesichtspunkt ihrer Zulässigkeit wendet sich die Revision gegen die Ausführungen des BVwG zur behaupteten Apostasie bzw. westlichen Orientierung des Revisionswerbers. Das BVwG habe es unterlassen, dem angefochtenen Erkenntnis einschlägige länderspezifische Feststellungen zur Apostasie zu Grunde zu legen und sich mit den Zeugenaussagen, mit denen die atheistische Gesinnung des Revisionswerbers untermauert worden sei, auseinanderzusetzen. Aufgrund der nichtreligiösen Gesinnung des Revisionswerbers, seiner Beziehung zu einer österreichischen Staatsbürgerin sowie seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Ausübung von Religion drohe dem Revisionswerber asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat.

Das BVwG setzte sich mit dem diesbezüglichen Vorbringen - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - ausführlich auseinander und legte umfassend dar, aus welchen Gründen es zum Ergebnis gelangte, dass der Revisionswerber selbst weder seine Apostasie noch eine dem Islam ablehnend gegenüberstehende Haltung geltend gemacht habe, dass er sich bei einer Rückkehr nicht ablehnend oder abschätzig über den Islam äußern und auch kein Verhalten setzen würde, aus dem sich eine Apostasie ergebe, weshalb der Revisionswerber wegen seiner Haltung gegenüber dem Islam auch keiner Verfolgung in seinem Herkunftsstaat ausgesetzt wäre, zumal in den Städten, auf die er als innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden könne, eine größere Freiheit in Bezug auf die Religionsausübung bestehe. Dabei stützte sich das BVwG unter anderem auf die Aussage des Revisionswerbers, wonach er Muslim, aber nicht religiös sei und man Respekt vor anderen in religiösen Belangen haben müsse. Das BVwG ging davon aus, dass der Revisionswerber - wenn er auch innerlich die Wahrung der Grundrechte aller Menschen sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau befürworten möge - diese Sichtweise nicht in einer öffentlich wahrnehmbaren Weise vertrete. Dies ergebe sich auch aus der Aussage eines Zeugen, der den Umstand, dass er die Freundin des Revisionswerbers nicht kennengelernt habe, damit begründet habe, dass dies im Kulturkreis des Revisionswerbers indiskret wäre. Das BVwG verwies auch darauf, dass der Revisionswerber eigenen Angaben zufolge noch nie - und demgemäß auch nicht in Afghanistan - in einer Moschee gewesen sei und nicht behauptet habe, dass er oder seine ebenfalls nicht sehr religiöse Familie im Herkunftsstaat deshalb Probleme gehabt hätten. Dass der Revisionswerber eine allfällige innere westliche Einstellung nach außen trage, sei auch unter Berücksichtigung der Zeugenaussagen nicht anzunehmen.

8        Die Revision vermag auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach für die Annahme einer Verfolgung wegen Apostasie Voraussetzung ist, dass der Asylwerber seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal versteht, die er auch in seinem Heimatstaat leben wird (vgl. VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0308 bis 0309, mwN), nicht aufzuzeigen, dass die Beweiswürdigung im Revisionsfall unvertretbar wäre (zum Maßstab für das Vorliegen einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung vgl. VwGH 19.3.2021, Ra 2021/19/0072, mwN).

9        Werden Verfahrensmängel - wie Ermittlungsmängel betreffend Länderfeststellungen zur Apostasie - als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden (vgl. VwGH 2.3.2021, Ra 2021/19/0043, mwN). Dies setzt voraus, dass - auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise darzulegen (vgl. VwGH 25.3.2021, Ra 2021/20/0062, mwN).

10       Dies gelingt der Revision schon deswegen nicht, weil das BVwG - wie bereits erwähnt, in einer im Revisionsverfahren nicht zu beanstandenden Weise - dem Vorbringen des Revisionswerbers nicht gefolgt ist. Dem auf der eigenen Prämisse - nämlich der Richtigkeit seiner Angaben - beruhenden weiteren Vorbringen in der Revision, wonach das BVwG unter Berücksichtigung einschlägiger Länderfeststellungen zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass der Revisionswerber aufgrund seiner Apostasie bzw. wegen seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Ausübung von Religion mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt wäre, ist somit der Boden entzogen.

11       Soweit die Revision - insbesondere im Hinblick auf die vorgebrachten Atembeschwerden des Revisionswerbers im Zusammenhang mit der derzeitigen Covid-19-Pandemie - rügt, das BVwG habe jegliche Ermittlungen zur gesundheitlichen Verfassung des Revisionswerbers unterlassen sowie ohne einzelfallbezogene Prüfung eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif angenommen, ist diesen Ausführungen Folgendes zu erwidern:

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. dazu grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, sowie aus jüngerer Zeit VwGH 10.2.2021, Ra 2020/19/0446, mwN).

13       Das BVwG ging - auf der Grundlage näherer Feststellungen und unter Berücksichtigung der einschlägigen Länderinformationsquellen sowie Stellungnahmen des UNHCR - davon aus, dass dem Revisionswerber, einem jungen, arbeitsfähigen Mann, in Kabul, Mazar-e Sharif und Herat mit Hilfe finanzieller Unterstützung durch seine Familie eine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe. Es berücksichtigte ferner den Umstand, dass der Revisionswerber teilweise im Iran aufgewachsen ist, aber auch mehrere Jahre lang in Afghanistan lebte und während seines Aufenthaltes dort die Schule besuchte. Seine Annahme, dass der Revisionswerber durch die von ihm in der Verhandlung erwähnten Probleme beim Einatmen durch die Nase im täglichen Leben und in seiner Arbeitsfähigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt werde, stützte das BVwG darauf, dass der Revisionswerber Gegenteiliges nicht behauptet und vielmehr erklärt habe, dieses Problem schon sein ganzes Leben lang zu haben, und dass er im Laufe des Verfahrens stets angegeben habe, gesund zu sein. Überdies sei für den 1. Februar 2021 eine Nasenoperation geplant gewesen, und der - vertretene - Revisionswerber habe weder postoperative Komplikationen bekanntgegeben, noch mitgeteilt, dass der Operationstermin nicht habe wahrgenommen werden können. Die Revision zeigt mit ihrem Vorbringen nicht auf, dass diese Einzelfallbeurteilung unvertretbar erfolgt wäre, zumal der Revisionswerber zu keinem Zeitpunkt im Verfahren vor dem BVwG vorgebracht hatte, dass er einer Risikogruppe, bei der ein schwerer Verlauf einer Covid-19-Erkrankung zu befürchten sei, angehöre.

14       Sofern sich die Revision zu ihrer Zulässigkeit gegen die Vertretbarkeit der im Rahmen der Rückkehrentscheidung vorgenommenen Interessenabwägung wendet, ist festzuhalten, dass die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden hat. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 10.2.2021, Ra 2021/19/0016, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 25.3.2021, Ra 2021/19/0057, mwN).

15       Im vorliegenden Fall hat das BVwG in der Interessenabwägung die für den Revisionswerber sprechenden Umstände mit den gegen ihn sprechenden Umständen abgewogen und ist zum Schluss gekommen, dass die öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Inland überwiegen würden. Berücksichtigung fand dabei auch seine Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin, wobei dem BVwG nicht entgegengetreten werden kann, wenn es ein bestehendes Familienleben des Revisionswerbers in Österreich im Sinn des Art. 8 EMRK - unter anderem mangels gemeinsamen Haushalts - verneint hat (zu einer ähnlichen Sachverhaltskonstellation vgl. VwGH 24.6.2019, Ra 2019/20/0101).

16       Im Hinblick darauf, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (erst) bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 6.10.2020, Ra 2019/19/0332, mwN), zeigt die Revision ungeachtet der vom BVwG festgestellten sprachlichen, schulischen und sozialen Integrationsbemühungen des Revisionswerbers keine unvertretbare Interessenabwägung auf.

17       In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 21. Mai 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190143.L00

Im RIS seit

17.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

06.07.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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