TE Vwgh Erkenntnis 2021/5/21 Ra 2020/19/0180

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Veröffentlicht am 21.05.2021
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 17. Jänner 2020 mündlich verkündete und mit 16. April 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W244 2155169-1/30E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: R A T in S), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, wurde im Iran geboren und wuchs dort auf. Er stellte am 22. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachte er vor, sein Vater sei in Afghanistan Anhänger von Abdul Rasul Sayyaf und dessen Partei und mit diesem persönlich bekannt gewesen. Nachdem sein Vater sich geweigert habe, für diese Gruppierung an Kampfhandlungen teilzunehmen, sei er beschuldigt worden, eine benachbarte Familie, bei denen es sich ebenfalls um Anhänger Sayyafs gehandelt habe, ermordet zu haben. Aus diesem Grund seien zwei Onkel väterlicherseits von Sayyaf bzw. dessen Anhängern getötet worden und seine Familie in den Iran geflohen. Bei einer Rückkehr in seinen Heimatdistrikt drohe ihm Gefahr, von den Feinden seines Vaters, die dort noch immer an der Macht seien, ermordet zu werden.

2        Mit Bescheid vom 13. April 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit am 2. Oktober 2018 mündlich verkündetem und mit 8. Oktober 2018 schriftlich ausgefertigtem Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen diesen Bescheid statt, erkannte ihm den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

4        Mit hg. Erkenntnis vom 27. Juni 2019, Ra 2018/14/0274, hob der Verwaltungsgerichtshof dieses Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf, weil das BVwG gegen seine Begründungspflicht verstoßen hatte. Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof aus (Rn. 13 und 14):

„Das Bundesverwaltungsgericht hat sich im Rahmen der Beweiswürdigung zwar mit jenen Ereignissen, die Grund für die Flucht der Familie des - zum damaligen Zeitpunkt noch nicht geborenen - Mitbeteiligten aus Afghanistan waren, auseinandergesetzt und dieses Vorbringen als glaubwürdig beurteilt. Dem ist die Amtsrevision auch nicht entgegen getreten. Es fehlt aber jede Auseinandersetzung damit, ob dem Mitbeteiligten im Hinblick auf diese (vergangenen) Ereignisse im Fall einer Rückkehr (aktuell) die Gefahr einer Verfolgung durch Sayyaf bzw. seine Anhängern drohen werde. Insbesondere enthält das angefochtene Erkenntnis keine Feststellungen dazu, welche Rolle Sayyaf und seine Anhänger aktuell in Afghanistan spielen und ob von ihnen (nach wie vor) eine Bedrohung für Personen bzw. Verwandte solcher Personen ausgeht, die in einem Konflikt mit ihnen gestanden sind. Die vom Bundesverwaltungsgericht in die mündliche Verhandlung eingebrachte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation aus dem Jahr 2010, auf Grund der im angefochtenen Erkenntnis auch gar keine Feststellungen getroffen werden und die überdies fallbezogen den Anforderungen an die Aktualität von Länderinformationen (vgl. etwa VwGH 28.03.2019, Ra 2018/14/0315, mwN) nicht genügt, ist vom Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Beweiswürdigung auch nur zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der vom Mitbeteiligten vorgebrachten Ereignisse, die zur Flucht seiner Familie aus Afghanistan geführt haben, nicht aber zur Beurteilung einer (aktuellen) asylrelevanten Gefährdung herangezogen worden.

Vor diesem Hintergrund ist die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Schlussfolgerung, dem Mitbeteiligten werde bei einer Rückkehr in seinen Heimatdistrikt die Gefahr von Gewalt durch Sayyaf und seine Anhänger drohen, einer nachprüfenden Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht zugänglich.“

5        Im fortgesetzten Verfahren gab das BVwG mit dem nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis der Beschwerde des Mitbeteiligten nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung neuerlich statt, erkannte ihm den Status des Asylberechtigten zu, stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme, und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        Das BVwG stellte - soweit hier maßgeblich - fest, die Familie des Mitbeteiligten stamme aus einem bestimmten Dorf im Distrikt Paghman in der Provinz Kabul. Sie habe Afghanistan ein bis zwei Jahre vor der Geburt des Mitbeteiligten verlassen und habe sich im Iran niedergelassen, wo der Mitbeteiligte geboren worden und aufgewachsen sei. Zu den Fluchtgründen stellte das BVwG fest, der Vater des Mitbeteiligten sei Anhänger von Abdul Rasul Sayyaf und seiner Partei und mit ihm persönlich bekannt gewesen. Nachdem er sich geweigert habe, an Kampfhandlungen teilzunehmen, sei ihm unterstellt worden, Mitglieder einer benachbarten Familie ermordet zu haben. Zwei Onkel des Mitbeteiligten seien von Abdul Rasul Sayyaf und seinen Anhängern getötet worden; sein Vater, seine Großeltern und zwei Tanten seien daraufhin in den Iran geflohen.

7        Zu Abdul Rasul Sayyaf stellte das BVwG fest, es handle sich um einen früheren Warlord, dem vorgeworfen werde, zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben. Der Distrikt Paghman stehe aktuell noch unter dem maßgeblichen Einfluss von Abdul Rasul Sayyaf, der in höchsten Regierungskreisen verkehre. Es gebe weiterhin zahlreiche Berichte über Angriffe auf Zivilisten durch ehemalige Warlords, ganz konkret auch durch Abdul Rasul Sayyaf und seine Anhänger, wenn auch die Möglichkeiten ehemaliger Warlords im Hinblick auf Politik, Loyalitäten und Wahrnehmungen gegenüber den Jahren 1990 bis 2000 eingeschränkt seien.

8        Zur Lage in Afghanistan traf das BVwG Feststellungen, in denen es u.a. Auszüge aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 zur „Fähigkeit und Bereitschaft des Staates, Zivilisten vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen“ und zu „In Blutfehden verwickelte Personen“ wiedergab. Nach den zuletzt genannten Feststellungen töteten bei einer Blutfehde gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrenvorstellungen die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. Blutfehden seien in erster Linie eine Tradition der Paschtunen, kämen jedoch auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden könnten durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführungen oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Nach dem Paschtunwali (paschtunisches Gewohnheitsrechtssystem) müsse die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen könne aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stamme, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen würden Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt. Wenn die Familie, der Unrecht geschehen sei, nicht in der Lage sei, sich zu rächen, könne die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig halte, Racheakte auszuüben. Daher könne sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Das BVwG gab auch Auszüge aus der (im fortgesetzten Verfahren eingeholten) Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 25. November 2019 zu „(Ehemalige) Warlords in Afghanistan - Abdul Rasul Sayyaf“ wieder.

9        Beweiswürdigend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte habe in der mündlichen Verhandlung die in der Vergangenheit stattgefundenen Vorgänge schlüssig, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Strukturen in Afghanistan plausibel, weitgehend widerspruchsfrei, substantiiert und angereichert mit lebensnahen Details wiedergegeben. Das Fluchtvorbringen des Mitbeteiligten werde daher als glaubhaft erachtet. Die Feststellungen zu Abdul Rasul Sayyaf stützten sich auf die genannte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation. Vor deren Hintergrund sei davon auszugehen, dass dem Mitbeteiligten als Familienangehörigem seines Vaters bei einer Rückkehr in seinen Heimatdistrikt trotz des langen seither verstrichenen Zeitraums auch aktuell die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt „aufgrund von Blutrache“ drohe. Dies ergebe sich aus einer Zusammenschau der glaubhaften Ereignisse vor der Ausreise des Mitbeteiligten, des weiterhin aktuellen Einflusses von Abdul Rasul Sayyaf im Distrikt Paghman, des Generationen und Jahre überdauernden Charakters von der besonders unter Paschtunen verbreiteten Blutrache in Afghanistan und der fehlenden Fähigkeit und Bereitschaft des Staates, Zivilisten vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, vor allem dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Bedrohung von regierungsnahen Personen ausgehe.

10       Rechtlich folgerte das BVwG, der Mitbeteiligte habe glaubhaft gemacht, dass ihm bei einer Rückkehr in seinen Heimatdistrikt die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt „aufgrund von Blutrache“ drohe. Er sei Verfolgungs- und Bedrohungshandlungen auf Grund einer Feindschaft seines Vaters ausgesetzt, wobei insbesondere nach der Ermordung seiner Onkel davon auszugehen sei, dass es sich dabei um Verfolgungshandlungen erheblicher Intensität handle. Der Mitbeteiligte sei daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründe, nämlich jenem der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe „der Familie“, ausgesetzt. Für die Annahme einer asylrelevanten Verfolgung aus Gründen der Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe reiche es nach der (näher genannten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wenn sich die Rache gegen einen unbeteiligten Dritten bloß wegen dessen mit dem Täter gemeinsamer oder von ihm herrührender Abstammung richte. Zwar handle es sich bei den Feinden (auch) um nichtstaatliche Akteure, doch könne angesichts der Berichtslage zu Abdul Rasul Sayyaf nicht davon ausgegangen werden, dass die staatlichen Sicherheitsbehörden ausreichend schutzfähig und schutzwillig seien, zumal im vorliegenden Fall die Bedrohung von einer regierungsnahen Person ausgehe. Dem Mitbeteiligten stehe (aus näher genannten Gründen) in Afghanistan auch keine innerstaatliche Fluchtalternative offen.

11       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (Amts-)Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, das BVwG habe die seiner Entscheidung zu Grunde liegende Annahme, dass es eine Blutfehde zwischen der Familie des Mitbeteiligten und Abdul Rasul Sayyaf gebe, nicht näher begründet. Diese Annahme stimme auch nicht mit den Länderfeststellungen zu den Gründen für Blutfehden überein. Das BVwG habe auch gegen die Bindungswirkung des aufhebenden Erkenntnisses vom 27. Juni 2019, Ra 2018/14/0274, verstoßen, weil es nicht ermittelt habe, ob Verwandte von Personen, die in einem Konflikt mit Abdul Rasul Sayyaf gestanden seien, nach wie vor einer Bedrohung ausgesetzt seien. Schließlich bringt die Revision vor, der Verwaltungsgerichtshof habe im Unterschied zum deutschen Bundesverwaltungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung für die Anerkennung der Familie als soziale Gruppe nicht ausdrücklich darauf abgestellt, ob eine verfolgte Familie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werde, wozu im angefochtenen Erkenntnis Feststellungen fehlen würden. Der Revisionsfall biete dem Verwaltungsgerichtshof die Gelegenheit, seine Rechtsprechung dazu klarzustellen bzw. zu dieser Frage ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten.

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13       Die Revision ist aus den vorgebrachten Gründen zulässig. Sie ist auch begründet.

14       Bei der Erlassung der Ersatzentscheidung gemäß § 63 Abs. 1 VwGG sind die Verwaltungsgerichte an die vom Verwaltungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis geäußerte Rechtsanschauung gebunden; eine Ausnahme bildet der Fall einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage. Erfolgte die Aufhebung einer angefochtenen Entscheidung, weil es das Verwaltungsgericht unterlassen hat, die für die Beurteilung des Rechtsfalles wesentlichen Tatsachenfeststellungen zu treffen, so besteht die Herstellung des der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustandes darin, dass das Verwaltungsgericht jene Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durchführt und die Feststellungen trifft, die eine erschöpfende Beurteilung des maßgebenden Sachverhaltes ermöglichen (vgl. VwGH 23.3.2021, Ra 2019/19/0431, mwN).

15       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, mwN).

16       Darüber hinaus ist in der vorliegenden Revisionssache zu beachten, dass die vom Mitbeteiligten vorgebrachten Ereignisse, wenn sie als glaubwürdig zugrunde gelegt werden können, zeitlich lange zurückliegen (der Mitbeteiligte war nach den Feststellungen im Zeitpunkt der Flucht seiner Familie aus Afghanistan noch nicht geboren). Daher wäre für die Frage der Asylrelevanz konkret zu prüfen, ob der Mitbeteiligte im Zeitpunkt der Entscheidung (hier des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit und nicht mit einer entfernten Möglichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (Aktualität der Verfolgung; vgl. neuerlich VwGH Ra 2019/01/0472, mwN).

17       Das BVwG legte seiner Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als Verfolgungshandlung (iSd. Art. 9 Status-RL) eine Blutrache zu Grunde, welche dem Mitbeteiligten durch Abdul Rasul Sayyaf auf Grund von dessen Feindschaft mit seinem Vater drohe. Die Revision bringt zu Recht vor, das BVwG habe diese Annahme nicht hinreichend begründet. Zwar hat das BVwG - entgegen der Behauptung der Revision - festgestellt, wer die beiden Onkel des Mitbeteiligten getötet habe (nämlich Abdul Rasul Sayyaf bzw. dessen Anhänger). Es legt aber nicht nachvollziehbar dar, aus welchem Grund zwischen dem Vater des Mitbeteiligten und Abdul Rasul Sayyaf eine Blutfehde bestehe und warum diese noch nicht beendet sei, sodass sie sich im Fall einer Rückkehr des Mitbeteiligten nach Afghanistan (auch) gegen diesen richten werde. Eine solche Begründung wäre aber vor allem deshalb notwendig, weil sich das BVwG für die Annahme einer aktuellen Verfolgungsgefahr beweiswürdigend auf seine Feststellungen zu Blutfehden stützte und daraus den Schluss zog, diese könnten „Generationen und Jahre überdauern“. Dabei geht das BVwG aber von keinem der in seinen Länderfeststellungen genannten Auslöser für eine Blutfehde (Mord, das Zufügen von dauerhaften und ernsthaften Verletzungen, Entführung, Vergewaltigung von verheirateten Frauen, ungelöste Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum) aus, sondern stellte als Grund für die Feindschaft zwischen Abdul Rasul Sayyaf und den Vater des Mitbeteiligten dessen Weigerung, an Kampfhandlungen teilzunehmen, sowie den unterstellten Mord an einer benachbarten Familie fest. Auch richtet sich die Blutrache nach diesen Länderfeststellungen grundsätzlich gegen den Täter selbst, aber auch gegen den Bruder des Täters oder einen anderen Verwandten aus der väterlichen Linie, im Allgemeinen aber nicht gegen die Kinder des Täters. Vor diesem Hintergrund legt das BVwG aber nicht nachvollziehbar dar, im Hinblick auf welchen, die behauptete Blutfehde auslösenden Grund angesichts der bereits erfolgten Ermordung der Brüder des Vaters des Mitbeteiligten durch Abdul Rasul Sayyaf weiterhin eine Blutfehde zwischen diesem und dem Vater des Mitbeteiligten bestehen sollte, auf Grund derer der Mitbeteiligte als Sohn seines Vaters im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan der Gefahr einer Verfolgung durch Abdul Rasul Sayyaf (bzw. dessen Anhängern) ausgesetzt wäre.

18       Dadurch hat das BVwG die durch das Vorerkenntnis Ra 2018/14/0274 aufgetragenen Feststellungen, die zur Beurteilung einer aktuellen Verfolgungsgefahr des Mitbeteiligten notwendig wären, unterlassen, und das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet.

19       Vor diesem Hintergrund muss auf die in der Revision aufgeworfene Frage betreffend die Voraussetzungen für das Vorliegen des vom BVwG im Revisionsfall angenommenen Verfolgungsgrundes (iSd. Art. 10 Status-RL) der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe „der Familie“ hier nicht eingegangen werden (vgl. allgemein zu den Voraussetzungen des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, und VwGH 26.4.2021, Ra 2020/01/0025, jeweils unter Verweis auf EuGH 4.10.2018, Ahmedbekova, C-652/16, Rn. 89).

20       Das angefochtene Erkenntnis war wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 21. Mai 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190180.L00

Im RIS seit

25.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

25.08.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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