TE Vwgh Erkenntnis 2021/5/21 Ra 2019/19/0428

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Veröffentlicht am 21.05.2021
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. März 2019, W261 2205099-1/9E, W261 2205083-1/11E, W261 2205087-1/9E, W261 2205089-1/7E, W261 2205085-1/7E, W261 2205092-1/7E, W261 2205096-1/7E und W261 2205094-1/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Parteien: 1. T R, 2. A S R, 3. D R, 4. M R, 5. B R, 6. S R, 7. S R und 8. S R, alle vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Die Mitbeteiligten sind Staatsangehörige Afghanistans. Die Erst- und der Zweitmitbeteiligte sind verheiratet und die Eltern der Dritt- bis Achtmitbeteiligten, die zum Zeitpunkt der Antragstellung auf internationalen Schutz am 17. Juni 2016 (noch alle) minderjährig waren.

2        Begründend brachten sie vor, sie hätten Afghanistan verlassen, da der Zweitmitbeteiligte von den Taliban bedroht worden sei und Kriminelle mit der Entführung der Dritt- bis Achtmitbeteiligten gedroht hätten.

3        Mit Bescheiden jeweils vom 16. August 2018 wies das (revisionswerbende) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Mitbeteiligten ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden der Mitbeteiligten nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung statt, erkannte den Mitbeteiligten den Status der Asylberechtigten zu, stellte fest, dass ihnen kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme, erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Das BVwG stellte - soweit hier maßgeblich - fest, der Zweitmitbeteiligte habe ein Transportunternehmen mit etwa 15 Mitarbeitern besessen, dessen Hauptsitz in Kabul gewesen sei. Er habe auch alte Häuser saniert und diese weiterverkauft. Ebenso habe er Autos gekauft, repariert und weiterverkauft. Er sei beruflich sehr erfolgreich und für afghanische Verhältnisse wohlhabend gewesen. Der Zweitmitbeteiligte sei auch Eigentümer von zwei Häusern in Kabul. In einem von diesen habe er gemeinsam mit seiner Familie gelebt. Die Erstmitbeteiligte sei Hausfrau gewesen.

6        Zur Lage in Afghanistan traf das BVwG Feststellungen u.a. zur Situation von Geschäftsleuten und wohlhabenden Personen (diese Feststellungen geben die entsprechenden Ausführungen in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, S. 112 f, wieder). Demnach herrsche in der Bevölkerung Besorgnis über die weite Verbreitung von Korruption, Schutzgelderpressung und illegaler Besteuerung durch die afghanische lokale Polizei, regierungsnahe bewaffnete Gruppen sowie regierungsfeindliche Kräfte. Die Taliban erzielten Berichten zufolge erhebliche Gewinne aus illegalen Aktivitäten, darunter Schutzgelderpressungen und erpresserische Entführungen. Im Jahr 2017 habe UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) 255 Vorkommnisse, bei denen 1 005 Zivilisten von regierungsfeindlichen Kräften entführt worden und 76 Personen ums Leben gekommen seien, dokumentiert. Laut UNAMA entführten regierungsfeindliche Gruppen Zivilisten, die sie verdächtigten, in Verbindung mit der Regierung zu stehen oder mit dieser zu arbeiten, aber auch um Lösegeld für deren Freilassung zu erpressen. UNAMA berichte auch, dass entführte Zivilisten in den meisten Fällen über Vermittlung lokaler Ältester oder nach Zahlung von Lösegeld wieder freigelassen würden. Auch Geschäftsleute und andere Personen, die tatsächlich oder vermeintlich wohlhabend seien, gerieten „zunehmend ins Visier von Entführungsbanden“.

7        Im Zuge der Beweiswürdigung führte das BVwG aus, der Zweitmitbeteiligte sei in Afghanistan ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, habe in einem sehr guten Stadtteil gelebt und es zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Es könne daher „nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen“ werden, dass seine Kinder Opfer derartiger Entführungen durch nichtstaatliche Akteure werden könnten. Es sei durch verschiedene Länderberichte belegt, dass es in Afghanistan immer wieder zu Entführungen von Kindern reicher bzw. vermeintlich reicher Leute durch nichtstaatliche Akteure komme, um damit Lösegeld zu erpressen. Die UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 enthielten sogar ein eigenes Risikoprofil für wohlhabende Personen sowie deren Familienmitglieder. Die Behörden in Afghanistan seien weder willens noch in der Lage, die Mitbeteiligten vor erpresserischen Entführungen zu schützen, zumal diese selbst vielfach korrupt seien. Dies gelte nicht nur für die Stadt Kabul, sondern für ganz Afghanistan. Eine Rückkehr nach Kabul, die Herkunftsstadt der Mitbeteiligten, sei daher nicht möglich, ohne dass die Mitbeteiligten ernsthaft Gefahr liefen, Opfer einer solchen erpresserischen Entführung zu werden. Dies könne auch für die Städte Herat und Mazar-e Sharif nicht ausgeschlossen werden. Überdies sei es der Großfamilie der Mitbeteiligten nicht zumutbar, sich in einer dieser Städte anzusiedeln. Der Zweitmitbeteiligte sei Geschäftsmann, habe aber derzeit keine finanziellen Mittel, um für sich und seine große Familie den Lebensunterhalt durch Aufbau eines neuen Geschäftes zu sichern. Auch mit Gelegenheitsarbeiten werde es ihm nicht möglich sein, seine Kinder zu versorgen. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Mitbeteiligten im Fall einer Rückkehr nach Herat oder Mazar-e Sharif in eine aussichtslose bzw. existenzbedrohende Lage geraten würden, weil sie grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen könnten. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe daher nicht zur Verfügung.

8        Rechtlich folgerte das BVwG, im Hinblick auf die glaubhafte Gefahr, dass die Kinder des Zweitmitbeteiligten von nichtstaatlichen Akteuren zur Erpressung von Lösegeld entführt würden, gehörten die Dritt- bis Achtmitbeteiligten als Söhne des wohlhabenden Zweitmitbeteiligten der sozialen Gruppe der „Familienangehörigen von wohlhabenden Geschäftsleuten“ an, die dem „Risiko erpresserischer Entführung“ und damit asylrelevanter Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit „ausgesetzt waren und derzeit auch nach wie vor sind“. In Anlehnung an die UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 sei davon auszugehen, dass die afghanischen Behörden nicht in der Lage und/oder willens seien, die Familie der Mitbeteiligten vor dieser drohenden Gefahr hinreichend zu schützen. Die Dritt- bis Achtmitbeteiligten gehörten iSd. Art. 10 Abs. 1 lit. d Status-Richtlinie der „sozialen Gruppe der Familie“ an und seien nur aus dem Grund von einer asylrelevanten Verfolgung durch eine erpresserische Entführung bedroht. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe den Mitbeteiligten nicht offen, weil ihnen die Gefahr einer erpresserischen Entführung auch in anderen Landesteilen Afghanistans drohe, und die staatlichen Behörden auch dort nicht in der Lage und/oder willens seien, sie davor hinreichend zu schützen, und weil es sich um eine Großfamilie mit fünf minderjährigen Kindern handle, die als besonders vulnerable Personengruppe zu qualifizieren seien.

9        Den erst- und zweitmitbeteiligten Eltern ihrer minderjährigen Kinder sei gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 im Familienverfahren ebenfalls der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen.

10       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche (Amts-)Revision, welche das BVwG unter Anschluss der Akten vorlegte.

11       Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in welchem die Mitbeteiligten eine Revisionsbeantwortung erstatteten, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12       Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur sozialen Gruppe der Familie abgewichen bzw. biete der Revisionsfall dem Verwaltungsgerichtshof die Möglichkeit, seine Rechtsprechung dahingehend klarzustellen, ob eine Familie per se eine soziale Gruppe darstelle, auch wenn konkrete Feststellungen dazu fehlten, dass diese von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig gesehen würden.

13       Die Revision ist zulässig, weil das angefochtene Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in Zusammenhang mit der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wegen des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe abweicht. Sie ist auch begründet.

14       Nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung droht (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2018/01/0442, mwN).

15       Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist also einerseits, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0576, mwN). Andererseits muss auch bei Heranziehung des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ein kausaler Zusammenhang zwischen der behaupteten Zugehörigkeit zu dieser Gruppe mit der drohenden Gefahr einer Verfolgung bestehen (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350; 3.5.2018, Ra 2018/19/0171; 28.5.2020, Ra 2019/18/0421).

16       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, mwN; dort auch zur notwendigen Aktualität der Verfolgung).

17       Das BVwG legte seiner Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als Verfolgungshandlung (iSd. Art. 9 Status-RL) eine Entführung zwecks Erpressung von Lösegeld zu Grunde. Den Länderfeststellungen ist zwar zu entnehmen, dass es in Afghanistan immer wieder zu erpresserischen Entführungen von (vermeintlich) wohlhabenden Geschäftsleuten kommt und dass - so jedenfalls die (in den Feststellungen insoweit nicht wiedergegebenen) UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 (S. 114) - davon auch deren Kinder betroffen sein können. Den Feststellungen ist aber nicht zu entnehmen, dass Kinder wie die Dritt- bis Achtmitbeteiligten von einer gezielten und systematischen Verfolgung durch erpresserische Entführung bedroht wären.

18       Das BVwG hat aber auch nicht dargelegt, dass und warum gerade die Dritt- bis Achtmitbeteiligten im Fall einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Opfer einer Entführung zwecks Erpressung von Lösegeld werden könnten. Einer solchen Annahme stünden im Übrigen auch die Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis entgegen, die Mitbeteiligten wären - was eine innerstaatliche Fluchtalternative ausschließe - im Fall einer Rückkehr in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif mangels finanzieller Mittel der Gefahr ausgesetzt, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können (vgl. zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beurteilung der Verfolgungsgefahr VwGH 25.3.2021, Ra 2021/19/0057, mwN).

19       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

20       Es kommt somit auf die Klärung der in der Revision aufgeworfenen Frage, unter welchen Voraussetzungen die „Familie“ (bzw. die vom BVwG angenommene engere Gruppe bestimmter, näher umschriebener „Familienangehöriger“) als eine soziale Gruppe iSd. Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie anzusehen ist (vgl. allgemein zu den Voraussetzungen des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, und VwGH 26.4.2021, Ra 2020/01/0025, jeweils unter Verweis auf EuGH 4.10.2018, Ahmedbekova, C-652/16, Rn. 89), nicht entscheidungswesentlich an (vgl. VwGH 19.6.2018, Ra 2018/20/0262; 23.1.2019, Ra 2018/01/0442; 5.3.2020, Ra 2018/19/0576; 7.10.2020, Ra 2020/14/0414; 26.4.2021, Ra 2020/01/0025).

Wien, am 21. Mai 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019190428.L00

Im RIS seit

25.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

25.08.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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