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19/05 MenschenrechteNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Jänner 2021, Zl. W177 1438081-1/54E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: A F in S), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 1. Oktober 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 11. September 2013 wies das (damalige) Bundesasylamt den Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigen (Spruchpunkt II.) ab und wies den Mitbeteiligten aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan aus (Spruchpunkt III.).
3 Mit Erkenntnis vom 12. März 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides ab (Spruchpunkt A) I.), erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A) II.), erteilte ihm
eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A) III.), behob Spruchpunkt III. des Bescheides ersatzlos (Spruchpunkt A) IV.) und sprach gemäß § 25a VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).
4 Das (in weiterer Folge zuständige) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) erhob gegen die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die erteilte Aufenthaltsberechtigung eine außerordentliche Amtsrevision. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 5. November 2019, Ra 2018/01/0188 (Vorerkenntnis), wurde das Erkenntnis des BVwG vom 12. März 2018 in seinen Spruchpunkten A) II., A) III. und A) IV. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben. Das BVwG habe zwar die Möglichkeit einer schwierigen Lebenssituation für den Mitbeteiligten im Fall seiner Rückführung in den Herkunftsstaat in Bezug auf den Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung sowie in Bezug auf eine allgemein sehr prekäre Sicherheitslage festgestellt. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK ergebe sich aus den Feststellungen aber nicht, da der Mitbeteiligte ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann mit Berufserfahrung sei. Da die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK in der Herkunftsregion nicht dargetan worden sei, sei es auf die - vom BVwG im Ergebnis verneinte - Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht angekommen.
5 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gab das BVwG der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides statt und erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A) I.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A) II.) und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).
6 Begründend führte das BVwG aus, dass der Mitbeteiligte im Falle einer Rückkehr nach Kabul bzw. einer Ansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat Gefahr liefe, notwendige Lebensbedürfnisse nicht stillen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten. Er habe sich zudem während seines acht Jahre dauernden Aufenthaltes in Österreich von den in Afghanistan üblichen Sitten und Gebräuchen abgewandt, habe keinen familiären Rückhalt, verfüge lediglich über geringe Bildung und praktiziere den islamischen Glauben nicht mehr, was zu Diskriminierungen führen könne. Er sei bis zu seiner Ausreise immer nur als Tagelöhner tätig gewesen, was aber aufgrund der derzeit herrschen Covid-19-Pandemie und ihren Folgen auf das afghanische Versorgung- und Wirtschaftssystem nicht möglich sei.
7 Gegen dieses Erkenntnis erhob das BFA die vorliegende Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen vorbringt, dass das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erst dann zu prüfen sei, wenn in der Herkunftsregion eines Fremden eine Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 oder 3 EMRK vorliege. Davon sei das BVwG abgewichen, indem es in nicht unterscheidbarer Weise die Prüfungskalküle des Art. 3 EMRK und der Zumutbarkeit von als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht gezogenen Orten vermische. Abgesehen davon würden die vom BVwG ins Treffen geführten einzelfallbezogenen Aspekte keine exzeptionellen Umstände im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes begründen. Soweit sich das BVwG auf Diskriminierungen in Zusammenhang mit den religiösen Ansichten des Mitbeteiligten stütze, sei zu entgegnen, dass nicht erkennbar sei, ob es tatsächlich von einem Abfall vom Islam oder nur von einem „Nichtpraktizieren islamischer Glaubensvorschriften und Gebräuche“ ausgehe.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.
Bei der Erlassung der Ersatzentscheidung gemäß § 63 Abs. 1 VwGG sind die Verwaltungsgerichte an die vom Verwaltungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis geäußerte Rechtsanschauung gebunden; eine Ausnahme bildet der Fall einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage. Erfolgte die Aufhebung einer angefochtenen Entscheidung, weil es das Verwaltungsgericht unterlassen hat, die für die Beurteilung des Rechtsfalles wesentlichen Tatsachenfeststellungen zu treffen, so besteht die Herstellung des der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustandes darin, dass das Verwaltungsgericht jene Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durchführt und die Feststellungen trifft, die eine erschöpfende Beurteilung des maßgebenden Sachverhaltes ermöglichen (vgl. VwGH 1.3.2018, Ra 2017/19/0425, mwN).
10 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - auf die im Vorerkenntnis hingewiesen wurde - ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. bereits Rn. 7 des Vorerkenntnisses; VwGH 29.1.2021, Ra 2020/01/0422, jeweils mwN).
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits festgehalten, dass in der Rechtsprechung bereits klargestellt wurde, dass für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens afghanischer Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus und von Erkrankungen an Covid-19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, weil es darauf bei der Frage, ob im Fall seiner Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu gewärtigen ist, nicht ankommt, solange diese Maßnahmen nicht dazu führen, dass die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen wäre (vgl. etwa VwGH 22.1.2021, Ra 2020/01/0423, mwN).
12 Im Übrigen entspricht es zudem der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. etwa VwGH 9.2.2021, Ro 2021/01/0007, mwN).
13 Das BVwG hat zwar - aufgrund fehlender sozialer Bindungen und eingeschränkter beruflicher Chancen wegen seiner bisherigen Tätigkeit als Tagelöhner sowie aufgrund der angespannten Arbeitsmarktsituation und Versorgungslage in den Großstädten als Folge der Covid-19-Pandemie - eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten festgestellt. Weshalb der Mitbeteiligte durch diese Umstände - trotz Vertrautheit mit den kulturellen Gegebenheiten, der Sprache und der Tatsache, dass es sich bei ihm um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann handelt, der nach den Feststellungen des BVwG auch keiner Covid-19-Risikogruppe angehört - aber in eine Situation ernsthafter individueller Bedrohung des Lebens käme, zeigt das BVwG nicht auf. Die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit einer Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinn der obigen Rechtsgrundsätze ergibt sich daher nicht.
14 Auch die Annahme des BVwG, dem Mitbeteiligten sei eine Rückkehr nach Kabul nicht zumutbar, vermag die Zuerkennung von subsidiärem Schutz nicht zu rechtfertigen, denn die Zumutbarkeit einer Rückkehr ist bei der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative, nicht aber bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz zu prüfen (vgl. VwGH 19.10.2020, Ra 2020/01/0362, mwN). Hinsichtlich der vom BVwG darüber hinaus geprüften und letztlich verneinten innerstaatlichen Fluchtalternativen Herat und Mazar-e Sharif genügt der Hinweis, dass die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK in der Herkunftsregion nicht dargetan wurde und es daher auf die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative aus diesem Grund nicht ankommt (vgl. VwGH 15.3.2021, Ra 2021/20/0037, mwN).
15 Das angefochtene Erkenntnis war somit ausgehend von diesen Grundsätzen sowohl hinsichtlich des Spruchpunktes A) I. als auch hinsichtlich des Spruchpunktes A.) II., weil dieser mit der Aufhebung des Spruchpunktes A.) I. seine rechtliche Grundlage verliert (vgl. erneut VwGH 29.1.2021, Ra 2020/01/0422, mwN), wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 26. Mai 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021010081.L00Im RIS seit
18.06.2021Zuletzt aktualisiert am
28.06.2021