TE Vwgh Beschluss 2021/5/27 Ra 2021/19/0157

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Veröffentlicht am 27.05.2021
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §62 Abs4
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
FrPolG 2005 §52
MRK Art8
VwGVG 2014 §17
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des M A H, vertreten durch Mag. Thomas Klein, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Sackstraße 21, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Jänner 2021, I412 2155967-1/16E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 9. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er mit seiner Verfolgung durch Angehörige des IS und durch schiitische Milizen begründete.

2        Mit Bescheid vom 14. April 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), das am 11. Dezember 2020 eine mündliche Verhandlung durchführte, in der jedoch die mündliche Verkündung des Erkenntnisses unterblieb.

4        Am 12. Jänner 2021 genehmigte die Richterin des BVwG die Urschrift des Erkenntnisses, mit dem die vom Revisionswerber erhobene Beschwerde als unbegründet abgewiesen und ausgesprochen wurde, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Die den Parteien des Beschwerdeverfahrens daraufhin übermittelte Erledigung war mit einer mit 12. Jänner 2021 datierten Amtssignatur versehen, wies - im Unterschied zur Urschrift des Erkenntnisses - jedoch kein Datum auf und enthielt in den Entscheidungsgründen vereinzelt von der Urschrift abweichende Formulierungen im Rahmen der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung, wobei letztere zwei kurze Absätze gelb hinterlegt aufwies, von denen einer unvollständig geblieben war und der andere sich offensichtlich nicht auf die Person des Revisionswerbers bezog.

6        Am 13. Jänner 2021 übermittelte das BVwG den Verfahrensparteien im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs bzw. über einen elektronischen Zustelldienst das mit 12. Jänner 2021 datierte Erkenntnis in der Fassung der Urschrift des Erkenntnisses, versehen mit einer Amtssignatur, die mit 13. Jänner 2021 datiert war. In einem Begleitschreiben an den Rechtsvertreter des Revisionswerbers wurde darauf hingewiesen, dass am Tag zuvor eine „fehlerhafte Version“ der Entscheidung übermittelt worden sei und in der Anlage nunmehr die „finale Version“ übermittelt werde.

7        Mit Beschluss vom 10. März 2021, E 600/2021-6, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen das Erkenntnis des BVwG erhobenen Beschwerde ab und trat diese dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

8        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

9        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

10       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

11       Unter diesem Gesichtspunkt bringt die Revision zunächst vor, dass die Erlassung des undatierten (von der Urschrift abweichenden) Erkenntnisses wegen des Grundsatzes „ne bis in idem“ einer neuerlichen Erlassung des (mit der Urschrift übereinstimmenden) Erkenntnisses entgegenstehe, weshalb sich die Revision gegen „das erstere Erkenntnis“ richte.

Gemäß § 62 Abs. 4 AVG kann die Behörde Schreib- und Rechenfehler oder diesen gleichzuhaltende, offenbar auf einem Versehen oder offenbar ausschließlich auf technisch mangelhaftem Betrieb einer automationsunterstützten Datenverarbeitungsanlage beruhende Unrichtigkeiten in Bescheiden jederzeit von Amts wegen berichtigen. Dies gilt auch für das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, weil gemäß § 17 VwGVG die Bestimmung des § 62 Abs. 4 AVG auch von diesen anzuwenden ist (vgl. VwGH 2.8.2019, Ra 2019/09/0056). Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung die Zulässigkeit der Berichtigung nach § 62 Abs. 4 AVG auch für den Fall bejaht, dass die schriftliche Ausfertigung nicht mit der Urschrift übereinstimmt (vgl. VwGH 28.2.2019, Ra 2018/12/0041, mwN).

12       Die Anwendung des § 62 Abs. 4 AVG setzt einen fehlerhaften Verwaltungsakt mit der Maßgabe voraus, dass eine auf einem Versehen beruhende Unrichtigkeit sowie deren Offenkundigkeit gegeben ist. Die Berichtigung ist auf jene Fälle der Fehlerhaftigkeit eingeschränkt, in denen die Unrichtigkeit eine offenkundige ist, wobei es allerdings ausreicht, wenn die Personen, für die der Bescheid bestimmt ist, die Unrichtigkeit des Bescheides hätten erkennen können und die Unrichtigkeit ferner von der Behörde - bei entsprechender Aufmerksamkeit - bereits bei der Erlassung des Bescheides hätte vermieden werden können. Bei der Beurteilung einer Unrichtigkeit als offenkundig im Sinne des § 62 Abs. 4 AVG kommt es letztlich auf den Inhalt der übrigen Bescheidteile (zB die Begründung) bzw. auf den Akteninhalt an (vgl. VwGH 3.12.2020, Ra 2020/19/0275, mwN).

13       In der vorliegenden Rechtssache erweisen sich die Abweichungen von der Urschrift des Erkenntnisses in der zuerst ausgefertigten Erledigung - gemessen am Gesamtumfang der Entscheidungsgründe - als geringfügig. Die gelbe Hinterlegung einzelner Textpassagen sowie das Fehlen des Erkenntnisdatums lassen auch die Fehlerhaftigkeit der Ausfertigung offenkundig erscheinen, die somit einer Berichtigung im Wege des § 62 Abs. 4 AVG zugänglich ist.

14       Handelt es sich um offenbar auf Versehen beruhende Unrichtigkeiten, die nach § 62 Abs. 4 AVG jederzeit hätten berichtigt werden können, ist die Entscheidung auch vor einer Berichtigung bereits in der entsprechend richtigen Fassung zu lesen (vgl. nochmals VwGH Ra 2020/19/0275). Deshalb erweist sich die Revision - soweit sie sich auf von der Urschrift abweichende Textpassagen der fehlerhaften Ausfertigung bezieht - als unberechtigt.

15       Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision weiters vor, das BVwG habe den Bezug des Revisionswerbers von Grundversorgungsleistungen sowie seinen Kontakt mit seiner Familie im Irak aktenwidrig festgestellt und bei seiner im Rahmen der Rückkehrentscheidung vorgenommenen Interessenabwägung zulasten des Revisionswerbers berücksichtigt. Zu Unrecht habe das BVwG die seit Juli 2019 bestehende Beziehung des Revisionswerbers mit einer österreichischen Staatsbürgerin, mit welcher er in einem gemeinsamen Haushalt lebe, nicht als von Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben qualifiziert, und dem Umstand, dass sich der Revisionswerber der Unsicherheit des Aufenthalts bewusst gewesen sein musste, zuviel Gewicht beigemessen, da im Zeitpunkt, als der Revisionswerber die Beziehung eingegangen war, noch keine rechtskräftig auferlegte Rückkehrverpflichtung bestanden habe. Dass die Integration des Revisionswerbers aufgrund der von ihm nicht zu verantwortenden langen Dauer des Asylverfahrens ermöglicht worden sei, sei ebenso wenig ausreichend berücksichtigt worden, wie die Möglichkeit der unmittelbaren Aufnahme einer unselbständigen Beschäftigung, die der Revisionswerber durch die Vorlage eines Arbeitsvorvertrags nachgewiesen habe.

16       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG dar (vgl. VwGH 5.2.2021, Ra 2020/19/0322, mwN).

17       Das BVwG hat - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - im Rahmen der Interessenabwägung alle entscheidungswesentlichen Umstände berücksichtigt und ist im Ergebnis von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens gegenüber den privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich ausgegangen. Die in der Revision als aktenwidrig gerügte Feststellung des Kontakts des Revisionswerbers mit seiner im Irak lebenden Familie begründete das BVwG beweiswürdigend mit den Angaben des Revisionswerbers, denen ein gänzlicher und unwiederbringlicher Kontaktabbruch nicht widerspruchsfrei zu entnehmen gewesen sei. Auch in Bezug auf den festgestellten Bezug der Grundversorgung (bis zur Begründung des gemeinsamen Haushalts mit seiner Lebensgefährtin) vermag die Revision nicht aufzuzeigen, dass die Beweiswürdigung an einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangelhaftigkeit leide.

Der Verwaltungsgerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN). Wie die Revision zutreffend ausführt, hat der Verwaltungsgerichtshof bereits dargelegt, dass ein gradueller Unterschied darin besteht, ob die Integration auf einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus basiert oder während eines einzigen, ohne schuldhafte Verzögerung durch den Fremden lange dauernden Asylverfahrens erfolgt ist (siehe VwGH 27.4.2020, Ra 2020/21/0121, mwN). Im Hinblick darauf, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (erst) bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 6.10.2020, Ra 2019/19/0332, mwN), zeigt die Revision jedoch fallbezogen keine unvertretbare Interessenabwägung auf. Dies gilt sowohl hinsichtlich der angestrebten Arbeitsaufnahme als auch in Bezug auf die rechtliche Einordnung der Beziehung des Revisionswerbers zu seiner österreichischen Lebensgefährtin als Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK, da es nur von untergeordneter Bedeutung ist, ob die vom Fremden ins Treffen geführte Beziehung als „Familienleben“ oder als „Privatleben“ zu qualifizieren ist, weil bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung im Ergebnis die tatsächlich bestehenden Verhältnisse maßgebend sind (VwGH 22.1.2021, Ra 2020/20/0438, mwN).

Es ist nicht zu sehen, dass das BVwG bei der Gewichtung dieser Umstände die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs aufgestellten Leitlinien missachtet oder in unvertretbarer Weise zur Anwendung gebracht hätte. Ob die einzelfallbezogene Abwägung, die zu einem zumindest vertretbaren Ergebnis gelangt ist, in jeder Hinsicht zutrifft, stellt keine grundsätzliche Rechtsfrage dar (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2019/19/0524).

18       In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 27. Mai 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190157.L00

Im RIS seit

21.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

06.07.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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