TE OGH 2021/3/30 10Ob51/20b

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Veröffentlicht am 30.03.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Y*****, geboren ***** 2014, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe, Rechtsvertretung Bezirke 16, 17, 18 und 19, 1170 Wien, Kalvarienberggasse 29), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Kindes gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 22. Juli 2020, GZ 48 R 65/20v-46, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Döbling vom 21. Februar 2020, GZ 7 Pu 74/17k-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts zu lauten hat:

„1. Dem Kind wird von 1. 2. 2020 bis 31. 7. 2020 und von 1. 2. 2021 bis längstens 31. 1. 2025 gemäß den §§ 3, 4 Z 1 UVG ein monatlicher Unterhaltsvorschuss von 370 EUR, jedoch höchstens in der Höhe des jeweiligen Richtsatzes für pensionsberechtigte Halbwaisen gemäß §§ 293 Abs 1 lit c, sublit bb erster Fall, 108 f ASVG gewährt.

2. Der Präsident des Oberlandesgerichts Wien wird um Auszahlung der Vorschüsse an die Mutter L***** als Zahlungsempfängerin ersucht.

3. Dem (durch die Zustellkuratorin vertretenen) Unterhaltsschuldner wird aufgetragen, die Pauschalgebühr von 370 EUR binnen 14 Tagen zu zahlen.

4. Dem (durch die Zustellkuratorin vertretenen) Unterhaltsschuldner wird weiters aufgetragen, alle Unterhaltsbeträge – ansonsten ihnen keine schuldbefreiende Wirkung zukäme – an den Kinder- und Jugendhilfeträger Land Wien, Kinder- und Jugendhilfe, Rechtsvertretung Bezirke 16, 17, 18 und 19, Kalvarienberggasse 29, 1170 Wien (als gesetzlichen Vertreter des Kindes zur Durchsetzung der Unterhaltsansprüche) zu zahlen.

5. Der Kinder- und Jugendhilfeträger wird ersucht, die bevorschussten Unterhaltsbeträge einzutreiben und, soweit eingebracht, monatlich dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien zu überweisen.

6. Die Mutter des Minderjährigen sowie der Unterhaltsschuldner haben dem Gericht unverzüglich den Eintritt jeden Grundes für die Herabsetzung oder Einstellung der Vorschüsse mitzuteilen. Auf die Ersatzpflicht nach § 22 UVG wird hingewiesen.“

Text

Begründung:

[1]            Der unterhaltspflichtige Vater verpflichtete sich am 3. 6. 2016 mit Unterhaltsvereinbarung nach § 210 Abs 2 ABGB zu einer monatlichen Unterhaltsleistung an seinen Sohn Y***** von 370 EUR ab 1. 2. 2016 (AS 81). Bemessungsgrundlage war das damalige Nettoinkommen des Vaters als Flüchtlingsbetreuer von monatlich 2.766 EUR inklusive Sonderzahlungen und Honorare für seine Übersetzungstätigkeiten (AS 81, AS 50). Er ist für zwei weitere Kinder (geboren 2007 und 2019) unterhaltspflichtig.

[2]       Am 13. 2. 2020 beantragte das Kind Titelvorschüsse nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG. Der Vater habe den laufenden Unterhalt nach Eintritt der Vollstreckbarkeit des Unterhaltstitels nicht zur Gänze geleistet. Dem Antrag war ein Exekutionsantrag nach § 294a EO an das Bezirksgericht Döbling vom 10. 2. 2020 angeschlossen.

[3]       Mit Beschluss vom 21. 2. 2020 (ON 18) wies das Erstgericht den Antrag auf Gewährung von Titelvorschüssen mit der Begründung ab, dass statt eines Antrags nach § 294a EO ein Exekutionsantrag auf bewegliche körperliche Sachen unter Berücksichtigung von § 372 EO einzubringen gewesen wäre. Nach dem dem Antrag beiliegenden Versicherungsdatenauszug vom 10. 2. 2020 habe der Vater als Unterhaltsschuldner bis 1. 12. 2019 Arbeitslosengeld bezogen. Wie sich aus einer neuerlichen Versicherungsdatenabfrage ergebe, habe er auch im Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz (21. 2. 2020) weiterhin keine Gehaltsforderungen oder keine anderen in fortlaufenden Bezügen bestehende Forderungen. Ein Exekutionsantrag nach § 294a EO sei daher nicht zielführend.

[4]       Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindes nicht Folge. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts. Entscheidend für die Beurteilung, ob ein Unterhaltsschuldner in die Gruppe der von § 3 Z 2 erster Fall UVG erfassten Schuldner einzuordnen sei, die zur Exekutionsführung nach § 294a EO verpflichtet seien, oder ob er zu jener Gruppe gehöre, gegen die eine Fahrnisexekution kombiniert mit einer Exekution nach § 372 EO geführt werden müsse, sei dessen sozial-wirtschaftliche Einordnung.

[5]       Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs nachträglich zur Klärung der Frage zu, ob dieser Grundsatz auch dann gelte, wenn der Unterhaltsschuldner über längere Zeit kein Arbeitseinkommen iSd § 290a EO bezogen habe.

Rechtliche Beurteilung

[6]       Der Revisionsrekurs des Kindes ist zulässig und im Sinne einer Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen auch berechtigt.

[7]       Im Revisionsrekurs wird geltend gemacht, dass der Unterhaltsschuldner auch dann, wenn er derzeit keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehe, seiner sozial-wirtschaftlichen Einordnung nach offenbar der Gruppe der unselbständig Erwerbstätigen zuzuordnen sei, weshalb eine Exekutionsführung nach § 294a EO zu beantragen gewesen sei.

[8]       Diesen Ausführungen kommt Berechtigung zu:

[9]       1. Zum Erfordernis der Exekutionsführung:

[10]     1.1 § 3 Z 2 UVG setzt bei Geldunterhaltspflichtigen mit laufenden Entgeltansprüchen (Lohn, Gehalt, sonstige fortlaufende Bezüge) einen Exekutionsantrag nach § 294a EO und bei Geldunterhaltspflichtigen ohne laufende Bezüge iSd § 290a EO einen Antrag auf Fahrnisexekution, kombiniert mit einer Exekution nach § 372 EO voraus (10 Ob 24/17b).

[11]     1.2 Aufgrund der Subsidiarität der Vorschussgewährung gegenüber der Hereinbringung des Geldunterhalts vom Unterhaltsschuldner muss der Exekutionsantrag grundsätzlich erfolgversprechend in dem Sinn sein, dass damit die Möglichkeit besteht, den Geldunterhaltsanspruch auch zu lukrieren (RIS-Justiz RS0126246). Das Kind hat dabei nur einen, aber den „richtigen“ Schritt zu setzen, abhängig davon, welcher der beiden in § 3 Z 2 angeführten Gruppen der Unterhaltsschuldner zuzurechnen ist (2 Ob 241/01g; 10 Ob 35/10k; Neumayr in Schwimann/Kodek I4 § 3 UVG Rz 21 und 23).

[12]     1.3 Ein Exekutionsantrag nach § 294a EO ist bei einem Unterhaltsschuldner zu stellen, der den unselbständig Erwerbstätigen oder sonstigen Beziehern fortlaufender Bezüge (§ 290a EO) zuzurechnen ist, selbst wenn er gerade keiner Beschäftigung nachgeht, sonst aber im Allgemeinen aus einem solchen Einkommen (zB einem Arbeits- oder Pensionseinkommen) seinen Lebensunterhalt bestreitet. Eine Exekution zur Sicherstellung ist nur erforderlich, wenn der Unterhaltsschuldner offenbar nicht Bezieher eines Arbeitseinkommens im weiten Sinn des § 290a Abs 1 EO ist, sondern als selbständig Erwerbstätiger anzusehen ist.

[13]           1.4 Entscheidend für die Beurteilung, ob ein Unterhaltsschuldner zu den von § 3 Z 2 erster Fall UVG erfassten Schuldnern gehört, gegen die verpflichtend eine Exekution nach § 294a EO zu führen ist, oder ob er zu jener Gruppe gehört, gegen die Fahrnisexekution kombiniert mit Exekution nach § 372 EO geführt werden muss, ist seine sozial-wirtschaftliche Einordnung (2 Ob 241/01g; RS0131663).

[14]     1.5 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, welcher Gruppe der Unterhaltsschuldner zugehört, ist prinzipiell der Zeitpunkt der Exekutionsantragstellung, sofern ein konkreter zeitlicher und inhaltlicher Zusammenhang zwischen Exekutionsantrag und Vorschussantrag besteht (Neumayr in Schwimann/Kodek I5 § 3 UVG Rz 25). Dieser Zusammenhang ist vorliegendenfalls sowohl in zeitlicher als auch inhaltlicher Hinsicht zu bejahen.

[15]           1.6 Nach der Aktenlage war der geldunterhaltspflichtige Vater zuletzt 13 Jahre lang unselbständig als Flüchtlingsbetreuer (Sozialarbeiter) vollzeitbeschäftigt und erzielte neben seinem Einkommen aus dieser Tätigkeit auch noch zusätzliches Einkommen aus Honoraren für Übersetzungstätigkeiten. Nach Beendigung seiner unselbständigen Tätigkeit im Juni 2018 bezog er von 1. 7. 2018 bis 30. 6. 2019 Weiterbildungsgeld nach dem AlVG. Von 15. 8. 2019 bis 1. 12. 2019 hatte er Anspruch auf Arbeitslosengeld (AS 77). Von 1. 7. 2019 bis 2. 12. 2019 war er arbeitssuchend gemeldet. Zum Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz (21. 2. 2020) scheint keine Meldung einer versicherungspflichtigen Tätigkeit auf.

[16]           1.7 Stellt man für die Beurteilung der Frage der sozial-wirtschaftlichen Einordnung auf den Zeitpunkt der Exekutionsantragstellung im Februar 2020 ab, steht fest, dass der Unterhaltsschuldner ab Anfang Dezember 2019 weder Gehaltsforderungen noch andere in fortlaufenden Bezügen bestehende Forderungen mehr hatte. Im Hinblick auf die vorher langjährige unselbständige Beschäftigung ändert weder dieser Umstand noch die Tatsache des Arbeitsplatzverlustes etwas an der grundsätzlichen Einordnung in die Gruppe der unselbständig Erwerbstätigen (10 Ob 24/17b; Neumayr in Schwimann/Kodek I5 § 3 UVG Rz 25).

[17]           1.8 Es reichte daher aus, einen Exekutionsantrag nach § 294a EO zu stellen.

[18]     2. Zu den Voraussetzungen des § 7 Abs 1 UVG:

[19]     2.1 Im Fall eines Antrags auf Titelvorschüsse nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG sind die Vorschüsse nach § 7 Abs 1 Z 1 UVG ausnahmsweise ganz oder teilweise zu versagen, wenn sich die materielle Unrichtigkeit des Titels aus der Aktenlage ergibt (RS0076391 [T16]; 10 Ob 37/16p; 10 Ob 24/17b). Der aufgrund des Exekutionstitels gewährte Vorschuss soll der jeweiligen materiellen gesetzlichen Unterhaltspflicht entsprechen (RS0076391), um eine Belastung des Staates mit hohen, offensichtlich nicht der gesetzlichen Unterhaltspflicht entsprechenden Unterhaltsvorschüssen zu verhindern (10 Ob 24/17b).

[20]           2.2 An die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Voraussetzungen für die Versagung der Unterhaltsvorschüsse iSd § 7 Abs 1 Z 1 UVG ist ein strenger Maßstab anzulegen (RS0108443).

[21]           2.3 Anhaltspunkte gegen den aufrechten materiellen Bestand des Titels (§ 7 Abs 1 Z 1 UVG) könnten dann vorliegen, wenn sich aus der Aktenlage starke Anhaltspunkte für eine Änderung der Verhältnisse nach Titelschaffung ergeben. Diese könnten im vorliegenden Fall darin bestehen, dass der Unterhaltspflichtige seit dem Verlust seines Arbeitsplatzes nicht mehr in der Lage ist, seiner Unterhaltsverpflichtung entsprechend dem Titel nachzukommen.

[22]           2.4 An einer hohen Wahrscheinlichkeit der Unrichtigkeit des Titels im Sinn des § 7 Abs 1 Z 1 UVG fehlt es dann, wenn die Voraussetzungen für die Anspannung des Unterhaltsschuldners auf einen Unterhalt in Titelhöhe gegeben sind, dieser sich also an jenem Einkommen messen lassen muss, das er bei zumutbarer Ausschöpfung seiner Möglichkeiten („Anspannung seiner Kräfte“) zu erzielen in der Lage wäre (RS0076377 [T5]).

[23]           2.5 Die Anwendung des Anspannungsgrundsatzes setzt voraus, dass ausreichende, beweismäßig erfassbare Fakten für die Einschätzung der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners vorhanden sind (10 Ob 33/17a).

[24]           2.6 Nach der Aktenlage wurde der unterhaltspflichtige Vater 1975 in Palästina geboren, wo er ein Bachelor Degree in Business Administration erwarb, ohne jedoch in diesem Bereich gearbeitet zu haben. In Österreich war er 13 Jahre lang unselbständig als Flüchtlingsbetreuer beschäftigt. Sein aus dieser Berufstätigkeit erzieltes Einkommen von monatlich 2.000 EUR netto (exklusive Sonderzahlungen) und seine für Übersetzungstätigkeiten erzielten Honorare wurden der Unterhaltsvereinbarung im Jahr 2016 mit 370 EUR monatlich zugrunde gelegt. Da die D***** GmbH (der Arbeitgeber des Vaters) einige Häuser, in denen Flüchtlinge betreut worden waren, „zugesperrt“ hat, wurde das Arbeitsverhältnis des Vaters 2018 beendet. Bis Juni 2018 arbeitete er noch; danach war er ein Jahr lang in Bildungskarenz und absolvierte einen Spanischkurs. Informationen über seinen derzeitigen Aufenthalt sowie darüber, ob er einer Berufstätigkeit nachgeht, bestehen nicht; sein Aufenthalt ist unbekannt.

[25]           2.7 Legt man diese aktenmäßig erfassten Umstände der Einschätzung der Leistungsfähigkeit zugrunde, hat das Kind hinreichende Tatsachen glaubhaft gemacht, die den Schluss auf die Anspannbarkeit des Unterhaltsschuldners auf ein weiterhin erzielbares Einkommen in Höhe des bereits im Jahr 2016 verdienten Einkommens zulassen. Demnach kann nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die im Exekutionstitel im Jahr 2016 festgesetzte Unterhaltsverpflichtung zwischenzeitig materiell unrichtig geworden wäre. Allein Bedenken gegen die materielle Richtigkeit des Titels reichen für die gänzliche oder teilweise Versagung nicht aus.

[26]           2.8 In Abänderung der Entscheidung der Vorinstanzen sind dem Kind ab 1. 2. 2020 Titelvorschüsse nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG längstens bis 31. 1. 2025 zu gewähren. Die Einschränkung um den Zeitraum von 1. 8. 2020 bis 31. 1. 2021 folgt daraus, dass dem Kind zwischenzeitig mit rechtskräftigem Beschluss vom 13. 8. 2020 (ON 49) Unterhaltsvorschüsse gemäß § 7 1. COVID-19-JuBG, BGBl I 2020/16, in Höhe von monatlich 370 EUR gewährt worden waren.

Textnummer

E131599

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0100OB00051.20B.0330.000

Im RIS seit

19.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

22.06.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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