Entscheidungsdatum
16.12.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W105 2172690-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald BENDA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.09.2017, Zl. 1091290602-151565025, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.11.2020 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird gemäß den §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt und XXXX gemäß §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 Z 2 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islam, stellte am 15.10.2015 nach schlepperunterstützter illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen seiner Erstbefragung am 16.10.2015 gab der Beschwerdeführer neben seinen Angaben zum Reiseweg im Wesentlichen an, der Volksgruppe der Hazara anzugehören, sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islams zu bekennen, ledig zu sein, zehn Jahre eine Schule in Kabul besucht und vier Jahre an einer Universität in Kabul Chemie studiert zu haben. Er habe Afghanistan vor einem Monat verlassen, da ein mutmaßliches Mitglied der Taliban mehrmals zur Wohnung des Beschwerdeführers gekommen sei und der Mutter des Beschwerdeführers ausgerichtet habe, er solle seinen Job kündigen und für die Taliban arbeiten. Er habe für den Beschwerdeführer einen Zettel hinterlassen, auf dem gestanden sei, der Beschwerdeführer werde getötet, wenn er dies nicht tue.
3. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 19.07.2017 brachte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Integrationsunterlagen sowie afghanischer Dokumente in Vorlage und gab ergänzend an, er habe in der Stadt Ghazni nach seinem Bachelor-Studium der Chemie bei einem Unternehmen gearbeitet. Während er arbeiten gewesen sei, seien mehrere Männer zur Wohnung der Familie des Beschwerdeführers gekommen und hätten nach ihm gefragt. Seine Mutter habe ihnen gesagt, sie hätten sich an der Adresse geirrt. Sie seien zwei Tage später ein weiteres Mal gekommen und hätten der Mutter einen Brief übergeben. Er solle sich den Taliban anschließen und sich am nächsten Tag zu einer Adresse begeben, wo er abgeholt werden würde. Sollte er sich weigern, würde er umgebracht werden. Am nächsten Tag habe ihn seine Mutter wieder angerufen und berichtet, dass die Männer vor ihrem Haus auf ihn warten würden und er nicht nach Hause kommen könne. Der Chef des Beschwerdeführers habe ihm geholfen, nach Kabul zu seinem Onkel zu gelangen. Der Onkel habe ihm geholfen zu fliehen und habe einen Parlamentsabgeordneten über den Vorfall informiert, dieser habe ein Bestätigungsschreiben dazu verfasst, dieses lege der Beschwerdeführer nun vor. Nach seiner Flucht seien die Taliban wieder zu Wohnung der Familie gekommen und hätten die Mutter geschlagen. Seine Familie sei seitdem bereits mehrmals umgezogen.
Zu seinem Leben in Österreich gab der Beschwerdeführer an, er lebe von der Grundversorgung, sei ehrenamtlich aktiv, er habe eine Deutschprüfung des Sprachniveaus B2 bestanden, studiere an der Universität XXXX Chemie und lebe in einem Studentenheim. Er habe viele österreichische Freunde. Er verweise auf seine zahlreich vorgelegten Unterstützungsschreiben und Integrationsnachweise.
4. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 07.09.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Des Weiteren wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde ausgeführt, dass für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung besteht (Spruchpunkt IV.).
Begründend wurde unter Darlegung näherer Details im Wesentlichen ausgeführt, dass es dem Beschwerdeführer nicht gelungen sei, eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft zu machen. Es sei nicht davon auszugehen, dass er in Afghanistan asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt gewesen sei bzw. eine solche Verfolgung zukünftig zu befürchten hätte. Aus den Länderfeststellungen gehe hervor, dass er sich als afghanischer Staatsangehöriger die Möglichkeit hätte, in Kabul sesshaft zu werden. Die Sicherheitslage in Kabul könne als ausreichend sicher und stabil beurteilt werden, er habe auch schon mehrere Jahre in Kabul gelebt. Der Beschwerdeführer sei gesund, habe eine universitäre Ausbildung und verfüge über Berufserfahrung. Er führe in Österreich kein schützenswertes Familienleben.
5. Mit Verfahrensanordnung vom 13.09.2017 wurde dem Beschwerdeführer der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung vom selben Tag ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
6. Mit Schriftsatz seiner Rechtsberatung vom 04.10.2017 erhob der Beschwerdeführer gegen den oben genannten Bescheid fristgerecht in vollem Umfang Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Begründend wurde zusammenfassend darauf verwiesen, dass die im Bescheid getroffenen Länderfeststellungen unvollständig und unrichtig seien, insbesondere würden sie sich nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers auseinandersetzen. Es würden Feststellungen zur aktuellen Sicherheitslage in Kabul und zur Situation der Hazara und Schiiten in Afghanistan fehlen. Diesbezüglich wurden ergänzende Länderberichte vorgelegt. Zudem würden die Feststellungen der belangten Behörde auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung basieren. Entgegen der Ausführungen des BFA habe der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen detailliert und lebensnah geschildert. Ein Abgleich mit den einschlägigen Länderberichten hätte ergeben, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers plausibel sei. Dies habe das BFA unterlassen. Bei entsprechender Würdigung des Fluchtvorbringens hätte das BFA feststellen müssen, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan eine Zwangsrekrutierung durch die Taliban drohe, ihm aufgrund der landesweiten Vernetzung der Taliban keine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe und ihm der Asylstatus zu gewähren sei. Das Verfahren sei auch mangelhaft gewesen, da das BFA es unterlassen habe, Ermittlungen zum Familien- und Privatleben des Beschwerdeführers in Österreich anzustellen. Im Weiteren wurde auf den hohen Grad der Integration des Antragstellers und auf den sich daraus ergebenden Schutz seines Privatlebens in Österreich verwiesen und die Einvernahme von Freunden des Beschwerdeführers beantragt.
7. Mit Schriftsatz vom 12.12.2018 wurde die obige rechtsfreundliche Vertretung angezeigt und zu den Fluchtgründen ergänzend vorgebracht, dass der Beschwerdeführer bei dem afghanischen Energieunternehmen „ XXXX “ für administrative Tätigkeiten sowie für die Bearbeitung von neuen Anträgen zuständig gewesen sei. Eine bekannte Talibanfamilie habe einen speziellen Antrag gestellt, welchem jedoch nicht entsprochen worden sei, woraufhin die Familie die Rechnungen nicht mehr bezahlt und das Unternehmen die Energiezufuhr abgestellt habe. Diese Talibanfamilie sei daraufhin zu zehnt zum Beschwerdeführer nach Hause gekommen, der Beschwerdeführer sei mehrmals geschlagen und es sei ihm gedroht worden. Ungefähr eine Woche später sei es zu den weiteren Vorfällen, die der Beschwerdeführer im Verfahren vor dem Bundesamt geschildert habe, gekommen. Zudem wurden weitere Dokumente hinsichtlich der Integration des Beschwerdeführers zur Vorlage gebracht.
8. Am 13.10.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein weiteres Konvolut an Integrationsnachweisen des Beschwerdeführers ein.
9. Mit Schriftsatz vom 28.10.2020 erstattete der Beschwerdeführer durch seine rechtliche Vertretung eine Stellungnahme zur Situation in Afghanistan hinsichtlich der COVID-19 Pandemie.
10. Am 29.10.2020 beantragte der Beschwerdeführer die zeugenschaftliche Einvernahme von zwei engen Vertrauten und legte weitere Integrationsnachweise vor.
11. Am 05.11.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht unter der Beiziehung eines Dolmetschers für Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer und seine rechtliche Vertretung sowie zwei beigebrachte Zeugen teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl blieb der Verhandlung fern.
Das Beschwerderechtsgespräch gestaltete sich wie folgt:
I. Zum aktuellen Zustand des BF:
R: Wie geht es Ihnen gesundheitlich (sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht [die Begriffe werden mit dem BF abgeklärt, sodass ihm diese geläufig sind]): Sind Sie insbesondere in ärztlicher Behandlung, befinden Sie sich in Therapie, nehmen Sie Medikamente ein?
BF: Ich bin gesund. Ich hatte im Vorjahr eine Behandlung wegen eines Gallensteines. Ich muss alle 6 Monate zur Kontrolle.
II. Zum Verfahren vor dem BFA bzw. den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes:
R: Sie wurden bereits beim BFA bzw. vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Polizei) niederschriftlich einvernommen. Haben Sie dort immer die Wahrheit gesagt oder möchten Sie etwas richtig stellen?
BF: Ich habe die Wahrheit angegeben und halte alles aufrecht. Ich habe dort aber nicht alle Details sagen können.
R: Wurden Ihnen die Niederschriften, die die Polizei im Rahmen der Erstbefragung und das BFA im Zuge Ihrer Einvernahme mit Ihnen aufgenommen haben, rückübersetzt?
BF: Bei der ersten Einvernahme wurde nicht rückübersetzt unter der Angabe, dass es zu wenig Zeit gäbe.
III. Zur persönlichen Situation des BF:
a) in Österreich:
R: Leben Sie in Österreich alleine oder leben Sie mit jemandem zusammen? Wie ist Ihre aktuelle Wohnsituation? Leben Sie in einer Flüchtlingspension?
BF: Ich wohne privat.
R: Welches Niveau haben Sie in Deutschkursen gemacht und können Sie dazu Abschlüsse vorlegen?
BF: Wenn man hier studiert, muss man eine Ergänzungsprüfung in Deutsch machen. Das Niveau ist B2, das habe ich 2017 absolviert.
R: Habe Sie in Österreich familiäre Bindungen?
BF: Nein.
R: Wie sieht Ihr Kontakt zu Ihren Familienangehörigen in Afghanistan aus?
BF: Meine Familie befindet sich nicht mehr in Afghanistan, sie sind seit Anfang 2019 im Iran.
R: In diesem Zusammenhang verweise ich auf die eingebrachten Stellungnahmen zu Kontakten und sozialen Bindungen in Ö.
R: Gehen Sie in Österreich einer Beschäftigung nach?
BF: Ich habe versucht eine Arbeitsbewilligung zu bekommen. Ich habe mit der Diakonie und auch mit dem AMS geredet, das geht leider nicht.
R: Sind Sie in Österreich bisher strafrechtlich verurteilt worden?
BF: Nein.
R: Das Gericht kann sich auf Grund Ihrer Angaben nunmehr ein Bild über ihre privaten sowie familiären Bindungen in Österreich machen und erscheinen hierzu seitens des Gerichts keine weiteren Fragen offen. Wollen Sie sich noch weitergehend zu Ihren privaten und familiären Bindungen in Österreich bzw. ihrer Integration äußern?
BF: Ich fungiere teilweise auch als Dolmetscher und begleite Flüchtlinge unter anderem ins Krankenhaus oder habe auch für die XXXX -Landesregierung gedolmetscht.
b) im Herkunftsstaat:
R: Im angefochtenen Bescheid des BFA wurde u.a. bereits festgestellt, dass Sie aus Afghanistan stammen. Geben Sie bitte nochmals an, welcher Volksgruppe und Religionsgemeinschaft Sie angehören? Welche Sprachen sprechen Sie?
BF: Ich stamme aus der Provinz Gazni, ich bin Hazara und Schiit und spreche Dari.
R: Sie hatten in Ihrer Heimat die Möglichkeit eines längerjährigen Schulbesuchs und hatten Sie die Möglichkeit die Universität zu besuchen.
BF: Ich habe 12 Jahre lang die Schule besucht und 4 Jahre das Bachelor-Studium absolviert.
R: Welchen Beruf haben Sie in Ihrem Heimatland ausgeübt und wo war das und wie lange?
BF: Nachdem ich meine Ausbildung beendet habe, habe ich ca. 1 Jahr in einer Firma namens „ XXXX “ gearbeitet. 2014 habe ich das Studium abgeschlossen. Ich habe meine Arbeit 04.11.1393 begonnen (=24.01.2015) bis 24.06.1394 (= 15.09.2015).
R: Was haben Sie dort genau gemacht?
BF: Ich habe dort die Rechnungen geschrieben und die Anträge, die neu reingekommen sind, weitergeleitet.
R: Wo haben Sie in der Zeit der Tätigkeit gewohnt?
BF: In der Provinz Gazni mit meiner Familie in XXXX .
R: Wer von Ihrer Familie hat mit Ihnen zusammengewohnt?
BF: Meine Mutter, zwei Brüder und meine Schwester.
R: Womit beschäftigt sich dieses Unternehmen?
BF: Das ist ein Energieunternehmen. Die Firma ist sehr groß. Hauptsitz ist in Kabul und sie haben eine Verwaltungsstelle in Gazni. Sie erzeugen Strom. Wir hatten Generatoren und haben den Strom an die Menschen weitergeleitet. Wir hatten mehrere und große Generatoren. Ich weiß nicht genau die Leistung der Generatoren aber wir haben Strom mittels Kabeln aus Tatschikistan importiert.
R: Sie sind Chemiker, was haben Sie als Chemiker dort gemacht?
BF: In Afghanistan ist es schwer schwierig, überhaupt Arbeit zu bekommen. Ich habe in meinem Fach keine Arbeit gefunden. Ich war dann gezwungen, diese Arbeit anzunehmen und habe dort dann die Büroarbeiten gemacht.
R: Können Sie in 1-2 Sätzen sagen, warum Sie Afghanistan verlassen mussten?
BF: In der Gegend, in der ich lebte, befinden sich viele Taliban. Tagsüber sind sie nicht zu sehen. Nachts sind sie überall. Sie wollten 24 Stunden Stromanschluss haben. Wir hatten nicht so viel Kapazität was den Strom anbelangte und haben der Bevölkerung nur von 18:00 bis 22:00 Uhr Strom geliefert. Nach 22:00 Uhr gab es keinen Strom. Sie wollten aber 24 Stunden Stromanschluss haben.
R: Wo wollten die Taliban genau dauerhaft Strom?
BF: Das war in einer Ortschaft namens XXXX . In 3-4 Häusern wollten Sie 24 Stunden Strom haben. Es waren dort insgesamt mehrere Häuser.
R: Ist diese Ortschaft so bedeutend, dass dort jedes Haus mit Strom angeschlossen ist?
BF: Es ist mitten in Gazni Stadt. Es ist ein Distrikt von Gazni. Das ist ein Bezirk.
R: Wann hatten Ihre Probleme begonnen? Erzählen Sie im Detail was Sie persönlich erlebt haben.
BF: Wir haben ihnen diese 24 Stunden Strom nicht geliefert. Sie haben dann für 3 oder 4 Monate die Stromrechnung nicht bezahlt. Nachdem wir ihnen dann den Strom abdrehten, sind sie zu uns gekommen. Zu mir nachhause sind sie gekommen.
R unterbricht: Wie viele Personen sind in diesem Unternehmen in Gazni, an der Stelle an der Sie gearbeitet haben, beschäftigt?
BF: Ungefähr 47-50 Personen.
R: Wer entscheidet, welche Gegend oder welcher Haushalt wieviel Strom bekommt?
BF: Wir hatten mit unseren Chef Sitzungen. Unser Chef hat die Entscheidungen getroffen.
R: Wie heißt der Chef und wie alt ist er?
BF: Ing. XXXX . Er ist ungefähr 42 Jahre alt.
R: Dieser Mann entscheidet also darüber, ob auch die Personen, die an Sie herangetreten sind, Strom haben oder nicht?
BF: Ja.
R: Wie würden Sie Ihre eigene Position in der Hierarchie in dem Unternehmen oder besonders der Zweigstelle Gazni bezeichnen?
BF: Ich war Büroleiter (Office Manager).
R: Hatten Sie selbst eine Entscheidungsbefugnis?
BF: Ich habe mit meinem Chef gesprochen. Die Entscheidungen musste ich dann treffen. Wir mussten die Anträge an unseren Chef herantragen. Wir sagten uns, dass die Leute so und so viel Strom haben wollen und er meinte, dass das nicht geht. Er hat also entschieden.
R: Hat Ihr Chef zu irgendeinem Zeitpunkt mitgeteilt, dass Taliban an ihn herangetreten wären oder dass er bedroht worden wäre.
BF: Nein, er hat mir selber nichts gesagt. Sein Fahrer hat allerdings die Taliban einmal mitgenommen. Die Taliban haben seinen Fahrer festgenommen, entführt und mitgenommen.
R: Aus welchem Grund?
BF: Er wurde zusammengeschlagen. Sie haben ihn zu sich mitgenommen, damit er dort ihren Generator einstellt. Er meinte aber, dass er sich dort nicht auskennt. Das habe ich von dem Fahrer selbst gehört. Als er sagte, dass er sich nicht auskennt, haben sie ihm einen Laptop gebracht, worauf Fotos zu sehen waren von allen in der Firma. Das waren Taliban von außerhalb von Gazni, das hat mit meiner Sache nichts zu tun.
R: War Ihr Chef zu irgendeinem Zeitpunkt bedroht? Wissen Sie darüber etwas?
BF: Ich weiß darüber nichts.
R: Erzählen Sie nun über Ihre eigenen Gründe, die dann dazu führten, dass Sie das Land verließen.
BF: Ich war zuständig für diesen Bezirk, wo sie gelebt haben. Nachdem sie keinen Strom mehr bekommen haben, waren sie bei mir zuhause. Ungefähr 10-12 Personen waren das. Sie haben meinen Kragen festgenommen. Dann haben sie mich geschlagen.
R: Fangen Sie am Anfang an. Wann, wo und wie genau war das?
BF: Das war ungefähr zwei Wochen bevor ich hergekommen bin. Danach sind die Nachbarn gekommen und haben uns getrennt. Eine Woche später haben sie mich dann bedroht. Eine Woche später war ich in der Arbeit im Büro. Meine Mutter hat mich angerufen und sagte, es sind einige Personen zu uns nachhause gekommen und suchen nach mir.
R: Wann genau hat das begonnen? Gibt es einen Anhaltspunkt?
BF: Das war 2015. Ich glaube das war an einem Montag oder an einem Dienstag.
R: Arbeiteten sie grundsätzlich Montag bis Freitag?
BF: Nein Samstag bis Donnerstag.
R: Was war der konkrete Anfangspunkt dieser Ereignisse mit den Taliban?
BF: Der Hauptgrund war, dass sie einen Grund gesucht haben, mit mitzunehmen. Sie wussten, dass ich gebildet bin und wollten, dass ich für sie arbeite.
R: Konkret was war das erste Ereignis von dem Sie Kenntnis erlangt haben.
BF: Die erste Begegnung war, als diese Personen zu mir nachhause gekommen sind und mich am Kragen gepackt haben.
R: Ich halte fest: an jenem Montag oder Dienstag waren Sie also persönlich zuhause. Diese Leute sind zu Ihnen nachhause gekommen und haben Sie physisch attackiert. Das war der Anfangspunkt der Ereignisse.
BF: Ja. Das war gegen Abend.
R: Warum haben Sie dann sowohl vor der Polizei als auch vor dem BFA angegeben, dass Sie eines Tages, als Sie am Arbeitsplatz waren, von der Mutter angerufen wurden, dass irgendjemand zuhause nach Ihnen gefragt habe. Das sei am Nachmittag gewesen. Wann war jetzt das erste Ereignis?
BF: Das erste Mal sind sie zu mir nachhause gekommen, als ich persönlich zuhause gewesen bin.
R: Warum haben Sie weder vor der Polizei, noch bei der umfassenden Befragung vor dem BFA ein solch dramatisches Ereignis einer persönlichen Konfrontation mit Personen, die Sie sogar physisch angegriffen haben, erwähnt?
BF: Vor der Befragung beim BFA habe ich mich mit einem Freund ausgetauscht. Er hat mir geraten, diese Geschichte nicht zu erzählen. Der Hauptgrund, meiner Bedrohung würde erst später anfangen und ich solle erst ab da erzählen.
R: Wie lange vor Ihrer Ausreise war Ihr Ereignis, als Unbekannte abends zu Ihnen nachhause kamen und Sie persönlich attackierten?
BF: 2 Wochen vor der Ausreise.
R: Wann war dieser Anruf der Mutter?
BF: Eine Woche nach diesem Ereignis. Also eine Woche vor meiner Flucht.
R: Was genau hat Ihnen Ihre Mutter an jenem Nachmittag am Telefon gesagt?
BF: Meine Mutter sagte mir, dass einige Personen vor der Tür stehen und nach mir fragen.
R: Sie haben bei der Ersteinvernahme angegeben, Ihre Mutter habe Sie am Arbeitsplatz angerufen und gesagt, dass an der Tür ein Mann war, der nach Ihnen frage und habe Sie zu diesem Mann gesagt… Wie passt das zusammen?
BF: Grundsätzlich sprich, nur eine Person von ihnen. Die anderen waren weiter entfernt. Das ist üblich, dass nur eine Person und spricht.
R: Vor dem BFA haben Sie angegeben, Ihre Mutter habe gesagt, es wären mehrere Personen bei Ihnen zuhause und würden nach Ihnen fragen. Sehen Sie den Unterschied?
BF: Wenn mehrere Personen kommen, ist es so in unserem Sprachgebrauch, dass sie nicht alle gleich fragen, sondern nur einer von ihnen die Fragen stellt.
R: Hat es dann noch ein anderes, weiteres Ereignis gegeben?
BF: Meine Mutter sagte dann, das ist die falsche Adresse hier. Unter diesem Namen wohnt hier niemand. Meine Mutter erzählte mir dann, dass diese Personen die traditionelle afghanische Kleidung anhatten. Das heißt, sie waren wie die Taliban gekleidet. Die Paschtunen/Taliban ziehen sich gleich an.
R: Hat es dann noch ein Ereignis gegeben?
BF: Ja, nachdem sie weg sind. 2 Tage später sind sie wiedergekommen. Sie hatten einen Drohbrief meiner Mutter gegeben. Meine Mutter hat mich wieder angerufen und mir das alles erzählt. Das erste Mal als sie bei uns waren und meine Mutter mich anrief, habe ich diese Drohung nicht ernst genommen, weil ich dachte, das sind ganz normale Paschtunen.
R: Was war nun mit diesem ersten Vorfall, wo Sie zuhause waren? Was ist da genau geschehen?
BF: Sie wollten 24 Stunden Strom haben. Sie haben für 3 oder 4 Monate die Stromrechnung nicht bezahlt.
R: Was ist genau passiert an jenem Abend?
BF: Sie sind zu uns nachhause gekommen, standen bei uns vor der Tür. Sie sagten, wer bist du, der uns den Strom abdreht.
R: Sie wurden bei dieser Gelegenheit offenbar bedroht, was hat man genau gesagt?
BF: „Bist du nun so wichtig, dass du uns den Strom abdrehst. Wir werden dich umbringen.“
R: Wussten Sie sofort, um welchen Sachverhalt es sich handelt?
BF: Sie sagten mir, warum ich Ihnen den Strom abgedreht hätte.
R: Hatten Sie nach diesem Vorfall Angst?
BF: In Afghanistan hat man grundsätzlich Angst, wenn man das Haus verlässt.
R: Haben Sie damals Angst gehabt?
BF: Ja.
R: Wie können Sie dann heute hier aussagen, dass Sie jenen zweiten Vorfall, eine Woche später, als diese Leute wieder zu Ihrem Haus gekommen sind und wieder die Mutter anwesend war, nicht ernst genommen haben?
BF: Als meiner Mutter mich anrief, dachte ich, dass es sich um ganz normale Bevölkerung, die keinen Strom haben, handelt.
R: Wäre es nicht naheliegend, dass solche Leute sich unmittelbar an das Unternehmen wenden?
BF: Weil sie mich kannten, sind sie nicht zur Arbeitsstelle, sondern zu mir nachhause gekommen.
R: Hat es solche Interventionen auch am Dienstort gegeben?
BF: Die neuen Anträge haben sie bei der Firma gemacht. Wenn Personen kleinere Probleme hatten, sind sie zu mir nachhause gekommen. Beispielsweise wenn der Strom ausgefallen ist.
R: Was wäre ein größeres Problem gewesen?
BF: Zum Beispiel, wenn der Stromzähler nicht funktioniert. Ich habe selber die Stromzähler abgelesen. Die Rechnungen haben wir anhand der Stromzähler gestellt.
R: Jetzt wurden Sie also 2 Wochen vor der Ausreise persönlich mit dem Tod bedroht.
BF: Ja.
R: Was glauben Sie – und haben Sie ein abgeschlossenes Universitätsstudium – würde man eher Asyl bekommen, wenn man persönlich angegriffen und mit dem Tod bedroht wird, oder wenn nur irgendwelche Unbekannte einen Drohbrief dalassen.
BF: Damals kannte ich mit den Asylgesetzen überhaupt nicht aus und ich wusste nicht was wichtig ist. Er hat selbst die anderen beraten. Er ist selbst Asylbewerber und hat einen positiven Bescheid.
R: Wann war der Zeitpunkt für Sie gekommen, dass Sie wussten, Sie müssten Afghanistan sofort verlassen?
BF: Als sie mir den Drohbrief geschickt haben, dass ich mit ihnen zusammenarbeiten solle.
R: Die Todesdrohung wog also weniger schwer als irgendwelche Briefe?
BF: Ja, es ist ein Unterschied, denn die Leute in unserem Bezirk kennen mich. Diejenigen, die bei uns zuhause waren und mich am Kragen gepackt haben, kannten mich ja irgendwie. Ich habe das nicht so ernst genommen.
R: Sie waren zu Beschwerdeerhebung von der Diakonie Flüchtlingsdienst vertreten. Auch im Beschwerdeschriftsatz befindet sich kein Hinweis auf eine höchstpersönliche Bedrohung warum.
BF: Ich habe Deutsch mit der Vertretung gesprochen. Ich hatte keinen Dolmetscher.
R: Wie haben Sie sich nach dem zweiten Anruf Ihrer Mutter – also nach Erhalt dieses Drohbriefes – verhalten?
BF: Ich bin nachhause, habe den Brief gelesen. Darin war geschrieben: „Wir wissen, dass du Chemie studiert hast, du sollst mit uns zusammenarbeiten.“
R: Warum haben Sie vor dem BFA ausgesagt, Sie seien unmittelbar danach, zu Ihren Chef gegangen, was ach schlüssig wäre, weil Sie weiters aussagten, dass Ihre Mutter meinte, die Personen würden in der Nähe des Wohnhauses auf Sie warten. Warum sagen Sie heute, Sie sind nachhause gegangen?
BF: Ich bin nachhause, habe den Brief gelesen. Am nächsten Tag bin ich zur Arbeit und habe mit meinem Chef gesprochen. Dann habe ich den Inhalt des Briefes meinem Chef erzählt.
R: Was hat Ihnen Ihr Chef geraten?
BF: Mein Chef sagte, sie werden das nicht akzeptieren, wenn du nicht hingehst und dich umbringen. Wenn wir die Polizei benachrichtigen, ist deine Familie in Gefahr. Außerdem können Sie weder dir, noch deiner Familie behilflich sein. Er sagte, „bleib hier und geh nicht nachhause“. Danach hat er mich zu einem Verwandten gebracht. Am nächsten Tag bin ich nach Kabul mit einem Escort gefahren.
R: Wie lange waren Sie in Kabul?
BF: Ungefähr eine Woche.
R: Würden Sie Ihre eigene Bedeutung und Stellung als so groß und wichtig einschätzen, dass Taliban oder andere Kämpfer landesweit nach Ihnen suchen würden?
BF: Ich habe nicht eine so hohe berufliche Stellung. Aber wenn jemand auf die Taliban nicht hört und sie nicht befolgt, werden sie einen umbringen.
R: Es liegen dem Gericht umfangreiche Unterlagen zu Ihrer Integrationsleistung vor.
R: Gibt es darüber hinaus oder zur Ihrer Integrationsleistung noch etwas, das nicht in den Unterlagen vorliegt, das Sie erwähnen möchten?
BF: Auch beim Verein „ XXXX “ habe ich etwas gemacht. Wir haben für Kinder in diesem Verein Tiervorstellungen mit Hasen, Meerschweinchen usw. gemacht.
R: Zurück zu dem Vorfall, bei dem Sie mit dem Tode bedroht wurden, können Sie diesen Vorfall möglichst detailliert vorlegen?
BF: Sie standen vor meiner Tür und sagten zu mir: „Wer bist du, der sich traut, unseren Strom abzudrehen.“ Es gab eine Auseinandersetzung. Das waren diejenigen, die von uns 24 Stunden Stromlieferung wollten. Sie sind Angehörige der Taliban. 10-12 Personen waren das.
R: Wie lange hat der Vorfall gedauert?
BF: Eine halbe Stunde ca. Die Nachbarn sind gekommen und haben uns dann getrennt.
Hereingebeten wird die Zeugin:
XXXX , geboren am XXXX , Pensionistin, vorher Erwachsenenbilderin.
XXXX
R erteilt eine Rechtsbelehrung.
R: In welchem Zusammenhang haben Sie den anwesenden BF kennengelernt?
Z 1: Im Notquartier XXXX , er war dort im Sprachcafe. Ich habe ihn dort gesehen. Selbst habe ich dort Deutschkurse gemacht. Dann war ein großes Fest, dort hatte ich zum ersten Mal persönlich Kontakt. Er hat an der Organisation dort teilgenommen. Wir sind uns im Büro der Agenda 21 in Liesing wieder begegnet. Wir sind dort beide in der Steuerungsgruppe. Die Integrationsleistung des BF schätze ich persönlich als hervorragend ein. Wir waren beide auch beispielsweise bei einer Preisverleihung auf der diplomatischen Akademie. Es gab auch eine große Veranstaltung bei der Bezirksvorstehung zur Pogromnacht. Es waren dort auch eine Lichterkette und hat der BF dort auch Fackeln ausgeteilt und dort aktiv teilgenommen.
RV: Können Sie etwas über die Zusammenarbeit in der Agenda berichten, über seine Teilnahme?
R: Wir vertreten jeweils unsere Gruppen aber es fällt auf, dass er sich jedes Mal einbringt und aktiv mitmacht und engagiert.
RV: Keine weiteren Fragen.
Die Z (1) wird entlassen.
Hereingebeten wird die zweite Zeugin:
XXXX , geboren am XXXX , Pensionistin, vorher kaufmännische Angestellte
Wiesengasse 4
2763 Pernitz
R erteilt eine Rechtsbelehrung.
R: In welchen Zusammenhang haben Sie den BF kennengelernt?
Z (2): Ich war im Sprachcafe einmalig und habe ich den BF dort kennengelernt. Ich war von seiner Person überhaupt beeindruckt, wie gut er schon Deutsch konnte und was er schon alles gemacht hat und was er erzählte über sein Engagement. Das war im Mai 2017. Wir sehen einander regelmäßig alle 2 Wochen. Wir haben privat schon einiges unternommen wie z.B. Ausflüge und Besichtigungen. Wir gehen oft essen und haben schöne Gespräche. Ich kann hier aufjedenfall für über gelungenen Integration sprechen.
RV: Gibt es noch irgendetwas zu sagen, abseits der Unterlagen über sein Engagement?
Z (2): Er ist laufend mit anderen Asylwerbern unterwegs, begleitet sie zu Ämtern, füllt Formulare für sie und fungiert als Dolmetsch.
RV: Haben Sie ein Gefühl, wie oft er das macht? - 14 -
Z (2): Er macht das laufend. Ich kenne auch einige seiner Freunde schon. Er war auch schon bei uns zuhause eingeladen und wir unterstützen ihn.
Die Z (2) wird entlassen.
RV: Ich überreiche abschließend noch eine Unterstützung der Lebensgefährtin des BF. (Das Schreiben wird zum Akt genommen)
BF: Ich bitte um eine Rückübersetzung.
Anmerkungen Seite 8 Mitte: Es war Montag oder Dienstag als mich meine Mutter in der Arbeit anrief.
Die vorläufige Fassung der bisherigen Niederschrift wird durch die D dem BF rückübersetzt.
Keine Einwendungen.
Ende der Befragung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise nach Österreich am 15.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in der Provinz Ghazni in Afghanistan geboren, er ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an.
Der Beschwerdeführer absolvierte im Herkunftsstaat eine zwölfjährige Schulbildung und schloss ein Bachelorstudium der Chemie nach vier Jahren ab. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, diese beherrscht er mündlich und schriftlich. Er hat seiner Ausreise in einem Energieunternehmen gearbeitet.
Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen alleinstehenden und leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter, der arbeitsfähig und gesund ist.
Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Antragstellung am 15.10.2015 durchgehend auf Grund des vorläufigen Aufenthaltsrechts in seinem Asylverfahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf, bestreitet den Lebensunterhalt im Rahmen der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er ist strafrechtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer verfügt über keine familiären Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet. Er hat in Österreich Sprach- und andere Kurse besucht. Er verrichtet seit dem Jahr 2016 regelmäßig ehrenamtliche Tätigkeiten, zum Beispiel im Rahmen des österreichischen Roten Kreuzes, des Senats der Wirtschaft, des Ute Bock Flüchtlingsprojekts, des Vereins „ XXXX “ sowie im Rahmen der Flüchtlingsbetreuung der Unterkunft XXXX . Der Beschwerdeführer hat des Weiteren an der Agendagruppe XXXX für XXXX sowie an einem Wirtschaftsforum XXXX (unter anderem durch einen Auftritt an einer Veranstaltung an der diplomatischen XXXX ) teilgenommen. Er ist weiterhin ehrenamtlich aktiv und nimmt an Bildungs- und Gedenkveranstaltungen teil.
Der Beschwerdeführer hat am 22.02.2017 die Ergänzungsprüfung Deutsch (Sprachlevel B2) im Rahmen eines Vorstudienlehrgangs der Universität XXXX erfolgreich abgelegt und ist zum Masterstudium Chemie an der Universität XXXX zugelassen.
Durch eine Mehrzahl an Referenz- und Unterstützungsschreiben wird dem Beschwerdeführer ein hoher Bildungsgrad, beste kulturelle Anpassungsfähigkeit, vorbildliches soziales Verhalten, hohe Kommunikationsfähigkeit und beste Auffassungsgabe sowie Zielstrebigkeit bei all seinen Unternehmungen und Integrationsbemühungen attestiert. Er hat viele Freundschaften in Österreich geschlossen und ist sehr gut integriert.
Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Die seitens des Beschwerdeführers ins Treffen geführten Ereignisse bzw. eine bezughabende Gefährdungssituation kann nicht positiv festgestellt und der Entscheidung zugrunde gelegt werden.
Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Ghazni ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Dem Beschwerdeführer steht aber eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in einer der großen Städte Afghanistans, nämlich Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung; diesbezüglich wird auch auf die nachfolgenden Ausführungen im Rahmen der rechtlichen Beurteilung verwiesen.
Es kann auch nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Seine Existenz könnte er - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern.
Er ist auch in der Lage in den genannten Städten eine einfache Unterkunft zu finden. Der Beschwerdeführer hat zunächst auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.
Der Beschwerdeführer verfügt überdies in Kabul über einen familiären Anknüpfungspunkt in Form eines Onkels, bei dem er zumindest anfänglich Unterkunft nehmen könnte. Die Kernfamilie des Beschwerdeführers lebt mittlerweile im Iran.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Der Beschwerdeführer kann Kabul, Mazar-e Sharif und Herat von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.
Afghanischen Staatsangehörigen, die aus Europa zurückkehren, droht in Afghanistan allein aufgrund ihres Aufenthalts außerhalb Afghanistans keine psychische und/oder physische Gewalt.
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Österreich gibt es mit Stand 30.03.2020, 08:00 Uhr, 8.958 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen und 97 Todesfälle; in Afghanistan wurden bislang ca. 40 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei ein diesbezüglicher Todesfall bestätigt wurde.
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf. Der Beschwerdeführer ist nicht Angehöriger dieser Risikogruppe. Umgekehrt ist er als junger gesunder Mann selbst bei einer Infektion keiner erhöhten Wahrscheinlichkeit eines Ausbruches einer schweren Erkrankung ausgesetzt.
Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019). Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
[…]
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019). Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
[…]
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger, in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Neue Entwicklungen im Friedens- und Versöhnungsprozess
Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).
Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL ode