TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/21 W144 2179421-1

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Veröffentlicht am 21.01.2021
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Entscheidungsdatum

21.01.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W144 2179421-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Andreas Huber als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.12.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und §§ 46, 52 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF), ein nunmehr volljähriger, männlicher Staatsangehöriger von Afghanistan, bekennt sich zum sunnitischen Glauben des Islam. Er hat seinen eigenen Angaben bei der Erstbefragung zufolge vor ca. sieben Monaten den Entschluss gefasst, Afghanistan zu verlassen. Er sei aus seinem Wohnort XXXX , Afghanistan, ausgereist, und sei über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich gereist sei, wo er am 28.08.2016 den gegenständlichen Asylantrag stellte.

Der Beschwerde liegt folgendes Verwaltungsverfahren zugrunde:

Im Verlauf seiner Erstbefragung nach dem Asylgesetz durch die Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 28.08.2016, gab der damals noch minderjährige BF neben seinen Angaben zum Reiseweg im Wesentlichen an, dass er ledig sei, sechs Jahre die Grundschule besucht und zuletzt als Landwirt gearbeitet habe. Sein Vater sei verstorben, seine Mutter, sein Bruder und seine zwei Schwestern würden im Herkunftsland wohnen. Er sei in XXXX , Afghanistan geboren und habe in dieser Provinz bis zu seiner Ausreise gewohnt. Zu seinem Fluchtgrund führte er aus, er sei aus Angst vor Feinden, die seine Tante entführt hätten, geflüchtet. Als sein Vater wegen der Entführung seiner Tante mit ihnen gestritten habe, hätten diese seinen Vater getötet. Jetzt würden sie ihn auch töten wollen.

Da der BF als minderjährige Person auftrat und Zweifel an der behaupteten Minderjährigkeit bestanden, wurde am 20.04.2017 ein Handwurzelröntgen durchgeführt und festgestellt, dass in Bezug auf die Hand links, FFA 76, des BF zur Bestimmung des Knochenalters das Ergebnis „GP 31, Schmeling 4“ vorliegt.

In weiterer Folge wurde ein multifaktorielles Altersgutachten eingeholt, welches unter Abwägung mehrerer Teilgutachten zum Ergebnis gelangte, dass das höchstmögliche Mindestalter des BF zum Zeitpunkt der Asylantragstellung XXXX Jahre und zum Untersuchungszeitpunkt XXXX Jahre betrage. Dass vom BF im Rahmen des Behördenvorbringens berichtete Lebensalter sei mit dem festgestellten, absoluten Mindestalter vereinbar. Das behauptete Geburtsdatum ( XXXX ) widerspreche damit nicht den medizinisch-diagnostischen Befunden. Die Vollendung des 18. Lebensjahres könne nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, eigenen Angaben nach werde der BF am XXXX volljährig.

Im Akt liegen folgende Dokumente auf:

-        Tazkira

-        Teilnahmebestätigung Deutschkurs Niveau Vorkurs/A1 vom 30.03.2017

-        Teilnahmebestätigung Deutschkurs Niveau Vorkurs/A1 vom 30.03.2017, Niveau A1.1 vom 27.04.2017, Niveau A1.2 vom 24.05.2017, Niveau A1.2+ vom 22.06.2017, Niveau A2.1 vom 23.08.2017

-        Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs vom 03.08.2017

-        Kursbesuchsbestätigung „Basisbildungskurs“ vom 25.08.2017

-        Kursbesuchsbestätigung „Deutschkurs“ vom 03.10.2017

-        Unterstützungsschreiben eines Fußballtrainers vom 03.10.2017

Mit Obsorgebeschluss vom 17.07.2017 wurde die Obsorge über den BF im gesamten Umfang dem Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen.

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme am 10.10.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gab der BF im Wesentlichen an, er sei gesund und habe im Verfahren bis dato die Wahrheit gesagt. Zu seinem Leben in Österreich führte er aus, er lebe in einer Unterkunft für Asylwerber, habe in Österreich keine Verwandten oder Bekannten die ihn im Alltag unterstützen würden, besuche einen Vorbereitungskurs für den Hauptschulabschluss und sei Mitglied in einem Fußballklub. In seiner Freizeit lerne er und spiele am Handy. Er sei völlig gesund und nehme keine Medikamente. Er sei nicht straffällig geworden und sei glücklich in Österreich. Zu seiner Person erklärte er, er sei am XXXX (Umrechnungsdatum laut Dolmetscher: XXXX ) geboren und XXXX Jahre und XXXX Monate alt - das habe ihm seine Mutter gesagt. In XXXX Jahr und XXXX Monaten werde er achtzehn Jahre alt. Befragt, warum er bei seiner Erstbefragung sein Alter mit XXXX angegeben habe und sich aus der vorgelegten Tazkira ergebe, dass er im XXXX geboren worden sei, gab der BF an, dass er damals nicht gewusst habe, wann er geboren sei. Zur Volksgruppe befragt gab er an, Tadschike zu sein. Sein Vater sei ebenso Tadschike, seine Mutter sei Paschtunin. Nachgefragt, warum er bei der Erstbefragung angegeben habe, dass er Paschtune sei und heute angebe Tadschike zu sein, erklärte der BF, damals habe er gesagt, dass sein Vater Tadschike sei. In seinem Heimatland habe er als Personaldokument nur eine Tazkira besessen und habe er diese wegen seiner plötzlichen Ausreise nicht mitnehmen können. Jemand aus Wien habe sie ihm aus seiner Heimatprovinz mitgenommen, daher habe er diese vorlegen können. Erhalten habe er diese etwa einen Monat nachdem er in Österreich angekommen sei. Er habe keine Möglichkeit durch Angehörige, Freunde oder Bekannte zu weiteren identitätsbezeugenden Dokumenten zu gelangen, Kontakt mit Angehörigen oder Freunden habe er alle zwei Monate.

Der BF führte weiters aus, dass er sechs Jahre die Grundschule in der Provinz XXXX besucht und die Schule im Jahr XXXX (umgerechnet: Jahr XXXX ) verlassen habe, als sein Vater gestorben sei. Das sei im fünften oder sechsten Monat gewesen, er wisse es leider nicht mehr. Die Schule habe er im Jahr XXXX (umgerechnet: XXXX ) erstmals besucht. Er könne sowohl lesen als auch schreiben. Einen Beruf habe er nicht erlernt, jedoch habe er nach dem Tod seines Vaters als Landwirt gearbeitet, da seine Familie einen eigenen Grund besitze. Er habe etwa eineinhalb bis zwei Jahre mitgeholfen, sein Onkel väterlicherseits habe den Großteil erledigt. Die Felder seien 12 Jirb groß, sie hätten Weizen, Kartoffeln und Bohnen sowie Mais angebaut. Zur Bewirtschaftung hätten sie einen Traktor angemietet, einen Teil der Ernte hätten sie verkauft, den Rest behalten. Den Verkauf habe sein Onkel gemacht.

Zu seinen Familienangehörigen befragt, erklärte der BF, diese würden sich aktuell in der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , Dorf XXXX , aufhalten. Sie hätten ein eigenes Haus und würden ihren Lebensunterhalt durch die Grundstücke bestreiten. Ein Bauer bewirtschafte die Felder, zudem gebe es Nutztiere. Es würden auch drei Tanten mütterlicherseits, eine in XXXX , zwei in Kabul leben. Befragt, wie die Verwandten ihren Lebensunterhalt bestreiten würden, gab der BF an, eine Tante sei Friseurin, deren Mann Taxifahrer in Kabul. Die andere Tante sei Hausfrau, ihr Mann sei ebenso Taxifahrer, diese würden in Kabul leben. Von der dritten Tante wisse er, ebenso wie von ihrem Mann, gar nichts. Nachgefragt, ob er in regelmäßigem Kontakt zu seinen Familienangehörigen stehe, erklärte der BF, das Internet funktioniere in XXXX zwar nicht, er telefoniere allerdings etwa einmal im Monat mit seiner Familie. Dieser gehe es gut, finanziell sei es ihnen durchschnittlich gegangen. Er habe immer im näher genannten Dorf gewohnt, sei dort geboren und aufgewachsen. Afghanistan habe er im ersten Monat des Jahres 1395 (umgerechnet: März 2016) verlassen. Seine gesamte Familie lebe noch im namhaft gemachten Ort, nur sein Onkel sei wegen der Feindschaft, etwa einen Monat nach ihm, ausgereist.

In seiner Herkunftsregion gebe es Dorfpolizisten, diese würden allerdings von den Taliban, die dort an der Macht seien, getötet werden. Er selbst habe keine persönlichen Besitztümer, seine Familie besitze Grundstücke. Sein Vater sei Landwirt gewesen, davor habe er als Verkäufer gearbeitet. Sein Bruder sei zu jung um in der Landwirtschaft zu helfen, er gehe zur Schule; die Schwestern dürfen laut den Taliban nicht die Schule besuchen und seien zu Hause. Seine Flucht habe etwa 10.000 USD gekostet, sie hätten dafür ein kleines Grundstück verkauft.

Zum fluchtauslösenden Moment befragt, gab der BF an, er sei damals noch jung gewesen, seine Tante mütterlicherseits sei verschollen gewesen. Sein Onkel väterlicherseits habe sie gefunden und nach Hause gebracht. Etwas später sei dann der Onkel verschwunden, danach sei auch seine Tante wieder entführt worden. Kurz darauf sei seine Großmutter wegen Sorge um seinen Onkel verstorben. Sie hätten sehr viel Geld ausgegeben, um seinen Onkel zu finden. Sein Vater und sein zweiter Onkel hätten den Dorfältesten aufgesucht und hätten die Feindschaft beenden wollen. Drei Jahre später hätten sie seinen Vater getötet. Er hätte nicht gewollt, dass sie ihn auch töten würden, deshalb sei er geflüchtet. Außerdem hätten ihn die Taliban zweimal geschlagen, einmal nach dem Fußballspielen und einmal als er am Weg nach Mazar-e-Sharif gewesen sei, da hätten sie ihn festgenommen und geschlagen. Seine Familie wäre dort gefährdet, daher wolle er, dass diese hierher nachkomme. Es herrsche Krieg in seinem Heimatland, es seien abwechselnd die Taliban und die Polizei an der Macht. Weitere Fluchtgründe habe er nicht.

Auf Nachfrage führte der BF weiters aus, er sei ca. sechs Jahre alt gewesen, als sein Onkel und seine Tante von einer namentlich genannten Person entführt worden seien, seitdem seien sie verschollen. Der Entführer sei Kommandant bei den Taliban und habe Kontakt zur Regierung. Befragt, inwieweit er persönlich bei seiner Ausreise noch von der Entführung seines Onkels und seiner Tante betroffen gewesen sei, erklärte der BF, sie hätten sie alle töten wollen, obwohl sein Vater die Feindschaft beenden habe wollen. Nähere Angaben zur Feindschaft könne er nicht machen, er wisse lediglich, dass diese schon lange bestehe. Sein Vater sei zwei Jahre vor seiner Ausreise durch die Taliban getötet worden. Das wisse er vom Partner seines Vaters, der mit diesem am Feld gewesen und geschlagen worden sei, als sein Vater getötet worden sei. Die Leiche seines Vaters hätten sie nachhause gebracht, zur Beerdigung sei das ganze Dorf gekommen. Sein Vater habe im Dorf keine Funktion innegehabt, er sei jedoch ein guter Mensch gewesen, daher seien auch so viele zur Beerdigung erschienen. Er selbst werde (im Fall der Rückkehr) „zu 100% getötet“, da die Taliban Rache wegen dem Tod seines Vaters erwarten würden.

Der erste Vorfall mit den Taliban sei am Abend nach dem Fußballspielen gewesen, sie seien zu dritt gewesen, festgenommen und von sieben Personen in einen Garten gebracht und mit einem Stock auf den Rücken geschlagen worden. Sie hätten ihnen vorgeworfen, dass sie „ XXXX “ (Anmerkung: afghan. Lokalpolizei) seien und zu den Taliban übertreten sollen. Narben habe er von diesem Vorfall keine. Die sieben Personen hätten lange Bärte, Kleidung und Turban getragen. Sie hätten ein großes Tuch um sich gehabt, man habe nur die Augen gesehen. Der Vorfall habe sich ein Jahr vor seiner Ausreise ereignet, bis zum zweiten Vorfall seien acht Monate vergangen.

Zum zweiten Vorfall befragt, gab der BF an, er habe von XXXX nach Kabul und weiter nach Mazar-e- Sharif fahren wollen. Die Taliban hätten ihn aufgehalten, ihm vorgeworfen, dass er ein Spion sei und ihn mit den Fäusten und Gewehrkolben geschlagen. Seine Wunde habe mit zwei Stichen genäht werden müssen. Es wären noch weitere Fahrgäste dabei gewesen, diesen sei jedoch nichts passiert. Die Taliban hätten nur die Leute aus XXXX geschlagen, weil sie geglaubt hätten, dass sie XXXX seien. Die Taliban seien mit Kalaschnikows, einem Maschinengewehr und einer Pistole bewaffnet gewesen. Nach dem Vorfall sei er überall am linken Ellbogen verletzt gewesen. Der zweite Vorfall habe vier Monate vor seiner Ausreise stattgefunden. Von Tag zu Tag sei es schlechter geworden, die Taliban hätten Dorfpolizisten getötet. Sie hätten Minen platziert und als er vor einem Monat mit seiner Familie telefoniert habe, habe er erfahren, dass sie auch seinen Bruder geschlagen hätten. Überall in Afghanistan sei die Sicherheitslage schlecht, die Feinde und die Taliban könnten ihn in ganz Afghanistan finden und würden ihn töten.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 24.10.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG) idgF (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. ab (Spruchpunkt II.). Gleichzeitig wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idgF gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) idgF erlassen, sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise gesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde zusammengefasst zu Spruchpunkt I. ausgeführt, das Fluchtvorbringen sei in seiner Gesamtheit als nicht glaubhaft zu beurteilen, weshalb ein asylrelevanter Sachverhalt als Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG nicht festzustellen gewesen sei. Auch aus dem sonstigen Ergebnis des Ermittlungsverfahrens hätten sich bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise auf das Vorliegen eines Asylgrundes ergeben. In Bezug auf Spruchpunkt II. wurde festgehalten, dass der BF in Kabul seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. Er sei bei einer Rückkehr nicht bedroht oder gefährdet, es bestehe keine exzeptionelle Gefährdungslage in Afghanistan. Zu Spruchpunkt III. wurde erwogen, dass der BF in Österreich kein Familienleben führe und im Verfahren keine Anhaltspunkte hervorgetreten seien, die die Vermutung einer besonderen Integration seiner Person in Österreich rechtfertigen würden.

Gegen diesen Bescheid erhob der BF im Wege seiner Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde, worin geltend gemacht wurde, dass der BF Afghanistan aus Angst vor Feinden seiner Familie verlassen habe, auch sei er von Taliban geschlagen und festgenommen worden und befürchte weitere Verfolgung durch diese. Ungereimtheiten oder Ungenauigkeiten in seinem Vorbringen hätte das BFA aufgrund seines Alters mit einem milderen Maßstab beurteilen müssen. Er habe ein altersentsprechendes Fluchtvorbringen erstattet, das nicht nur im Einklang mit der tatsächlichen Lage in Afghanistan stehe, sondern auch mit den Länderberichten. Feindschaften zwischen Familien können sich über Jahrzehnte und über Generationen hinweg erstrecken. Dass Feinde den Taliban nahestehen würden, verstärke seine Gefahr. Sein Vater sei bereits ermordet und sein Onkel sowie seine Tante seien entführt worden. Taliban seien in seiner Heimatgegend aktiv, bei einer Rückkehr laufe er jedenfalls Gefahr von ihnen erneut misshandelt, entführt oder zwangsrekrutiert zu werden. Innerstaatliche Fluchtalternativen für alleinstehende Minderjährige gebe es nicht. Das BFA verkenne die Sicherheitslage in Afghanistan und berücksichtige nicht die dortige konkrete und spezielle Gefährdung Minderjähriger. Kabul oder eine andere Großstadt komme für ihn als innerstaatliche Fluchtalternative nicht in Frage. Nahezu täglich würden sicherheitsrelevante Vorfälle stattfinden. Dass er in Afghanistan über eine Lebensgrundlage verfüge, könne nicht als gesichert gelten. Bei alleinsehenden Minderjährigen sei überdies ein erhöhter Sorgfaltsmaßstab anzulegen und komme eine innerstaatliche Fluchtalternative auch nicht in Frage. Eine Rückkehr sei für den BF daher unzumutbar.

Mit Schreiben vom 07.12.2017, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 13.12.2017, übermittelte das BFA den Verwaltungsakt.

Am 10.12.2020 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, in welcher der BF zu seinen Familienangehörigen in Afghanistan, zu seinem beruflichen Hintergrund, zu seinem Fluchtgrund und zu seinem Leben in Österreich befragt wurde. Zudem wurden zur allgemeinen Situation in Afghanistan das Länderinformationsblatt (LIB) vom 13.11.2019 (mit Stand/Kurzinformation 21.07.2020), die UNHCR-Guidelines und die EASO-Country Guidance vorgehalten sowie kursorisch erörtert, wobei auf eine Frist zur Stellungnahme verzichtet wurde. Der BF Vertreter führte allerdings aus: „Dazu verweise ich auf das bisherige Vorbringen und gerade UNHCR und die Guidelines gehen davon aus, dass ganz Afghanistan grundsätzlich unsicher ist. Eine Rückkehr dorthin grundsätzlich nicht zumutbar ist, sondern nur in ganz wenigen Gebieten, wie etwa Mazar, eine Ansiedlung bzw. Neuansiedlung unter eingeschränkten Umständen möglich ist und fällt der BF für mich nicht in diese Gruppe der Personen, für die das möglich ist.

Zur allgemeinen Situation auch nach den sogenannten Friedensverhandlungen merke ich an, dass sich die Sicherheitslage und die Angriffe der Taliban nicht zum Positiven gewandt haben, sondern im Gegenteil in letzter Zeit verstärkt haben, auch in der Provinz XXXX . TOLO-News (wird vom BFV vorgelegt): Wonach das Verteidigungsministerium selbst sagt, dass sich die Gewalt auf 28 von 34 Provinzen innerhalb von 24 Stunden ausgedehnt hat.“

Von der Rechtsvertretung wurden folgende Unterlagen in das Verfahren eingebracht und dem VH-Protokoll angeschlossen sowie abseits der bereits vorgelegten Dokumente, folgende vorgelegt:

-        Vollmacht neu (BF ist jetzt volljährig).

-        Integrationsunterlagen:

o        Zeugnis über Pflichtschulabschluss

o        Kursbesuchsbestätigung vom 22.12.2017

o        Bestätigung über ehrenamtliche Mitarbeit vom 30.11.2019

o        Semesternachricht vom 01.08.2019

o        Kursbesuchsbestätigung vom 29.06.2018

o        Zeugnis zur Integrationsprüfung, bestanden mit Sprachniveau B1

o         Betätigung über ehrenamtliche Tätigkeit beim Roten Kreuz vom 08.12.2020

-        Konvolut zum Fluchtvorbingen:

o        Schriftliche Zusammenfassung

o        Fotos

Mit 2 Schreiben vom 16. und 19.01.2021 brachte der BF ergänzend vor, dass eine Einstellungszusage der Firma XXXX GmbH für den Fall, dass ein Aufenthaltsrecht bekäme, vorlegen könne. Weiters habe er ehrenamtliche Tätigkeiten beim Roten Kreuz geleistet, und bereite er sich derzeit auf seine B2 Prüfung vor. Zudem wolle er mitteilen, dass er in der Augenambulanz einen Fremdkörper in seinem Auge habe entfernen lassen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der volljährige BF ist ein Staatsangehöriger Afghanistans, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.

Er wurde in der Provinz XXXX geboren und lebte dort in einem Dorf mit seinen Eltern, seinem Bruder und seinen zwei Schwestern. Der Vater ist bereits verstorben, die Mutter und die Geschwister wohnen im Heimatdorf des BF im eigenen Haus. Der BF besuchte sechs Jahre lang die Grundschule in Afghanistan und arbeitete zuletzt als Landwirt am familieneigenen Grund. Seine Muttersprache ist Dari. Der BF steht mit seiner Familie etwa einmal die Woche oder alle zwei Wochen, in telefonischem Kontakt. Drei Tanten mütterlicherseits leben mit ihren Ehemännern in XXXX und in Kabul.

Der BF ist gesund und nimmt keine Medikamente. Der Begriff hat einen Fremdkörper im Auge, ja im Dezember 2020 entfernt wurde. Die letzte diesbezügliche medizinische Unterlage stammt vom 25.12.2020 vom Landesklinikum XXXX , in welcher eine Kontrolle in einer Woche beim Augen-Facharzt angeraten wurde.

In Österreich stellte der ledige und strafrechtlich unbescholtene BF am 28.08.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er lebt nicht in einer Familiengemeinschaft oder einer familienähnlichen Lebensgemeinschaft und es halten sich keine Familienangehörigen oder Verwandten im österreichischen Bundesgebiet auf.

Der BF bezieht Leistungen im Rahmen der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er verrichtet gemeinnützige und ehrenamtliche Tätigkeiten, wie etwa Auf- und Abbauarbeiten bei den Pfadfindern oder Tätigkeiten beim Roten Kreuz und wohnt in einem Flüchtlingsquartier. In seiner Freizeit spielt der BF Fußball in einem Verein.

Im Dezember 2019 absolvierte der BF die Pflichtschulabschlussprüfung und bestand die Integrationsprüfung aus den Inhalten Sprachkompetenz (Niveau B1) und Werte- und Orientierungswissen. Derzeit befindet er sich in Vorbereitung für die Deutsch B2-Prüfung.

Der BF ist wiederholt auf der Straße im Zuge von Fahrzeugkontrollen durch die Taliban in deren Hände gefallen, wurde kurzfristig festgenommen und auch geschlagen. Im Zuge dieser Vorfälle waren die Taliban offensichtlich auf der Suche nach Personen, die örtlichen Polizeimilizen („ XXXX “) angehören. Nicht festgestellt werden kann demgegenüber, dass die Taliban zielgerichtet ein besonderes Verfolgungsinteresse an der Person des BF gehabt hätten, vielmehr ist er zufällig in diese Fahrzeugkontrollen geraten.

Zur allgemeinen politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan wird Folgendes festgestellt:

Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019:

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

(…)

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).

Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).

Kabul-Stadt – Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

(…)

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).

Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).

In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfäll

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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