TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/15 W226 1404500-5

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.02.2021
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Entscheidungsdatum

15.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W226 1404500-5/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.01.2021, Zl. 811182307-201137252, zu Recht erkannt:

A)       Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1. Vorverfahren:

Der Beschwerdeführer brachte - damals minderjährig - erstmals am 18.09.2008 gemeinsam mit seinen zwei Brüdern und seiner Mutter einen Antrag auf internationalen Schutz ein, welcher am 25.03.2009 rechtskräftig gemäß § 5 AsylG zurückgewiesen wurde. Zur Begründung dieses Asylantrages führte seine Mutter aus, dass der Onkel des Beschwerdeführers dessen Vater angezeigt hätte, weil dieser den Untergrundkämpfern geholfen habe. Daraufhin sei der Vater des Beschwerdeführers von Russen abgeholt worden. Der Onkel hätte dann auch die Mutter angezeigt und ihr überdies ihre Kinder, den Beschwerdeführer und seine beiden Brüder, wegnehmen wollen, sodass sie schlussendlich geflüchtet seien.

Am 31.03.2009 brachte der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz ein. Das betreffende Verfahren wurde am 16.06.2009 wegen unbekannten Aufenthalts eingestellt.

Am 17.06.2009 stellte der Beschwerdeführer in der Schweiz und am 04.10.2010 in Belgien gemeinsam mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern weitere Asylanträge.

Letztlich stellte der Beschwerdeführer am 07.10.2011 – gemeinsam mit seinen Brüdern, aber ohne seine Mutter (die sich damals noch nicht wieder in Österreich aufhielt) - den hier maßgeblichen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, seine Mutter wünsche, dass er sich bei seiner Tante, ihrer Schwester, in Österreich aufhalte, weil er in der Heimat Probleme mit seinem Onkel väterlicherseits gehabt hätte.

Dieser Antrag wurde zunächst mit Bescheid des Bundesasylamts vom 15.11.2013 für den Status des Asyl- wie des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen; unter einem wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

Gegen diesen Bescheid führte der Beschwerdeführer erfolgreich Beschwerde, sodass der Bescheid mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 31.01.2017 aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) zurückverwiesen wurde. Denn – so das Bundeverwaltungsgericht – die belangte Behörde hätte sich nicht mit der Einvernahme seiner Tante und seines Bruders Baysangur begnügen dürfen, sondern hätte auch den Beschwerdeführer zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einzuvernehmen gehabt.

In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt am 11.04.2018 führte der Beschwerde-führer zu seinen Fluchtgründen befragt aus, dass er als 10-Jähriger mit seiner Mutter aufgrund von Problemen mit der Polizei aus Tschetschenien ausgereist sei. Sein Vater habe vielleicht wegen des Krieges Probleme gehabt. Weitere Fluchtgründe habe er nicht. Sein Vater sei im Jahr XXXX in der Russischen Föderation verstorben. Seine Mutter sei im Bezirk XXXX aufhältig und lebe in einem Haushalt mit seinem jüngeren Bruder. Zu diesen habe er Kontakt. Zu seinem älteren Bruder, der in der Justizanstalt XXXX in Haft sei, stehe er nicht in Kontakt. Persönliche Probleme habe er in Tschetschenien als Schüler gehabt, weil er an Schlägereien beteiligt gewesen sei.

Das Bundesamt wies mit Bescheid vom 13.04.2018 seinen Antrag auf internationalen Schutz vom 07.10.2011 für den Status des Asyl- wie des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungs-würdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Eine Rückkehrentscheidung wurde gegen ihn erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei (Spruch-punkt V.). Eine Frist für seine freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 4 FPG 2005 nicht gewährt (Spruchpunkt VI.). Ferner wurde ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG 2005 gegen den Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt VII.). Schließlich wurde der Beschwerde gegen die Rückkehr-entscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruch-punkt VIII.).

Dies begründet das Bundesamt im Wesentlichen damit, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft sei. Ferner würden ihm im Herkunftsstaat keine Rechts-verletzungen drohen, welche die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gebieten würden. Zudem sei er in Österreich nicht derart intensiv integriert, dass dies der Beendigung seines Aufenthalts hier dauerhaft entgegenstehen würde. Ferner würde der Beschwerdeführer wegen seiner wiederholten strafrechtlichen Verurteilungen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen, weswegen das genannte Einreiseverbot gegen ihn zu verhängen sei. Zudem sei seine sofortige Ausreise im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich, sodass einer Beschwerde gegen die Rückkehr-entscheidung die aufschiebende Wirkung abzuerkennen sei.

Gegen diesen Bescheid wurde vom Beschwerdeführer Beschwerde erhoben.

Am 07.01.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Russisch eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer teilnahm. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers erschien unentschuldigt nicht. Der Beschwerdeführer führte aus, dass er es vorziehen würde, die Verhandlung in Anwesenheit eines Rechtsvertreters durchzuführen. Die Verhandlung wurde vertagt.

Mit Schreiben vom 05.07.2019 legte der Beschwerdeführer Unterlagen zu seiner Berufsausbildung während der Haft und der Teilnahme an psychosozialer Beratung und Betreuung vor.

Am 23.07.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Russisch eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, sein Rechtsvertreter, seine Mutter und Tante als Zeuginnen und ein Vertreter des Bundesamtes teilnahmen. In der mündlichen Verhandlung brachte der Beschwerdeführer vor, dass er gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder in einem Haushalt in Niederösterreich lebe. Seine Mutter sei in XXXX aufhältig. Er beziehe Arbeitslosengeld und suche derzeit eine Arbeit. In Österreich würde auch seine Tante mütterlicherseits mit ihren drei Söhnen leben. In Tschetschenien sei er zuletzt im Jahr 2008 gewesen. Seine Mutter und Geschwister hätten in Tschetschenien bei den Großeltern mütterlicherseits gelebt. In Tschetschenien habe er noch Verwandte, darunter einen Onkel väterlicherseits und einen Onkel mütterlicherseits. Sein Vater sei bereits verstorben. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an, dass er auf die Frage keine Antwort hätte. Er wolle in Österreich arbeiten, leben und heiraten. Bei einer Rückkehr befürchte er, dass er inhaftiert werden würde, weil er keinen russischen Reisepass besitzen würde. Warum seine Familie Tschetschenien verlassen habe, wisse er nicht.

Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit Erkenntnis vom 23.10.2019, W234 1404500-4/38E als unbegründet ab. Dies mit folgender – soweit verfahrensrelevant wiedergegebenen - Begründung:

„1.1.   Zur Person des Beschwerdeführers

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation. Er wurde in XXXX , Russische Föderation, geboren, wo er die Grundschule bis zur 4. Klasse besuchte. Der Beschwerde¬führer ist Angehöriger der Volksgruppe der Tschetschenen und sunnitischer Moslem.

1.1.2. Der Beschwerdeführer verließ die Russische Föderation im Jahr 2008; bis dahin lebte er in Tschetschenien und besuchte dort vier Jahre lang die Schule. Der Beschwerdeführer und seine Mutter und Geschwister lebten bei den Großeltern mütterlicherseits in XXXX , Tschetschenien. Der Beschwerdeführer beherrscht die tschetschenische und russische Sprache. Der Beschwerdeführer hat nie einen Deutschkurs absolviert, versteht die deutsche Sprache jedoch ausnahmslos und ist in der Lage, sich auf Deutsch verbal sehr gut auszudrücken.

Der Beschwerdeführer hielt sich während der Jahre 2008 und 2009 in Summe etwa sieben Monate (unterbrochen durch einen kurzen Aufenthalt in Polen nach einer Abschiebung) im österreichischen Bundesgebiet und danach in der Schweiz und Belgien auf. Seit Oktober 2011 hält sich der Beschwerdeführer durchgehend im österreichischen Bundesgebiet auf.

Dem Beschwerdeführer kam nie ein anderes Aufenthaltsrecht als jenes als Asylwerber zu.

1.1.3. Die Mutter und die zwei Brüder des Beschwerdeführers sind in Österreich aufhältig.

Die Mutter des Beschwerdeführers ( XXXX , geb. XXXX ) lebt als Asylwerberin in XXXX . Über die Abweisung ihres Antrags auf internationalen Schutz (verbunden mit einer Rückkehrentscheidung und der Feststellungen, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist) ist ein Beschwerdeverfahren beim Bundesverwaltungsgericht anhängig.

Der ältere Bruder des Beschwerdeführers ( XXXX , geb. XXXX ) befindet sich derzeit in Strafhaft; gegen Ihn wurde eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung erlassen.

Der Beschwerdeführer lebt mit seinem jüngeren Bruder ( XXXX , geb. XXXX ) in einem Haushalt in Niederösterreich. Gegen den jüngeren Bruder des Beschwerdeführers wurde mit Bescheid des Bundesamts vom 24.07.2019 - verbunden mit einer Abweisung seines Antrags auf Zuerkennung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK - eine Rückkehr¬entscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei. Gegen diesen Bescheid ist eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht anhängig. In der Vergangenheit kam XXXX bereits eine „Aufenthalts¬berechtigung plus aus Gründen des Art. 8 EMRK“ zuletzt gültig bis zum 04.09.2018 zu. Auch er stellte gemeinsam mit dem Beschwerdeführer am 07.10.2011 seinen einzigen Antrag auf internationalen Schutz, der in der Sache erledigt wurde. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamts vom 15.11.2013 für die Zuerkennung des Status des Asyl- wie subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen; insoweit erwuchs dieser Bescheid des Bundesasylamts in Rechtskraft, weil die gegen ihn gerichtete Beschwerde insoweit zurückgezogen wurde.

Ferner lebt die Tante mütterlicherseits des Beschwerdeführers ( XXXX , geb. XXXX ) mit ihren drei Kindern in Österreich. Die Tante des Beschwerdeführers und deren Kinder sind in Österreich anerkannte Flüchtlinge. Nach der Wiedereinreise des Beschwerdeführers im Jahr 2011 wurde die Tante zu seiner Obsorgeberechtigten bis zum Erreichen der Volljährigkeit bestellt.

Der Beschwerdeführer besucht seine Mutter sowie seine Tante und deren Kinder ca. einmal wöchentlich.

Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Der Beschwerdeführer verfügt über Verwandte in der Russischen Föderation, in Tschetschenien. Darunter befinden sich zwei Onkel mütterlicherseits und ein Onkel väterlicherseits. Der Beschwerdeführer steht zu diesen nicht in Kontakt. Der Beschwerdeführer hat unregelmäßigen telefonischen Kontakt zu einem seiner Cousins mütterlicherseits in Tschetschenien. Die Mutter und die Tante des Beschwerdeführers haben regelmäßig telefonischen Kontakt zu ihren Geschwistern in Tschetschenien.

1.1.4. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Er ist gesund und arbeitsfähig.

1.1.5. Der Beschwerdeführer weist folgende strafgerichtliche Verurteilungen auf:

1) Landesgericht XXXX zu XXXX vom XXXX , rechtskräftig am XXXX , wegen §§ 127, 129 Z 2 StGB § 15 StGB, § 91 (2) StGB (Verbrechen des Diebstahls teils durch Einbruch und das Vergehen des Raufhandels) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten und einer Probezeit von drei Jahren sowie Anordnung der Bewährungshilfe.

Denn der Beschwerdeführer hat mit weiteren Mittäter in sieben Angriffen sieben Zeitungskassen der Mediaprint abgerissen und in der Folge aufgebrochen. Ferner hat der Beschwerdeführer an einem Angriff mehrerer tätlich teilgenommen, wobei der Angriff eine Körperverletzung eines Opfers nach sich zog.

Für die Strafbemessung mildernd wurden das Geständnis, der bisherige ordentliche Lebenswandel, der Umstand, dass es teilweise beim Versuch blieb, und erschwerend das Zusammentreffen eines Verbrechens und eines Vergehens berücksichtigt.

2) Landesgericht XXXX zu XXXX vom XXXX , rechtskräftig am XXXX , wegen § 142 (2) StGB, §§ 105 (1), 106 (1) Z 1 1. Fall StGB (Verbrechen des Raubes und der schweren Nötigung) zu einer Freiheitsstrafe von 21 Monaten, davon 14 Monate bedingt und einer Probezeit von drei Jahren sowie Anordnung der Bewährungshilfe:

Denn der Beschwerdeführer hat sich mit weiteren Mittätern in numerischer Überlegenheit den Opfern gegenüber aufgestellt, diese scheinhalber zum Ankauf von Suchtgift bei ihnen aufgefordert, diesen hernach Bargeld weggenommen und die Rückforderung desselben durch Inaussichtstellen eines Übels, ein Mittäter dadurch, dass er eine Gasdruckpistole gegen die Opfer richtete, unterbunden. Der Beschwerdeführer hat den Raub ohne Anwendung erheblicher Gewalt an einer Sache geringen Wertes begangen und die Tat hat nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen.

Ferner hat der Beschwerdeführer gemeinsam mit anderen Mittätern ein Opfer zur Handlung des Wegwerfens ihres Mobiltelefons durch gefährliche Drohung, nämlich durch Aufrechterhaltung desselben Bedrohungsszenarios sowie durch eine Todesdrohung, wobei ein Mittäter nach wie vor eine Gasdruckpistole gegen das Opfer richtete, genötigt.

Für die Strafbemessung als erschwerend wurden das Zusammentreffen zweier Verbrechen, eine einschlägige Vorstrafe sowie die Tatbegehung in offener Probezeit gewertet; ein Milderungsgrund lag nicht vor.

3) Landesgericht XXXX zu XXXX vom XXXX , rechtskräftig am XXXX , wegen §§ 127, 129 (1) Z 2 StGB (Vergehen des Diebstahls durch Einbruch) zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten

Denn der Beschwerdeführer und weitere Mittäter haben einer Firma Bargeld iHv € 200 mit Bereicherungsvorsatz weggenommen, indem sie mit einem Brecheisen einen Spielautomaten aufbrachen und das Bargeld entnahmen.

Für die Strafbemessung mildernd wurden das Geständnis und die Tatbegehung im Alter von unter 21 Jahren, erschwerend die Tatbegehung in offener Probezeit und eine einschlägige Vorstrafe berücksichtigt.

4) Landesgericht XXXX zu XXXX vom XXXX , rechtskräftig am XXXX , wegen § 146 StGB, § 127 StGB (Vergehen des Diebstahls und des Betruges) zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten

Denn der Beschwerdeführer hat mit Bereicherungsvorsatz einem anderen zwei Packungen Cannabiskraut weggenommen. Ferner hat der Beschwerdeführer gemeinsam mit weiteren Mittätern einen anderen unter dem Vorwand dessen Mobiltelefon im Wert von ca. € 500 ansehen zu wollen, dazu veranlasst, ihnen dieses zu übergeben und dieses für sich einbehalten.

Für die Strafbemessung mildernd wurden der geringe Beutewert, das volle Geständnis, das teilweise Vorliegen der Voraussetzungen nach §§ 31 und 40 StGB sowie die Tatbegehung im Alter von unter 21 Jahren berücksichtigt. Erschwerend wurden beim Beschwerdeführer die drei einschlägigen Vorstrafen, der rasche Rückfall, die Tatbegehung in offener Probezeit und das Zusammentreffen von zwei Vergehen berücksichtigt.

5) Landesgericht XXXX zu XXXX vom XXXX , rechtskräftig am XXXX , wegen § 84 (4) StGB (Verbrechen der schweren Körperverletzung) zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten:

Denn der Beschwerdeführer hat einem anderen durch einen Schlag mit der Faust, in welcher er einen nicht mehr feststellbaren Gegenstand hielt, gegen das Gesicht versetzt, und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, eine schwere Körperverletzung des Opfers, nämlich einen Nasenbeinbruch mit Verschiebung der Bruchstücke mit Hämatombildung im Nasenbereich herbeingeführt.

Für die Strafbemessung mildernd wurden das Alter des Beschwerdeführers von unter 21 Jahren, erschwerend der rasche Rückfall, die Tatbegehung während des Vollzuges und zwei einschlägige Vorstrafen berücksichtigt.

Zuletzt wurde der Beschwerdeführer am XXXX nach Verbüßung von 32 Monaten und 8 Tagen Freiheitsstrafe (von insgesamt verhängten 48 Monaten und 8 Tagen) bedingt aus der Strafhaft entlassen. Im Beschluss über die bedingte Entlassung wird ausgeführt, dass der Beschwerdeführer zwar eine durchwachsene Führung aufweise, jedoch ein Festnahmeauftrag des Bundesamts und die Voraussetzungen für die Verhängung der Schubhaft vorliegen würden, sodass die Voraussetzungen gemäß § 46 StGB gegeben seien.

1.1.6. Der Beschwerdeführer nahm während seiner Haft regelmäßig an psychosozialer Beratung und Betreuung durch den psychologischen Dienst der Justizanstalt teil, wobei unter anderem sein Suchtmittelkonsum thematisiert wurde.

1.1.7. Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht erwerbstätig. In der Vergangenheit assistierte er seiner Tante für etwa ein Jahr dabei, Zeitungen auszutragen. Der Beschwerdeführer bezieht seit 05.06.2019 Arbeitslosengeld in Höhe von € 25,24 täglich. Das voraussichtliche Leistungsende ist der 22.10.2019. Der Beschwerdeführer wird durch seine Tante gelegentlich mit kleineren Geldbeträgen zwischen 20 und 50 Euro, die er sich mit seinem jüngeren Bruder teilen muss, unterstützt. Ferner unterstützt ihn seine Mutter gelegentlich durch Lebensmittel, die er sich mit seinem jüngeren Bruder teilen muss. Der Beschwerdeführer bezahlt die Miete der Wohnung, die er gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder bewohnt.

1.1.8. Der Beschwerdeführer absolvierte während seiner Haft die erste Fachklasse der Berufsschule des Bundes in XXXX für den Lehrberuf Karosseriebautechnik. Derzeit ist er mit Unterstützung des Arbeitsmarktservices XXXX auf der Suche nach einer Lehrstelle.

1.1.9. Der Beschwerdeführer unterhält Freundschaften zu dauerhaft in Österreich aufenthaltsberechtigten Personen.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zielgerichtet gegen ihn gerichtete Übergriffe staatlicher Organe oder Privater mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten hätte:

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer nach seiner Rückkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Übergriffe seines Onkels väterlicherseits namens XXXX zu erwarten hätte.

Insbesondere kann ferner nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer nach seiner Rückkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Übergriffe seines Onkels mütterlicherseits namens XXXX zu erwarten hätte.

Schließlich kann insbesondere nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Übergriffe der Behörden ernstlich zu erwarten hätte, weil sein Vater und seine Mutter vor der Ausreise des Beschwerdeführers tschetschenische Kämpfer unterstützt haben und deswegen angezeigt worden sein sollen.

………….

2.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamt¬bevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republik-führers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

3. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

3.2. Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

4. Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechts-konvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von „Geständnissen“ (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

4.1. Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien werden Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitsbehörden mit Straffreiheit begangen (US DOS 20.4.2018, vgl. HRW 7.2018, AI 22.2.2018).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

5. Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nord¬kaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden „unantastbaren Polizeieinheiten“ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

6. Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CATOP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).

Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen „Komitee gegen Folter“ kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Folter-vorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungs-quote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene “Geständnisse“ werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschen-rechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung „Novaya Gazeta“ veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen von Misshandlungen und Folter im russischen Strafvollzug (NZZ 23.7.2018).

7. Korruption

Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen sowie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).

Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet. Aufgrund der zunehmend mangelhaften Übernahme von Verantwortung in der Regierung können Bürokraten mit Straffreiheit rechnen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert, um sich selbst zu bereichern (FH 1.2018).

Das Gesetz sieht Strafen für behördliche Korruption vor, die Regierung bestätigt aber, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird, und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind. Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative und auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 20.4.2018, vgl. EASO 3.2017). Zu den Formen der Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung, und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördliche Korruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (US DOS 20.4.2018).

Korruptionsbekämpfung gilt seit 2008 als prioritäres Ziel der Zentralregierung. Bis 2012 wurde die dafür notwendige Gesetzesgrundlage geschaffen. Beispielsweise wurden die Sanktionen festgelegt. Aufsichtsbehörden erhielten mehr Befugnisse, darunter die Finanzkontrolle, die Generalstaatsanwaltschaft und der Geheimdienst (FSB). Es wurden vermehrt Überprüfungen eingeleitet. In der Folge stieg die Anzahl der Strafverfahren. Zu Beginn richteten sie sich hauptsächlich gegen untere Chargen, seit 2013 jedoch auch gegen hochrangige Beamte und Politiker, wie einzelne Gouverneure, regionale Minister und stellvertretende föderale Minister und einen früheren Verteidigungsminister.

Positiv bewertete die russische Zivilgesellschaft die 2009 geschaffenen Gesetze, welche die staatlichen Behörden und die Justiz verpflichteten, über ihre Aktivitäten zu informieren. Im Zusammenhang mit der Korruptions-Bekämpfung entstanden zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, die ab 2011 einen gewissen Einfluss auf die Arbeit der Behörden ausüben konnten und erreichten, dass das Handeln von Dienststellen und Gerichten teils transparenter wurde. In einzelnen Bereichen der Verwaltung wurde die Korruption reduziert, oft abhängig von einzelnen integren und innovativen Führungsfiguren. Beobachter sind sich jedoch einig, dass sich die Situation nicht substantiell verbessert hat.

Am endemischen Charakter der Korruption in der Verwaltung hat sich bisher nichts geändert. Das gilt auch für das Justizsystem und für die Polizei, die 2011 reformiert wurde. Die Gründe für den Misserfolg sind vielschichtig. Auf höchster Ebene scheint die russische Führung kein echtes Interesse an der Korruptions-Bekämpfung zu haben, da sie selber vom korrupten System profitiert. Externe Beobachter kritisieren, der Kreml nutze Anti-Korruptions-Maßnahmen, um Gegner zu schwächen und die Elite zu kontrollieren. Aufsehenerregende Fälle dienten dazu, die Popularität des Präsidenten in der Bevölkerung zu stärken. Im Verwaltungsapparat sind die konkreten Regeln zur Korruptionsbekämpfung unterentwickelt, es fehlen zum Beispiel Mechanismen zur Integritätsprüfung der Mitarbeiter/innen. Institutionen zur Korruptions¬bekämpfung sind laut BTI zwar oft mit kompetenten Personen besetzt, es fehlen ihnen jedoch die Kompetenz und die Ressourcen, um effektiv zu handeln. Laut Elena Panfilova, ehemalige Direktorin von Transparency International Russland, herrscht unter russischen Beamten und dem Justizpersonal kein Verständnis für die Problematik von Interessenskonflikten, vielmehr scheinen verwandtschaftliche und freundschaftliche Gefälligkeiten wichtiger als die berufliche Integrität. Durch korrupte Praktiken sind Abhängigkeiten zwischen Mitarbeiter/innen, zwischen Personen in verschiedenen Hierarchiestufen und zwischen Institutionen entstanden. Solche "verfilzten Strukturen" blieben völlig unkontrolliert und weil jeder jeden deckt, ist eine systematische Aufarbeitung kaum möglich. In der Verwaltung werden deshalb im Vergleich zur Anzahl der Staatsangestellten relativ wenige Strafverfahren wegen Korruption eingeleitet, auch weil die Gerichte selber korruptionsanfällig sind. Zu Schuldsprüchen kommt es selten, wenn doch, ist das Strafmaß vielfach gering oder wird insbesondere bei hohen Geldbußen nicht vollstreckt. Auf weitere Institutionen, die zur Korruptionsbekämpfung notwendig sind – unabhängige Gerichte, freie Medien und die Zivilgesellschaft – wird vermehrt Druck ausgeübt.

Auch im Nordkaukasus beschränken sich Anti-Korruptionskampagnen vor allem auf einzelne aufsehenerregende Festnahmen von Beamten. Es ist davon auszugehen, dass Ramzan Kadyrow Korruptionsbekämpfung dazu nutzt, um gegen unliebsame Personen vorzugehen. Die tschetschenische Staatsanwaltschaft bestätigt 2014, dass es in Anbetracht des Ausmaßes des Problems zu vergleichsweise wenigen Strafverfahren kommt. Und diese endeten oft ohne Schuldspruch. Häufig betreffen sie Alltagskorruption, das heißt, die unteren Chargen der Verwaltung. Laut Mitarbeitern der Strafverfolgungsbehörden, befragt durch ICG, sind die Polizisten, die in Korruptionsfällen ermitteln, selber korrupt. Um gegen Korruption innerhalb der Polizei vorzugehen, wurden die Löhne erhöht. Die erforderliche Summe, um eine Stelle bei der Polizei zu erhalten, blieb jedoch derart hoch, dass die Abhängigkeit von informellen Zahlungen weiterhin bestand. Die Lohnerhöhungen brachten deshalb keine substantiellen Verbesserungen. Eine Kontrolle durch die Zivilgesellschaft ist in Tschetschenien noch weniger gegeben als im übrigen Russland, da Nichtregierungsorganisationen seit Jahren stark unter Druck stehen und die Bevölkerung tendenziell versucht, jeglichen Kontakt mit den Strafverfolgungsbehörden zu vermeiden (SEM 15.7.2016).

Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung (GIZ 7.2018a).

Korruption ist vor allem in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Laut einem rezenten Bericht der International Crisis Group gibt es glaubwürdige Berichte, wonach öffentliche Bedienstete einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrovs Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen müssen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrovs und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete der „Kommersant“ den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes (ÖB Moskau 12.2017). Die auf Clans basierte Korruption hält die regionalen Regierungen zusammen und die Zuschüsse haben den Zweck, die Loyalität der lokalen Elite zu erkaufen. Putins System der zentralisierten Kontrolle bevorzugt Loyalität und lässt Bestechung und Gesetzlosigkeit gedeihen (IAR 31.3.2014). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland. In der Folge wird der Rechtsstaat unterlaufen und der Zugang zum Gesundheitswesen – außer der Notfallversorgung – hängt zu einem großen Teil von den finanziellen Mitteln der Patienten und ihres sozialen Umfeldes ab (SEM 15.7.2016).

Der Lebensstandard in der Republik Dagestan ist einer der niedrigsten in der gesamten Russischen Föderation und das Ausmaß der Korruption sogar für die Region Nordkaukasus beispiellos (IOM 6.2014).

8. NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Inländische und ausländische NGOs geraten zunehmend unter Druck. Auf Basis des sog. NGO-Gesetzes aus 2012 werden russische NGOs, die politisch aktiv sind und aus dem Ausland Finanzmittel erhalten, in ein vom Justizministerium geführtes Register ausländischer Agenten eingetragen. Die davon betroffenen NGOs haben verstärkte Berichtspflichten gegenüber dem Justizministerium und müssen alle Publikationen mit der Kennzeichnung „ausländischer Agent“ markieren. Organisationen, die sich gegen eine Eintragung wehren, haben mit hohen Geldstrafen zu rechnen bzw. können aufgelöst werden (ÖB Moskau 12.2017, vgl. GIZ 7.2018a, AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2016 wurde die NGO Agora, eine Vereinigung von Menschenrechtsanwälten, als erste Organisation aufgrund von Nichtbefolgung des NGO-Gesetzes aufgelöst. Von einer strafrechtlichen Verfolgung der Leiterin einer NGO für die Belange von Frauen in Südrussland wurde im Juli 2017 abgesehen. Bereits im März 2015 wurde durch eine gesetzliche Änderung die Möglichkeit geschaffen, Organisationen aus dem Register zu streichen, wenn sie nachweisen können, keine ausländischen Finanzmittel mehr zu erhalten. Nach langen Protesten wurde das NGO-Gesetz im Mai 2016 erneut von der Duma überarbeitet, um den Begriff „politische Aktivität“ genauer zu definieren. Hiesigen Experten zufolge ist die Definition jedoch nach wie vor unzulänglich. Weiters wurden im Zuge der Gesetzesanpassung wohltätige Organisationen vom NGO-Gesetz ausgenommen.

Im Dezember 2016 erklärte Präsident Putin anlässlich der Veröffentlichung der Liste des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“, dass die Anwendung des NGO-Gesetzes einer Prüfung unterzogen werden solle (ÖB Moskau 12.2017). In der Folge wurden zahlreiche Organisationen aus dem Register der ausländischen Agenten gestrichen. Der präsidiale Menschenrechtsrat verlangt die Streichung weiterer Organisationen. Gegen Jahresende 2017 waren beim Justizministerium 85 NGOs als ausländische Agenten registriert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AI 22.2.2018). Der Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Zeid Ra’ad Al Hussein, rief im Juni 2016 die russischen Behörden vor dem Menschenrechtsrat in Genf dazu auf, das NGO-Gesetz abzuändern (ÖB Moskau 12.2017, vgl. HRW 18.1.2018). Auch die Venedig-Kommission des Europarats rief im Juni 2016 zu Abänderungen des NGO-Gesetzes sowie des Gesetzes über unerwünschte ausländische Organisationen auf. Um der ausländischen Finanzierung russischer NGOs entgegenzuwirken, werden seit einigen Jahren sogenannte präsidentielle Subventionen vergeben. 2017 wurden auf diesem Weg rund 2,25 Mrd. Rubel (ca. 31,5 Mio. Euro) an Organisationen verteilt, größtenteils an jene mit patriotischer bzw. sozialer Ausrichtung, in einigen Fällen erhielten auch als ausländische Agenten deklarierte Einrichtungen staatliche Zuwendungen (ÖB Moskau 12.2017).

Im Mai 2015 wurde ein Gesetz angenommen, um die Tätigkeit von ausländischen oder internationalen Nichtregierung

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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