Entscheidungsdatum
22.02.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W272 2237223-1/17E
IM NAMEN DER RUPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 03.11.2020, Zahl XXXX zu Recht:
I. beschlossen:
A)
Das Verfahren zu Spruchpunkt I. wird wegen Zurückziehung der Beschwerde gem. § 13 Abs. 7 AVG und § 28 Abs. 1 iVm § 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
II. zu Recht erkannt:
C)
1. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. – III. wird als unbegründet abgewiesen.
2. Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und in Erledigung der Beschwerde festgestellt, dass gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG und § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG iVm § 52 FPG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und dem Beschwerdeführer gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt wird.
3. In Erledigung der Entscheidung werden die Spruchpunkte V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
D) Die Revision ist gem. Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig, reiste spätestens am 11.10.2003 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte, vertreten durch seine Mutter, einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Die Mutter des BF brachte im Rahmen der Einvernahme am 19.11.2003 vor dem Bundesasylamt im Wesentlichen vor, dass in Tschetschenien Krieg herrsche. Ihr erster Mann sei 1992 gestorben. Das zweite Mal habe sie 1993 geheiratet, ihr zweiter Mann sei bei einem Bombenangriff im Jahr 1999 ums Leben gekommen. Nach dem Tod ihres Mannes habe sie alleine mit den fünf Kindern in Gudermes gelebt. Der älteste Sohn sei einmal von russischen Soldaten verschleppt worden, er sei schwer misshandelt worden, jedoch habe sie ihn freikaufen können. Auch ihre älteste Tochter sei sehr belastet, sie sei schwanger und ihr Mann sei ebenfalls verschleppt worden. Sie lebe tagtäglich in der Angst, dass etwas passieren könne. Sie habe schon früher ausreisen wollen, habe kein Geld gehabt und die Mutter sei krank gewesen. Sie selbst sei sonst nie bedroht worden. Sie könne nicht zurück, da das Leben dort für die Zivilbevölkerung eine Hölle sei.
3. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.11.2004 wurde dem Asylantrag vom 11.10.2003 gem. § 7 AsylG 1997 stattgegeben und ihm in Österreich Asyl gewährt sowie festgestellt, dass er kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Die Zuerkennung erfolgte gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Vater. Die Asylantragsteller haben einen unter § 7 AsylG zu subsumierenden Sachverhalt vorgebracht, dem keine Ereignisse des amtswegigen Ermittlungsverfahrens entgegenstehen, sodass dieser als Feststellung im vorliegenden Verfahren zugrunde gelegt werden konnte.
4. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien, 142 HV 36/13z, vom 29.05.2013 wurde der BF wegen dem Verbrechen des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 zweiter Fall StGB, dem Verbrechen des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB, dem Vergehen der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Abs. 1 StGB und dem Vergehen der Körperverletzung nach § 82 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten, davon 10 Monate unter der Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen und 4 Monate unbedingt, verurteilt.
5. Mit Urteil des Bezirksgerichts Favoriten, Zahl 49 U3/15t, vom 19.03.2015, wurde der BF wegen dem Vergehen der Körperverletzung nach 3 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen. Mildernd war das Geständnis, die Tatbegehung unter 21 Jahren, erschwerend die einschlägige Vorverurteilung und die Tatbegehung innerhalb offener Probezeit.
6. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Zahl 161 HV 124/15h, vom 03.12.2015, wurde der BF wegen dem Vergehen des Widerstandes gegen die Staatsgewalt gem. §§ 15, 269 Abs. 1 erste Fall StGB, dem Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 Z 4 StGB und dem Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt, davon wurden neun Monate bedingt auf unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren nachgesehen. Mildernd war das Geständnis, das Alter unter 21 Jahren zum Tatzeitpunkt, erschwerend das Zusammentreffen mehrerer Vergehen, die zwei einschlägigen Vorstrafen und die Begehung innerhalb offener Probezeit.
7. Am 06.08.2020 erfolgte die Mitteilung über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens.
8. Am 16.09.2020 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme vor dem BFA. Der BF gab im Wesentlichen an, dass er Tschetschenisch, Deutsch, Englisch, Russisch und ein wenig Serbisch spreche. Er sei gesund und könnte arbeite, habe aber seine Arbeit aufgrund Corona verloren. Er sei am 27.08.1996 in Gudermes in Tschetschenien geboren, habe nach islamischen Recht geheiratet und habe in Österreich den Pflichtschulabschluss gemacht. Er habe auf verschiedene Baustellen gearbeitet und sei Gärtner gewesen. Er habe ein Kind und seine Frau und Tochter seien österreichische Staatsbürger. Im Herkunftsstaat habe er viele Verwandte, jedoch keine Bindungen dorthin. Bei Rückkehr befürchte er, dass er sich dort nicht mehr anpassen könne, da er hier aufgewachsen sei. Es gebe dort eine Großmafia, er sei ein Mensch der alles sage und dies könne tödlich für ihn sein. Er könne nicht so gut Russisch, er bräuchte fünf Jahr um sich in das System zu integrieren. Er habe in Österreich seine Familie, Freunde, sei hier aufgewachsen. Er sei Mitglied bei einem Boxclub und bekomme derzeit Mindestsicherung.
Vorgelegt wurden:
? Teilnahmebestätigung Antigewalttraining
? Stellungnahme Bewährungshelfer
? Geburtsurkunde der Tochter
9. Am 16.09.2020 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme der Mutter des BF als Zeugin. Sie gab im Wesentlichen wieder, dass Sie damals Asyl erhalten haben, da Krieg gewesen sei und ihr älterer Sohn verschleppt worden sei. Sie seien vom Krieg geflohen. Menschen seien getötet und vergewaltigt worden, ihrer Tochter sei nichts passiert. Konkret seien sie nicht verfolgt oder bedroht worden. Ihr Sohn aus zweiter Ehe, XXXX , wisse nichts davon, aber sein Vater habe gekämpft und die Russen kamen dann und haben alle getötet. Der Vater sei aber schon gestorben, als ihr Sohn zwei Jahre alt gewesen sei. Er sei in Tschetschenien gestorben, entweder auf der Straße getötet oder er sei krank gewesen. Er sei aufgrund einer Erkrankung gestorben, er sei erkältet gewesen und dann gestorben. Sie sei wegen dem Krieg und der unruhigen Situation dort geflohen. Nun würden ebenfalls junge Menschen verschwinden. Sie habe auch Bekannte, von denen sie wisse, dass sie ihre Kinder rausgekauft haben. Sie habe nur einen behinderten Bruder und ihre Mutter in Tschetschenien, ihre Kinder seien hier. Sie würde keine Unterstützung erhalten, aber sie hätte Kontakt zu ihrer Mutter. Sie habe Stress mit ihrer Mutter und müsse sie nach Weißrussland bringen und in die Ukraine. Ihre Kinder können nicht in Tschetschenien leben, da es dort reiche und arme Menschen geben. Hier gebe es Schutz durch Sozialhilfe, man hungere nicht und der Staat helfe. Der Sohn ihrer Cousine sei eingesperrt gewesen und nun wieder frei, aber er sei grundlos eingesperrt gewesen.
10. Mit dem gegenständlichen Bescheid vom 03.11.2020 wurde dem Beschwerdeführer der am 30.11.2004 zuerkannte Status des Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 (im Folgenden: AsylG) aberkannt und gem. § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde dem Beschwerdeführer gem. § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde gem. § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV) und festgestellt, dass die Abschiebung gem. § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde für die freiwillige Ausreise eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung erlassen. Gem. 53 Abs. 3 Z. 1 FPG wurde ein befristetes Einreiseverbot für die Dauer von 7 Jahren erlassen.
Begründend führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer wiederholt wegen mehrfachen Raubes, mehrfacher Körperverletzung, Nötigung, schweren Raubes, gefährliche Drohung, schwerer Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt verurteilt wurde. Er habe bereits drei Vorstrafen. Im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland habe er dort keine Gefährdungs- bzw. Bedrohungslage zu befürchten. Der Grund der Zuerkennung des Asylstatus war der Krieg in Tschetschenien, da dieser nicht mehr vorherrsche, habe sich die Situation wesentlich geändert und sei daher die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen. Auch wenn der Vater Widerstandskämpfer gewesen sei, so sei seit der Amnestie 2006 von keiner Verfolgung mehr auszugehen. Selbst habe der BF keine Gründe vorgebracht. Er könne in der russischen Föderation seinen Lebensunterhalt bestreiten und Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Er habe noch familiäre Anknüpfungspunkte im Heimatland, kenne die russische Tradition, spreche die Sprache und könnte familiäre Unterstützung erhalten. In Österreich gehe er keiner Arbeit nach, sei illegal eingereist, habe ein Kind und weitere Verwandte und spreche Deutsch. Er lebe jedoch nicht mit seinem Kind in einem gemeinsamen Haushalt Die Gründe des Einreisverbotes liegen in der mehrfachen Straffälligkeit.
11. Mit Schriftsatz vom 20.11.2020 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht vollumfänglich das Rechtsmittel der Beschwerde und führte aus, dass der BF noch immer einer asylrechtlichen relevanten Verfolgung unterliege, zumal der Vater im Widerstand war und der BF seitens der tschetschenischen Sicherheitsbehörden Opfer von Blutrache sein würde. Weiters habe sich die Behörde nicht ausreichend mit der Situation des BF in Österreich befasst. Sie habe sich nicht mit den Lebensverhältnissen zwischen dem BF und seiner Frau und Kind befasst. Der BF sei nunmehr über 17 Jahre in Österreich und seit fünf Jahren unbescholten. Er absolvierte die Pflichtschule, spricht Deutsch und ging in Österreich einer Beschäftigung nach und könne wiederum arbeiten. Der BF ist nunmehr ein verantwortungsvoller Erwachsener. Dies wurde auch von der Bewährungshilfe bestätigt. Weiters absolvierte der BF erfolgreich ein Anti-Gewalt-Training. Zu den Verwandten bestehe kein Kontakt und könne er auch keine Unterstützung erwarten. Bezüglich des Einreiseverbotes erfolgte durch die belangte Behörde keine nachvollziehbare Begründung und sei nicht erkennbar, warum die Erlassung des Einreisverbotes in der Dauer von sieben Jahren notwendig sei. Es werde eine mündliche Verhandlung beantragt sowie die Einvernahme der Ehefrau.
12. Mit Schreiben vom 04.12.2020 erfolgte die Vorlage von
? Empfehlungsschreiben Herrn XXXX
? Betreuungsvereinbarung – Vorbereitungsphase mit der XXXX
13. Mit Schreiben vom 11.12.2020 erfolgte die Zurücklegung der Vollmacht durch die bisherige Rechtsvertretung Diakonie Flüchtlingsdienst GmbH mit Wirkung vom 31.12.2020
14. Mit Schreiben vom 18.12.2020 erfolgte die Vorlage einer Entsendevereinbarung mit Arbeitsbeginn 16.12.2020.
15. Am 11.02.2021 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG. Aufgrund der kurzfristigen Bevollmächtigung der BBU wurde die Verhandlung auf den 18.02.2021 vertagt.
16. Am 18.02.2021 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG. Mitvorgelegt wurde:
? Versicherungsdatenauszug vom 18.02.2021
? Geburtsurkunde
? Anerkennung der Vaterschaft vom 30.10.2018
? Schulnachricht und Jahreszeugnis 2005/2006
? Jahreszeugnis 2007/2008
? Schulnachricht und Jahreszeugnis 2009/2010
? Jahreszeugnis 2010/2011
? Prüfungsergebnis Führerschein
? Verkehrspsychologische Untersuchung vom 29.10.2020
? Teilnahmebestätigung Antigewalt-Training vom 07.05.2017
? Stellungnahme Bewährungshilfe vom 07.09.2020
? Mitteilung über die endgültige Strafnachsicht vom LG für Strafsachen Wien, Zl 142 Hv 6 /13Z-69 und 161 Hv 124/15h-52
? Empfehlungsschreiben von Barbara und Norbert vom Antigewalt – Training
? Arbeitsdienstvertrag vom 09.02.2021
Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des Vorverfahrens zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente und Schriftstücke, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister, sowie der mündlichen Verhandlung, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist am XXXX geboren, Staatsangehöriger der Russischen Föderation sowie Zugehöriger der Volksgruppe der Tschetschenen.
Der Beschwerdeführer reiste spätestens am 11.10.2003 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte, vertreten durch seine Mutter, einen Antrag auf Asyl, dem mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 30.11.2004, Zahl XXXX , XXXX , XXXX , stattgegeben wurde. Es wurde die Feststellung getroffen, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Der Stattgabe des Antrages auf Asyl und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lag zugrunde, dass der Vater des BF Widerstandskämpfer im zweiten tschetschenischen Krieg war, sowie in Tschetschenien Krieg war und daher der BF in Gefahr war selbst verfolgt, getötet oder misshandelt zu werden. Der Vater des BF verstarb bereits in Tschetschenien als der BF ca. drei Jahre alt war.
Mit gegenständlichen Bescheid erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Status eines Asylberechtigten im Rahmen eines Statusaberkennungsverfahren ab. Es stellte fest, dass es keine Hinweise auf eine treffende Gefährdungs- oder Bedrohungslage in seinem Herkunftsstaat gebe, zumal die Gründe, die zur Gewährung des Status geführt hätten, nicht mehr gegeben seien. Dem BF wurde ein Status als subsidiär Schutzberechtigter nicht zuerkannt und ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gegen den BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist. Dem BF wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die Ausreise festgelegt. Zusätzlich wurde ein mit 7 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer hat Arbeits- bzw. Berufserfahrung in Österreich.
Der Beschwerdeführer weist folgende rechtskräftige Verurteilungen auf:
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien, 142 HV 36/13z, vom 29.05.2013 wurde der BF wegen dem Verbrechen des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 zweiter Fall StGB, dem Verbrechen des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB, dem Vergehen der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Abs. 1 StGB und dem Vergehen der Körperverletzung nach § 82 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten, davon 10 Monate unter der Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen und 4 Monate unbedingt, verurteilt. Dem Urteil lag zugrunde, dass der BF einem anderen unter Verwendung einer Gaspistole und der Drohung mit den Worten „Gib Dein Handy oder ich schieße“ ein Mobiltelefon weggenommen hat, sowie einem anderen ein Mobiltelefon weggenommen hat, indem er mit der Faust ins Gesicht schlug. Weiters hat er einen anderen mit dem Abstechen bedroht und schließlich einem Anderen im Zuge einer Rauferei gewürgt und die Herausgabe seines Mobiltelefons gefordert. Auch hat er im Anschluss einen anderen genötigt von einer Anzeigeerstattung Abstand zu nehmen, indem er ihm mit dem Umbringen und Aufschlitzen bedroht.
Mit Urteil des Bezirksgerichts Favoriten, Zahl 49 U3/15t, vom 19.03.2015, wurde der BF wegen dem Vergehen der Körperverletzung nach 3 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen. Mildernd war das Geständnis, die Tatbegehung unter 21 Jahren, erschwerend die einschlägige Vorverurteilung und die Tatbegehung innerhalb offener Probezeit. Dem Urteil lag zugrunde, dass der BF einem anderen einen Faustschlag ins Gesicht versetzte.
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Zahl 161 HV 124/15h, vom 03.12.2015, wurde der BF wegen dem Vergehen des Widerstandes gegen die Staatsgewalt gem. §§ 15, 269 Abs. 1 erste Fall StGB, dem Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 Z 4 StGB und dem Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt, davon wurden neun Monate bedingt auf unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren nachgesehen. Mildernd war das Geständnis, das Alter unter 21 Jahren zum Tatzeitpunkt, erschwerend das Zusammentreffen mehrerer Vergehen, die zwei einschlägigen Vorstrafen und die Begehung innerhalb offener Probezeit. Dem Urteil lag zugrunde, dass der BF am 03.10.2015 Beamten eines Polizeikommissariates an der Amtshandlung behindert indem er einem einen Faustschlag gegen den Kopf versetzte, und dem anderen ebenfalls einen Faustschlag und einen Kopfstoß versetzte und dies zur Folge hatte, dass eine Absplitterung des Schneidezahnes im Unterkieferbereich, eine Lockerung zweier Zähne sowie eine Schürfwunde am vierte Finger der rechten Hand erlitt. Weiters habe er einem Beamten mit den Worten seinen Wohnort zu finden und ihn umzubringen, gefährlich mit der Zufügung zumindest einer Körperverletzung bedroht um ihn in Furcht und Unruhe zu versetzten.
Der BF besuchte ein Antigewaltkurs.
Der BF ist in Tschetschenien aufgewachsen und kennt die tschetschenische Kultur, sowie die kulturellen und sozialen Gegebenheiten in der Russischen Föderation.
Der BF hat noch Verwandte in Tschetschenien, zu denen er geringen bis keinen Kontakt hat.
Der BF ist ledig und hat Obsorgeverpflichtungen gegenüber seiner Tochter, welche zwei Jahre alt und österreichische Staatsbürgerin ist. Er ist mit einer österreichischen Frau nach islamisch religiöser Tradition verheiratet. Der BF lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in einem gemeinsamen Haushalt. Der BF hat intensive Bindungen zu seiner Tochter und lebt in einer harmonischen Beziehung zu seiner Frau.
In Österreich leben seine Mutter und drei Geschwister sowie weitere Verwandte, zu denen er geringeren Kontakt hat.
Der BF ist berufstätig und arbeitete davor gelegentlich. Der BF hat den Pflichtschulabschluss gem. Pflichtschulgesetz positiv absolviert. Der BF besuchte die Pflichtschule zumindest von 2005/2006 bis 2010/2011. Der BF hat die letzte Schulstufe in allen Fächern, inklusive Deutsch, positiv absolviert.
Der BF spricht Tschetschenisch, Russisch, Deutsch, ein bisschen Serbisch. Der BF ist sehr gut in Österreich integriert. Er spricht die Sprache Deutsch fehlerfrei.
Vom BF geht keine Gefährdung aus.
Der BF hat Umgang mit anderen Österreichern.
Der BF möchte weiterhin seinen Beruf ausüben mit seiner Familie in Österreich leben und eine neue Wohnung beziehen.
Vom BF geht keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit aus. Es ist eine positive Zukunftsprognose gegeben.
1.2 zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:
Die Umstände, aufgrund deren der BF als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr.
Es wird festgestellt, dass der BF im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation aus Gründen der Volksgruppenzugehörigkeit, der Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter keiner Gefährdung ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass er konkret Gefahr liefe, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Es wird festgestellt, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in keine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Die Verwandten des BF in der Russischen Föderation könnten ihn nach einer Rückkehr im Bedarfsfall anfänglich unterstützen. Zudem könnte er auch Unterstützung durch seine in Österreich lebenden Familienangehörigen erhalten.
Es ist dem BF möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien und des Föderationskreises Nordkaukasus niederzulassen und sich dort anzumelden. Die wirtschaftlich stärkeren Metropolen wie Moskau und Regionen in Russland bieten trotz der derzeitigen Wirtschaftskrise und vorhandener Coronapandemie bei vorhandener Arbeitswilligkeit entsprechende Chancen auch für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken (Tschetschenien).
Es ist ihm möglich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können, bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Der BF hat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung. Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten in seinem Herkunftsland Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Da der BF keine gesundheitlichen Einschränkungen hat und keine Vorerkrankungen ist nicht davon auszugehen, dass der BF durch eine etwaige Erkrankung an das COVID-19 Virus eine schwere Erkrankung oder gar den Tod erleiden würde.
Der BF hat keine individuellen gefahrenerhöhenden Umstände aufgezeigt, die unter Beachtung seiner persönlichen Situation innewohnenden Umstände eine Gewährung von subsidiären Schutz auch bei einem niedrigen Grad willkürlicher Gewalt angezeigt hätte.
1.3. Zum Herkunftsstaat:
Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen (Auszug Gesamtaktualisierung am 27.03.2020 letzte Information am 21.07.2020).
2. Politische Lage
Letzte Änderung 21.07.2020
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).
Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
2.1. Tschetschenien
Letzte Änderung: 27.03.2020
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020; vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
3. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 27.03.2020
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
3.1. Nordkaukasus
Letzte Änderung: 27.03.2020
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).
Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
3.2. Tschetschenien
Letzte Änderung: 27.03.2020
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
4. Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 21.7.2020
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).
4.1. Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung: 27.03.2020
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).
Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).
Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben, und kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 12.2019). Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2019).
Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019; vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwa