Entscheidungsdatum
22.02.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W257 2171387-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert Mantler MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die „Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH“ z. Hd. Leopold-Moses-Gasse 4, 4. Stock, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.09.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.01.2021 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am 16.12.2015 statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde) fand am 29.08.2017 statt.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe, wonach er von den Kutschis, einem paschtunischen Nomadenvolk, bedroht worden wäre, nachdem diese ihr Dorf überfallen hätten und zwei von den Kutschis dabei ums Leben gekommen wären und daraufhin die Kutschis aus Rache seinen Großvater in Kabul, wohin die Familie nach dem Vorfall gezogen sei, entführt hätten, nicht habe glaubhaft machen hätte können (sh Seite 69 des Bescheides). Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, welche die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er könne nach Kabul, wo er gewohnt hat, zurückkehren. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.
Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass er wegen dem Konflikt mit den Kutschis, aber auch wegen der Zugehörigkeit zur Minderheit de Hazaras in ganz Afghanistan im Falle einer Rückkehr verfolgt werden würde.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.01.2021 eine mündliche Verhandlung durch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari; er spricht zudem Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.
Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Maidan Wardak, Distrikt XXXX , im Dorf XXXX , geboren und wuchs dort bis zum 13 Lebensjahr auf. Er hat dort 6 Jahre die Schule besucht. Die Familie besaß dort eine eigene Landwirtschaft im Ausmaß von ca 20 Jirib (ca. 4 Hektar), Tiere und ein eigenes Haus. Nachdem die Familie nach Kabul verzog, besuchte er dort weitere 2 ½ Jahre die Schule. Er wuchs immer im Familienverband auf, wobei der Vater die Familie versorgte. Der Vater war in dem Heimatdorf Landwirt und in Kabul Hilfsarbeiter.
Der BF ist gesund und war in Afghanistan nicht berufstätigt. Er ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Er reiste im Oktober 2015, im Alter von 16 Jahren, von Kabul in Richtung Europa. Er hat einen Vater, eine Mutter, einen Bruder und zwei Schwestern. Der Bruder leidet vermutlich an Epilepsie.
Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von den Kutschis aufgesucht oder von diesen bedroht. Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Der Beschwerdeführer war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität.
Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Dezember 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom XXXX in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Am 21.06.2018 absolvierte er das Fach Mathematik im Rahmen des Pflichtschulabschlusses. Der Beschwerdeführer verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 des europäischen Referenzrahmens.
Er absolviert derzeit eine Lehre als Zimmerer (Mangelberuf) und besuchte auch die Berufsschule. Die Lehre begann am 03.09.2018 und endet am 02.09.2021.
Er wohnt in der Steiermark und hat gute Integrationsschritte gesetzt. Er lebt nicht von der Grundversorgung und hat einen großen österreichischen Bekanntenkreis aufgebaut. Er wird von Vertrauenspersonen und der Zeugin als höflich, leistungsstark und motiviert und integrationswillig beschrieben.
Der BF betätigt sich in seiner Freizeit sportlich (Teilnahme an der österr Staatsmeisterschaft in Kick-Boxen), hilft den Pfarrer im Garten und ist Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr. Er verdient seit ca 3 Monaten ca 1.200.- Euro netto im Monat und bezahlt davon seine Miete in der Höhe von 340.- Euro. Er spart sein übrigbleibendes Einkommen für die Lenkerberechtigung und hat ein klares berufliches Ziel. Er unterstützt seine Familie nicht mit Geldleistungen, weil er vorbringt, dass er schon seit ca 4 Monaten nichts mehr von ihnen gehört hätte.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten und hat keine Familienangehörigen in Österreich. Ebenso hat er keine engere Freundschaft im Sine einer Partnerschaft.
Der BF hat ein privates Interesse am Verbleib in Österreich. Sein Arbeitgeber hat ein vorrangig ein wirtschaftliches Interesse des BF am Verbleib in Österreich. Diese Interessen sind im Rahmen des Asylverfahrens nicht höher zu werten, als das öffentliche Interesse eines geordneten Fremden- und Asylwesens. Diese Interessen sind allenfalls im Rahmen einer Niederlassungsbewilligung zu berücksichtigen.
Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die sichere Stadt Kabul kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Die Stadt des Beschwerdeführers ist sicher erreichbar.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Familie im Iran wohnt. Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass er außer der Kernfamilie keine Verwandten mehr in Afghanistan hat. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Familie – selbst wenn sie ihm Iran wohnt – ihn nicht unterstützten kann.
Der Beschwerdeführer kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Er hat grundlegende Ortskenntnisse in Kabul. Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Kabul kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Kabul einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten. Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
? Länderinformationsblatt (in der Folge kurz „LIB“ genannt) der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020.
In der ersten Ausschreibung zur Verhandlung (angesetzt für den 28.10.2020, wegen den Corona-Maßnahmen verschoben schließlich auf den 20.01.2021), war noch eine alte Fassung des LIB enthalten. Nachdem am 16.12.2020 ein neues LIB aufgelegt wurde, wurde dieses LIB am 22.01.2021 zum Parteiengehör erhoben und die Möglichkeit gegeben, dass die Verfahrensparteien binnen 14 Tagen dazu Stellung nehmen können. Am 26. Jänner 2021 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers sein. Folgend sind folgende Länderberichte in das Verfahren seitens des Gerichtes eingebracht worden:
? UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
? EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
? ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Sicherheitslage und die soziökonomische Lage in Herat und in Masar-e Scharif“ vom 26.05.2020 (ECOI Herat und Masar-e Sharif)
? ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)
? ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)
? Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)
? Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06. 2017 (Landinfo 2)
? EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)
? EASO-Bericht Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020 (EASO August 2020)
? ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020
Diese Länderinformationen wurden den Parteien zur Stellungnahme übersandt. Eine Stellungnahme langte am 26. Jänner 2021 ein.
Zusammenfasend ist draus zu entnehmen: „Aus der Tatsache, das sich im Vorbringen des BF kein einziger Widerspruch ergab, seine Vorbringen volle Deckung in den Länderberichten findet (und er seine wohlbegründete Furch vor Verfolgung in Afghanistan somit glaubhaft machen konnte), ist abzuleiten, dass der BF sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung durch die Gruppe der Kutschi sowie der Taliban aus Gründen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara sowie seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie verlassen musste. Dem BF steht keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da die Kutschis bzw die Taliban ihn anhand ihres großen Wirkungsgrades landesweit verfolgen können, wobei insbesondere zu beachten ist, dass der BF in keiner afghanischen Großstadt übe ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt (siehe dazu unten).“
Inhaltlich beurteilt das Gericht die Stellungnahme in den dazugehörigen Punkten, wie zB auf Seite 22 oder 38.
Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf die oben angeführten Quellen. Dem rechtsfreundlich vertretenen Beschwerdeführer wurde Gelegenheit geboten, zu den Quellen Stellung zu nehmen. Eine Stellungnahme langte nicht ein. Die seitens des Beschwerdeführers mit der Beschwerde eingebrachten Länderberichte sind nicht mehr aktuell und von den seitens des VwG eingebrachten Länderberichten auch inhaltlich überholt worden.
Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 1).
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen), andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB, Kapitel 2).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 2)
Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers:
Kabul
Letzte Änderung: 22.4.2020
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).
Kabul-Stadt – Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Abb.1: Kabul, Police Distrikts (Darstellung der Staatendokumentation)
(Bild)
(Quelle: BFA 13.2.2019)
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).
Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).
Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).
In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).
Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Kabul gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2019 und das erste Quartal 2020 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt): [...]
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).
Die afghanischen Sicherheitskräfte führten insbesondere im Distrikt Surubi militärische Operationen aus der Luft und am Boden durch, bei denen Aufständische getötet wurden (KP 27.3.2019; vgl. TN 26.3.2019, SAS 26.3.2019, TN 23.10.2018,. KP 23.10.2018, KP 9.7.2018). Dabei kam es unter anderem zu zivilen Opfern (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Außerdem führten NDS-Einheiten Operationen in und um Kabul-Stadt durch (TN 7.8.2019; vgl. PAJ 7.7.2019, TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019). Dabei wurden unter anderem Aufständische getötet (TN 7.8.2019) und verhaftet (TN 7.8.2019; PAJ 7.7.2019; vgl TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019), sowie Waffen und Sprengsätze konfisziert (TN 9.6.2019; vgl. PAJ 28.5.2019).
Regierungsfeindliche Gruppen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)
Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Außerdem wurde Afghanistan für den Zeitraum 2018-2020 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen gewählt. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog. Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge – zum Teil mit Vorbehalten – unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken in Anliegen von Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen den Zugang der Bürger zu Justiz ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt (LIB, Kapitel 10).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
Kutschi, Nomaden
Letzte Änderung: 16.12.2020
Ethnisch gesehen ist der Großteil der Kutschi paschtunisch (TD 19.4.2019; vgl. MRG o.D.a, AA 16.7.2020) und stammt vorwiegend aus dem Süden und Osten Afghanistans (MRG o.D.a). Sie sind eher eine soziale Gruppe, obwohl sie einige Charakteristiken einer eigenen ethnischen Gruppe aufweisen. Während des Taliban-Regimes wurden viele Kutschi in den usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten im Nordwesten des Landes sesshaft. Die größte Kutschi- Population findet sich in der Wüste im Süden des Landes (Registan) (MRG o.D.a). Viele Kutschi leben in informellen Siedlungen am Stadtrand von Kabul (MDG o.D.a; vgl. AAN 19.3.2019). Ein Großteil der Nomaden zieht während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajat (zentrales Hochland) (AREU 1.2018; vgl. GIZ 4.2019). Nur mehr wenige tausend Personen führen ein Leben als nomadische Viehhirten (MRG o.D.a; vgl. AREU 1.2018). Kutschi leiden in besonderem Maße unter den ungeklärten Boden- und Wasserrechten. Dies schließt die illegale Landnahme durch mächtige Personen ein - mangels funktionierenden Katasterwesens in Afghanistan ein häufiges und alle Volksgruppen betreffendes Problem (AA 16.7.2020; vgl. AREU 1.2018). Traditionell waren die Kutschi eine nomadische Gemeinschaft; jahrzehntelange Konflikte und Dürre, haben verstärkt dazu geführt, dass die afghanischen Kutschi ihren traditionellen Lebensstil aufgaben und sich in festen Siedlungsgebieten niedergelas sen haben. Manche Kutschi haben ihr Vieh verloren und haben versucht, sich dauerhaft und auch temporär in nicht-regulierten Gebieten niederzulassen (TD 19.4.2019; vgl. AREU 1.2018; vgl. GIZ 4.2019), was zu Konflikten mit Anwohnern und Kommandanten aufgrund von Landbesitz und Wasserzugang führte (TD 19.4.2019; vgl. AREU 1.2018). Konflikte basieren u.a. auf der Blockade der Zugangswege zu den Weiden durch die sesshafte Bevölkerung, da das durchziehende Vieh landwirtschaftliche Flächen beschädigt; oder auch auf der Übernahme von Weideland der Nomaden durch die sesshafte Dorfbevölkerung zur eigenen Beweidung, Kultivierung oder Bebauung. Ebenso entstehen Konflikte durch das Bevölkerungswachstum, wodurch frühere Weidegebiete der Nomaden vermehrt verbaut werden, insbesondere im Nahbereich größerer Städte (AREU 1.2018). Staatliche Institutionen haben nur geringen Einfluss in ländlichen Gebieten - selbst in Gebieten unter Regierungskontrolle - um bei einer Konfliktlösung zu vermitteln (AREU 12.2018). Die Regierung verfügt mit dem unabhängigen Direktorium für die Angelegenheiten der Kutschi über eine eigene Organisationseinheit, welche die Angelegenheiten der Kutschi behandelt (MRG o.D.a; vgl. AREU 12.2018). Dieses Direktorium möchte jedoch bei Konflikten zwischen Nomadenund sesshafter Bevölkerung nicht direkt vermitteln, da es als parteiisch wahrgenommen werden würde. Bei Konfliktlösungen werden von der Regierung in der Regel lokale Akteure als Mediatoren eingesetzt, die ebenfalls von den Streitparteien als befangen angesehen werden (AREU 12.2018). Kutschi sind benachteiligt beim Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit (ACFF 11.2.2018; vgl. MRG o.D.a). Angehörige der Nomadenstämme sind aufgrund bürokratischer Hindernisse dem Risiko der (faktischen) Staatenlosigkeit ausgesetzt (AA 16.7.2020; vgl. MRG o.D.a). Sie gelten aufgrund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter (AA 16.7.2020). Kutschi berichten über erzwungene Sesshaftmachungen durch die Regierung. Da viele sesshafte Kutschi unter prekären Bedingungen in informellen Siedlungen am Rande der Großstädte leben, werden sie zunehmend negativ wahrgenommen, was deren sozialen Status im Land weiter unterminiert (MRG o.D.a). Nomaden werden öfter als andere Gruppen auf bloßen Verdacht hin einer Straftat bezichtigt und verhaftet, sind aber oft auch rasch wieder auf freiem Fuß (AA 16.7.2020). Der afghanischen Verfassung zufolge ist die Regierung verpflichtet, den Kutschi Land für die permanente Nutzung zur Verfügung zu stellen und ihre Integration in besiedelten Gebieten zu fördern (RFE/RL 18.9.2015). Die Verfassung sieht vor, dass der Staat Maßnahmen für die Verbesserung der Lebensgrundlagen von Nomaden ergreift. Einzelne Kutschi sind als Parlamentsabgeordnete oder durch politische und administrative Ämter Teil der Führungselite Afghanistans. Auch Staatspräsident Ghani wird der Bevölkerungsgruppe der Kutschi zugerechnet (AA 16.7.2020). Zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung sind für die Kutschi-Minderheit reserviert und vom Präsidenten müssen zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.7.2020). Diese Sitze werden jedoch in der Regel von sesshaften Kutschi eingenommen, wodurch die Interessen der erst kürzlich sesshaft gewordenen, in informellen Siedlungen lebenden oder semi-nomadischen Kutschi weitgehend vernachlässigt werden (MRG o.D.a). Die COVID-19 Krise hat auch Auswirkungen auf die Kutschi-Nomaden. Wegen des Lockdowns und der Schließung der Hauptmärkte haben sie nur ein geringes Einkommen und es gibt nur noch wenige Orte, an denen sie Handel treiben können, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen (UNifeed 26.6.2020; vgl. IFAD 29.6.2020). In den Gebieten Nangarhar und Logar zum Beispiel bekommen die Kuchi 40 Prozent weniger pro Lamm im Vergleich zu vor der Pandemie. Die Regierung und Hilfsorganisationen unterstützen die Kutschi im Rahmen des fortlaufenden Community, Livestock and Agriculture Project (CLAP) mit veterinärmedizinischen Leistungen und bilden 100 Kutschi in Basiskenntnissen der Veterinärmedizin aus und informieren während der COVID-19 Pandemie die einzelnen Stämme durch Kampagnen um das Bewusstsein für die Krankheit zu steigern (IFAD 29.6.2020).
RückkehrerInnen
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 22).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).
COVID-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung)
Am 3. Juni 2020 berichtet UNOCHA, dass in Afghanistan 15.451 Personen positiv auf Covid-19 getestet worden seien. Etwa 1.522 Personen hätten sich bislang von der Krankheit erholt und 297 Personen seien verstorben. Insgesamt seien 42.273 Personen getestet worden. Afghanistan habe 37,6 Millionen EinwohnerInnen. Unter den Covid-19-Toten befänden sich 13 MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens. Über fünf Prozent der bestätigten Covid-19 Fälle seien unter MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens aufgetreten. Großteils seien Personen zwischen 40 und 69 Jahren an Covid-19 verstorben (ACCOR Covid-19).
Am 2. Mai 2020 habe die afghanische Regierung angekündigt, den landesweiten Lockdown auszuweiten. Die bestehenden landesweiten Maßnahmen würden einer Überprüfung unterzogen. Die Regierung in Kabul habe am 26. Mai 2020 unterdessen einen neuen Plan zur Lockerung des Covid-19-Lockdowns vorgestellt, der einen „Gerade-Ungerade-Ansatz“ („odds-and-evens“) vorsehe, um den Menschen eine Rückkehr an den Arbeitsplatz und andere Aktivitäten zu ermöglichen. Dies erfolge etwa mithilfe der letzten Ziffern der Nummerntafel von Privatautos. Friederike Stahlmann berichtet in ihrem Vortrag vom Mai 2020 über verschiedene Konsequenzen bei Nicht-Einhaltung der Lockdown-Regelungen. Manche Polizisten würden Personen verprügeln oder festnehmen oder Geldstrafen verhängen. Manchmal würden Anzeigen bis vor die Staatsanwaltschaft kommen und in anderen Fällen würde die Nicht-Einhaltung einfach ignoriert. Auch habe Stahlmann von Bestechung gehört, um die Regelungen umgehen zu können. Obdachlose sollen zudem aus Kabul weggebracht worden sein, Stahlmann wisse aber nicht, wohin, und ob diese etwa Zelte erhalten hätten (ACCOR Covid-19).
Die Kapazitäten Afghanistans zur Bekämpfung des Coronavirus seien einem Bericht des Central Asia-Caucasus Analyst vom 26. Mai 2020 zufolge eingeschränkt. Die Gesundheitsinfrastruktur sei schon immer fragil und schlecht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung vorbereitet gewesen. Der Mangel an Einrichtungen sei nun umso mehr spürbar. Ein akuter Mangel an Testsets, Medikamenten und persönlicher Schutzausrüstung (personal protection equipment, PPE) lege die afghanischen Kapazitäten zum Kampf gegen Covid-19 lahm. Auch der andauernde Krieg wirke sich auf die Kapazitäten zur Bekämpfung des Coronvirus aus. Die Reichweite der Regierung für Tests und Behandlung auf von Aufständischen kontrollierte Gebiete sei aufgrund der andauernden Angriffe der Taliban und des Islamischen Staates stark eingeschränkt. Zusätzlich sei die Regierung auf die Unterstützung der Sicherheitskräfte zur Umsetzung der Lockdownmaßnahmen sowie den Transport grundlegender Güter angewiesen. Jedoch könnten diese nicht zur Bekämpfung des Coronavirus eingesetzt werden, solange Angriffe von Aufständischen weiter andauern würden (ACCOR Covid-19).
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF schätzt Ende Mai 2020, dass in Afghanistan 11,9 Millionen Menschen vom Entzug der Nahrungsmittelsicherheit bedroht sein könnten, was wiederum zum Anstieg der multidimensionalen Armut (Einzelindikatoren zur Bemessung: Bildung, Gesundheit und Lebensstandard, Anm. ACCORD) von 51,7 auf 61,4 Prozent führen könnte. Berichte würden UNOCHA zufolge zudem darauf hinweisen, dass die Lockdown-Maßnahmen weiterhin Auswirkungen auf die Mobilität humanitärer Organisationen hätten, Hilfslieferungen verzögern würden und Auswirkungen auf den Zugang zu humanitärer Hilfe hätten. Humanitäre Partnerorganisationen würden jedoch weiterhin landesweit aktiv auf Krisen reagieren (ACCOR Covid-19).
Einem Vortrag von Friederike Stahlmann im Mai 2020 zufolge seien RückkehrerInnen aufgrund der Covid-19-Maßnahmen mit fehlenden Übernachtungsmöglichkeiten konfrontiert. Hotels und Teehäuser seien geschlossen. Stahlmann wisse von drei im März 2020 abgeschobenen Personen, die obdachlos geworden seien. Stahlmann erwähnt hinsichtlich RückkehrerInnen zudem, dass eine Flucht nach Europa sehr teuer sei und mit besonderen wirtschaftlichen Risiken verbunden sei, da viele dafür ihr sämtliches Hab und Gut verkauft hätten. Daher seien bei einer Rückkehr oft keine finanziellen Ressourcen mehr vorhanden, auf die sie zurückgreifen könnten. Zudem bedeute die regelmäßige Verweigerung von Familien Betroffene aufzunehmen, dass sie im Zweifelsfall nicht auf ein in Krankheitsfällen essentielles Betreuungsnetzwerk zählen könnten. Selbst wenn sie finanzielle Unterstützung hätten, sei so selbst die Beschaffung von Medikamenten und Zugang zu Pflege unrealistisch (ACCOR Covid-19).
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt und durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung und durch die Einvernahme von einer Zeugin.
Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen, seiner Schul- und Berufsausbildung, gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Die Feststellung zur Sozialisierung des Beschwerdeführers nach den afghanischen Gepflogenheiten, ergibt sich daraus, dass er in Afghanistan mit seiner afghanischen Familie aufgewachsen ist, er ist dort zur Schule gegangen.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung.
Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
Das Bundesverwaltungsgericht hat bei der Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Verlassens seines Heimatlandes minderjährig war. Entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich und die Dichte dieses Vorbringens kann nicht mit "normalen Maßstäben" gemessen werden. Zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers ist entsprechend diesen höchstgerichtlichen Vorgaben eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung erforderlich (Ra 2018/18/0150).
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass es nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung, dies insbesondere im Hinblick auf die Schilderung der Fluchtgeschichte bedarf (etwa VwGH 24.09.2014, Ra 2014/19/0020). Dies bedeutet allerdings nicht, dass jegliche Angaben eines Minderjährigen als wahr anzusehen sind.
Vor dem Bundesverwaltungsgericht bleib der BF bei seiner bisherigen Darstellung: Die Kutschis hätten sein Heimatdorf überfallen, sein Vater und sein Großvater hätten sich verteidigt und dabei wären zwei Kutschis verletzt worden (bei der Behörde wurden sie sogleich getötet). Deswegen hätten sie sofort die Landwirtschaft verlassen und seien nach Kabul geflohen. Die Familie hatte Angst, dass die Kutschis bewaffnet zurückkommen und sie töten wird.
Die Flucht nach Kabul ist nicht glaubhaft. Dies ausfolgenden Gründen:
Es ist für das Gericht – dies in der mündlichen Verhandlung auch dem BF dargelegt wurde – nicht glaubhaft, dass ein Landwirt sofort, lediglich, weil er zwei Kutschis in Notwehr verletzte, seine Landwirtschaft verlässt und die Tiere zurücklässt. Der Richter hielt ihm vor, dass der Vater zumindest die Nachbarn hätte fragen können, was mit der Landwirtschaft passiert sei. Er meinte dagegen, dass die Nachbarn von den Kutschis unter Druck gestanden wären und sie dadurch nichts sagen hätten dürfen.
„R: Selbst, wenn es der Wahrheit entspricht, ist es für mich unlogisch, dass man die Landwirtschaft und die Tiere einfach so zurücklässt.
BF: Wir konnten uns nicht mehr darum kümmern.
R: Ich rede nicht von kümmern, sondern um das Interessieren. Hätten Sie nicht einen Nachbarn anrufen können, um nach den Tieren zu fragen? Sie reden doch vom Leben und nicht von einem Film. Für mich ist es undenkbar, sich nicht dafür zu interessieren, was mit den Tieren passiert.
BF: Mein Großvater war ein mächtiger Mann, aber trotzdem hatten wir alle Angst vor den Kutschis.
RV beim Durchlesen (Anm. beim Durchlesen des Protokolls): Da hat er mehr gesagt. Ich denke, dass die Nachbarn noch mehr Angst hatten, als sein Großvater, obwohl dieser schon sehr mächtig war. Deswegen konnten die Nachbarn den Kutschis nichts sagen.
BF beim Durchlesen: Ja, wir konnten den Nachbarn nichts sagen beim Fliehen und deswegen wussten diese auch nicht, dass wir geflohen sind. Keiner will sich in Gefahr bringen.“
Der BF wisse somit nicht, was mit der Landwirtschaft (20 Jirib und Tierwirtschaft) in Maidan Wardak geschehen sei. Es ist weiterhin – auch mit seiner obigen Erklärung - mit den logischen Denkgesetzen kaum nachvollziehbar, weswegen sich ein Landwirt nicht mehr für seine Landwirtschaft interessiert, zumal bekannt ist, das die Kutschis - ein Nomadenvolk - das Land, das sie kurzzeitig bestellen, wieder verlassen. Die von ihm dazu ergangene Erklärung war für das Gericht diesbezüglich jedoch nicht erhellend, denn damit erklärt er nur, dass die ganze Ortschaft von den Kutschis Angst hatten, nicht aber, weswegen der Vater nicht aktiv von sich aus Interesse an dem Verbleib der Landwirtschaft/Tiere zeigte. Immerhin hatte er 20 Jirib Landwirtschaft, ein Haus und Tiere. Sich nicht einmal im Ansatz darüber zu informieren, von sich aus selbst tätig zu werden, ist nicht logisch, zumal die Kutschis ja nicht das ganze Jahr überbleiben, sondern wegzogen. Er hätte sich zumindest nach der Ernte darüber interessieren können. Dass die Kutschis weiterziehen, ergibt sich aus der Stellung als Nomadenvolk und auch aus seinen eigenen Aussagen, denn er meinte, dass die Kutschis jedes Jahr gekommen wären. Die Verletzung der beiden Kutschis in Folge der Notwehr einerseits und die komplette Aufgabe der Landwirtschaft auf der anderen Seite und damit verbunden, das Desinteresse zur zurückgelassenen Landwirtschaft stehen in einem dermaßen Ungleichverhältnis, dass der Richter grundsätzlich einmal Zweifel hatte und dies in der Verhandlung auch ansprach (sh Seite 9 ff der gerichtlichen Verhandlungsschrift). Es wird nicht verkannt, dass in erster Linie der Vater Interesse an der Landwirtschaft zeigen hätte sollen und nicht der in etwa 14-jährige Sohn. Dennoch ist von einem 14-jährigen Sohn eines Landwirtes zu erwarten, dass er sich bei seinem Vater erkundigt und wisse, wie es mit der zurückgelassenen Landwirtschaft bestellt ist. Es liegt durch seine Aussage der Verdacht nahe, dass er nicht die Wahrheit erzählte und machte ihn in seiner Person anfänglich unglaubwürdig.
Der BF konstruierte die Kutschis als terroristische Organisation und wäre diese „schlimmer als die Daesh oder die Taliban.“ Die Rechtsvertretung brachte vor: „Dass die Gruppe der Kuchi die Unterstützung der Taliban genießt und mit diesen eng verwoben ist, ist zahlreichen Länderberichten zu entnehmen.“ (Seite 15 der gerichtlichen Niederschrift). Dies wird seitens des Gerichtes auch nicht in Abrede gestellt, doch ist es für das Gericht vor dem Hintergrund der Länderberichte klar, dass die Kutschis und der Talbain, zwei unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen sozioökonomischen Struktur sind und die Kutschis nicht auch der gleichen terroristischen Ebene liegen wie die Kutschis. Die Kutschis sind generell ein paschtunisches Nomadenvolk, eine Minderheit, die geringe Chancen in Afghanistan haben und teilweise sesshaft wurden, während hingegen die Taliban eine terroristische Organisation mit dem Bestreben der Machtübernahme darstellen.
Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht nachvollziehbar, weswegen die Kutschis die Familie, als sie sich bereits in Kabul befanden, ausfindig machen konnten. Dies bei Wahrunterstellung, dass die Kutschis die Familie tatsächlich aktiv gesucht hat. Es gibt in Afghanistan kein zentrales Meldesystem oder ähnliche Registrierungseinrichtungen. Die Kutschis hätte die Familie somit durch ein Netzwerk ausfindig machen müssen. Selbst die Regierung hat kein solches (elektronisches) Netzwerk um bestimmte Personen zu finden. Warum dann die Kutschis, ein Nomadenvolk, ein solches Netzwerk hätte, ist nicht erklärbar. Würde sich der Aufenthalt der Familie in Kabul durch ein sonstiges Netzwerk ergeben, hätte der BF zumindest ansatzweise eine Erklärung. Er meinte lediglich, dass er es sich nicht erklären könne. Die Rechtsvertretung meinte in der Verhandlung und in ihrer Stellungnahe in der Verhandlung, dass die Taliban über „ein Netzwerk“ verfügen würden. Selbst wenn ein Netzwerk bestehen würde und selbst dann, wenn man die Kutschis mit den Taliban hinsichtlich des Angriffes auf das Dorf auf gleicher Eben stellen würde, geht das Gericht davon aus, dass die Familie nicht eine so exponierte Stellung hatte, als dass diese in Kabul verfolgt werden könnten. Natürlich ist dem Gericht bekannt, dass die Taliban (resp Kutschis – wenn man das in diesem Fall annimmt) über Netzwerke verfügen, welche es ihnen ermöglicht bestimmte Personen zu finden. Es besteht so gesehen auch bei diesem Fall eine theoretische Möglichkeit dazu. Bezieht man allerdings die weiteren Aspekte (iiI bis iv) mit ein, liegt die klare Überzeugung vor, dass das besagte Netzwerk nicht bestand. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass die Familie zu diesem Zeitpunkt auch nicht wissen konnte, ob die beiden Kutschis nun leben oder gestorben sind. Trotzdem entschied sich die Familie die Wohnung ständig zu wechseln, nur weil sie zwei Kutschis in Notwehr verletzt hätten. Gerade auch, weil – wie er meint – die Familie die Wohnung jeden Monat gewechselt haben, um den Aufenthalt zu verschleiern (wobei der BF sehr wohl zur Schule gehen hätte können), ist es umsomehr nachvollziehbar, wie die Kutschis die Familie in Kabul ausfinden machen hätte können.
„R: Wie glauben Sie, haben die Kutschis Sie in Kabul finden können?
BF: Ich weiß nicht, wie die uns gefunden haben. Sie haben meinen Großvater entführt, obwohl wir jeden Monat die Wohnung getauscht haben.“
Selbst bei Wahrunterstellung beider sehr unwahrscheinlicher Aspekte, nämlich (i) die Flucht wegen der beiden Verletzungen der Kutschis und (ii) das Auffinden der Familie in Kabul, kommen zwei weitere Aspekte hinzu, dies dazu führt, dass der erkennende Richter keine konkrete Fluchtgefahr erkannte:
(iii) Es ist logisch nicht nachvollziehbar, weswegen die Kutschis genau dann die Wohnung bzw das Haus in Kabul überfallen, als sich der Vater mit den Kindern nicht zuhause befand. Hätten Sie tatsächlich so große Rachegefühle wegen der beiden verletzten Kutschis gehegt, dann wäre es wohl nachvollziehbarer, dass sie dann den Überfall vornehmen, wenn sich der Großvater und der Vater in der Wohnung bzw im Haus befinden.
(iv) Ebenso ist es nicht nachvollziehbar, weswegen die Kutschis gerade die Tatzkira des BF und Familienfotos mitnahmen, so wie der BF beschreibt. Sie haben dadurch offenbar keinen weiteren Nutzen. Wäre der Nutzen darin gelegen, ihn dadurch jederzeit finden zu können, hätte sie wohl auf ihn gewartet und ihn – bzw den Vater, der die beiden Kutschis ja verletzt hätte - statt dem Großvater entführt.
Doch selbst bei Wahrunterstellung der Punkte (i) bis (iv) besteht keine Bedrohung. Die Familie lebte nach der angeblichen Entführung des Großvaters von 2015 bis 2017 unerkannt in Kabul. Sowohl der Vater, als auch der ältere Bruder hatten keine weiteren Bedrohungen mehr durch die Kutschis. Vielmehr ist es nicht nachvollziehbar, weswegen die Familie – nachdem sie zwei Jahre lang von den Kutschis nichts gehört haben – in den Iran zog. Selbst bei einer Wahrunterstellung des von Punkt (i) bis (iv) genannten, ist eine auf Faken basierende Furcht, eine zugleich allgemein begreifliche heftige Unruhe, aus der Sicht eines unbeteiligten Dritten nicht erkennbar, die Anlass geboten hätte das Land und die Familie zu verlassen. Vielmehr wäre wohl der Vater des BF, der auch bei dem Kampf gegen die Kutschis unmittelbar beteiligt war und von den Kutschis als Täter hätte angesehen werden können, bedroht worden und nicht der Sohn (BF). Diese vorgebrachte Bedrohung ist noch umso mehr unglaubwürdiger, als dass der BF nicht mit Sicherheit sagen kann, dass die beiden verletzten Kutschis gestorben sind. Ebenso gut hätten sie nur verletzt werden können, denn so hat die Familie bei dem Kampf zurückgelassen. Dass sie gestorben sind, kann die Familie bzw der BF nicht wissen, denn sie sind vorher geflohen. Bei einer Verletzung in Notwehr stellt sich noch viel mehr die Frage nach dem Vorgehen der Kutschis.
Aus alle den oben genannten liegt nicht nur die Vermutung, sondern die Überzeugung vor, wie sie es oben festgestellt wurde.
Ebenso bracht der BF keine konkreten Gründe vor, weswegen er als Hazara bedroht wurde. Auf die Frage ob er wegen seiner Volksgruppe im Falle einer Rückkehr bedroht werde, meinte er folgendes:
„BF: Ja, und die Kutschis haben meine Tazkira und sie würden mich finden und töten. Ich war immer auf der Flucht in meinem Land, weil ich ein Hazara bin. Wir mussten uns immer verstecken. Ich habe auch niemanden in Afghanistan und ich habe hier mein Leben aufgebaut.“
Mit dieser Aussage blieb er allerdings oberflächlich und konnte dadurch nicht erklären, weswegen konkret er wegen seiner Volksgruppe verfolgt werden würde. Er bezog seine Antwort wieder auf die Kutschis, deren unglaubwürdige Verfolgung oben beschrieben wurde. Alleine aufgrund seiner Volksgruppe wurde er nicht konkret verfolgt und war daher die unter den Feststellungen getroffene Entscheidung zu treffen.
Das er in der Fluchtvorbringen für das Gericht offenbar die Unwahrheit gesagt hat, wirft auch ein zweifelhaftes Bild seiner Glaubwürdigkeit in anderen Punkten, darunter selbstredend auch, dass seine Eltern im Iran wohnen. Diesbezüglich brachte er auch keine Nachweise vor.
In der eingebrachten Stellungnahme vom 26. Jänner 2021, wurden zu dem Fluchtgrund die bisherigen Aspekte vorgebracht. Die Stellungnahme wurde hinsichtlich des Fluchtgrundes nach der Verhandlung eingebracht und wiederholte im Grunde das bisherige Vorbringen. Dies wurde hinsichtlich des Fluchtgrundes oben widerlegt. Der Beschwerdeführer kann nichts daraus gewinnen, dass er eine „gleichbleibende“ Fluchtgeschichte vorbrachte. Eine Fluchtgeschichte kann nur gleichbleibend sein, weil es eben nur einen Sachverhalt gibt, den er vortragen kann. Dass er nicht bedroht wurde ist für das Gericht weiters auch nicht glaubhaft, wie oben ausgeführt wurde.
Zu den Feststellungen zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Dass der BF eine Lehre besucht ergibt sich aus den vorgelegten Unterlagen (sh OZ 7 und OZ 5). Am 05.09.2018 wurde ein Bescheid hstl der Beschäftigungsbewilligung, am 14.01.2020 ein Lehrvertrag vorgelegt. Dass er die Teilprüfung am 21.06.2018 hstl des Pflichtschulabschlusskurses und die Deutschprüfung auf dem Niveau B1 nach dem europäischen Referenzrahmen absolviert hat, ergibt sich ebenso aus den vorgelegten Unterlagen (sh OZ 6).
Dass er gute Integrationsschritte gesetzt hat, ergibt sich aus den vor der Behörde vorgelegten Empfehlungsschreiben, den Nachweisen seiner sportlichen und sozialen Tätigkeit (sh AS 123 ff OZ1).
Beweis für die oben angeführten Tatsachen ergibt sich auch aus den Aussagen der Zeugin, welche am 20.02.2021 vor dem Gericht einvernommen wurde.
Die Feststellungen zum Leben des BFs in Österreich, insbesondere zur Aufenthaltsdauer, seinen Deutschkenntnissen, seinen fehlenden familiären oder engen sozialen Anknüpfungspunkten in Österreich und seiner Integration in Österreich, stützen sich auf die Aktenlage, auf die Angaben des BFs in der mündlichen Verhandlung vor dem BvWG sowie auf die von ihm in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
Die Berücksichtigung der Lehre in einem Mangelberuf als öffentliches Interesse für die Wirtschaft wird nicht in Betracht gezogen (Vgl. VwGH 19.02.2020, Ra 2020/14/0001, sowie grundlegende VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, mwN). Es bleibt somit sein privates Interesse des BF am Verbleib und das Interesse seines Arbeitgebers zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses über die Behaltefrist nach Lehrzeitende hinaus übrig. Zur Abwägung siehe weiters auch bei der Rückkehrentscheidung.
Zu den Feststellungen zur Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsstadt Kabul ergeben sich aus den oben angeführten Länderberichten und auch aus der Tatsache, dass der BF in Kabul gewohnt hat und vermutlich befinden sich dort auch noch weitere Familienangehörige von ihm (sh dazu nachfolgend) die ihn unterstützten könnten.
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