TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/23 W103 2220384-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.02.2021
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Entscheidungsdatum

23.02.2021

Norm

AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W103 2220381-2/2E

W103 2220384-2/2E

W103 2220373-2/2E

W103 1235729-3/2E

W103 2220382-2/2E

W103 2220375-2/2E

W103 2220378-2/2E

W103 2220372-2/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX , 5.) XXXX , geb. XXXX , 6.) XXXX , geb. XXXX , 7.) XXXX , geb. XXXX und 8.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation und vertreten durch XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.06.2020, Zln. 1.) 723421602-171392788, 2.) 6275206-171393130, 3.) 723422000-171317107, 4.) 723422109-171392931, 5.) 732610908-180149734, 6.) 760449602-180149700, 7.) 790604105-171392982, und 8.) 800723600-171392974, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden gemäß den §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, 8, AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Verfahren über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten:

1.1. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und bekennen sich zum islamischen Glauben. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern des volljährigen Drittbeschwerdeführers, der volljährigen Viertbeschwerdeführerin und der jeweils minderjährigen Fünf- bis AchtbeschwerdeführerInnen.

Die erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien stellten infolge gemeinsamer illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 27.11.2002 Asylanträge. Für die in der Folge im Bundesgebiet geborenen fünft- bis achtbeschwerdeführenden Parteien wurden durch ihre gesetzlichen Vertreter jeweils ebenfalls Anträge auf Asyl eingebracht.

1.2. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 27.03.2007, Zahl 235.731/0/22E-VIII/40/03, wurde dem Erstbeschwerdeführer gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg.cit. wurde festgestellt, dass dem Erstbeschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wurde durch den Unabhängigen Bundesasylsenat insbesondere damit begründet, dass der Erstbeschwerdeführer von Ende 1999 bis Anfang 2000 tschetschenische Widerstandskämpfer im Krieg gegen die russische Armee unterstützt habe, indem er Munition, Nahrungsmittel und Verwundete von XXXX nach XXXX transportiert hätte. Hierbei sei er gefilmt worden. Als die russische Armee in Besitz dieses Filmmaterials gelangte, sei der Erstbeschwerdeführer am 15.10.2002 von russischen Soldaten in der leerstehenden Wohnung eines Freundes festgenommen worden, wobei ihm die Kassette vorgehalten und die aktive Teilnahme an den Kämpfen gegen Russland unterstellt worden sei. Um einer weiteren Verhaftung zu entgehen, habe der Erstbeschwerdeführer mit seiner Familie den Herkunftsstaat verlassen. Vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen habe nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden können, dass der Erstbeschwerdeführer wegen der aktiven Teilnahme an beiden Tschetschenien-Kriegen von asylrelevanter Verfolgung bedroht sei.

Den zweit- bis fünfbeschwerdeführenden Parteien wurde der Status der Asylberechtigten mit Bescheiden des Unabhängigen Bundesasylsenates ebenfalls vom 27.03.2007 im Wege der Erstreckung (bezogen auf das Verfahren des Erstbeschwerdeführers) gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 zuerkannt.

Dem minderjährigen Sechstbeschwerdeführer wurde der Status des Asylberechtigten mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates ebenfalls vom 27.03.2007 gemäß §§ 3, 34 AsylG 2005 zuerkannt.

Der minderjährigen Siebtbeschwerdeführerin wurde der Status der Asylberechtigten mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.05.2009 gemäß §§ 3 iVm 34 Abs. 2 AsylG 2005 zuerkannt.

Der minderjährigen Achtbeschwerdeführerin wurde der Status der Asylberechtigten mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.08.2010 gemäß §§ 3 iVm 34 Abs. 2 AsylG 2005 zuerkannt.

2. Verfahren über die Aberkennung des Status der Asylberechtigten:

2.1. Am 13.02.2018 erfolgten niederschriftliche Einvernahmen der volljährigen erst- bis drittbeschwerdeführenden Parteien vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in welchen diese über die beabsichtigte Einleitung von Verfahren zur Aberkennung ihres Asylstatus in Kenntnis gesetzt und zu ihren privaten- und familiären Lebensumständen befragt wurden.

Mit Eingabe vom 27.02.2018 erstattete die gewillkürte Vertretung der beschwerdeführenden Parteien eine schriftliche Stellungnahme, in welcher im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass keine maßgebliche Änderung der Umstände im Herkunftsstaat in Bezug auf den Fluchtgrund eingetreten sei und dem Erstbeschwerdeführer aufgrund der ihm unterstellten Eigenschaft als Widerstandskämpfer in ganz Russland weiterhin Verfolgung drohe. Dass die Sicherheitslage und Menschrechtslage in Tschetschenien und in ganz Russland nach wie vor volatil sei, würden sowohl die Länderberichte der Behörde als auch ergänzend zitierte Berichte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, von Amnesty International und von Human Rights Watch bestätigen. Das Verfahren zur Aberkennung des Status der Asylberechtigten sei in rechtswidriger Weise eingeleitet worden, zumal weder ein Grund gemäß § 7 Abs. 3 AsylG 2005, noch eine strafgerichtliche Verurteilung vorliege. Mangels Vorliegens eines Aberkennungsgrundes gemäß § 7 Abs. 1 AsylG sei das Verfahren einzustellen. Dem Erstbeschwerdeführer drohe in seinem Herkunftsland nach wie vor asylrelevante Verfolgung. Alle Angehörigen des Familienverbandes seien strafrechtlich unbescholten und würden keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit darstellen. Es werde daher beantragt, das Aberkennungsverfahren unverzüglich einzustellen. Ferner werde beantragt, einen Feststellungsbescheid darüber zu erlassen, dass die maßgeblichen Voraussetzungen zur Aberkennung des Status der Asylberechtigten bei keiner der acht Asylberechtigten vorliegen würden. Darüber hinaus wurden nähere Ausführungen zum schützenswerten Privat- und Familienleben der beschwerdeführenden Parteien in Österreich getroffen. Diesbezüglich wurden beiliegend diverse Unterlagen zum Beleg der Integration der beschwerdeführenden Familie übermittelt.

Mit Aktenvermerken vom 29.03.2018 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wegen grundlegender Änderungen der objektiven Umstände ein Aberkennungsverfahren ein.

Mit Schreiben vom 29.03.2018 verständigte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die zuständige Magistratsabteilung des XXXX über die Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status der Asylberechtigten und ersuchte um Verständigung über die rechtskräftige Erteilung der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ für die gesamte Familie.

Mit Schreiben vom 13.03.2019 informierte die XXXX über die am 05.03.2019 erfolgte Ausgabe von Bewilligungen „Daueraufenthalt EU“ mit Gültigkeitsdauer von XXXX an die beschwerdeführenden Parteien.

2.2. Mit Bescheiden vom 15.05.2019 wurde der den beschwerdeführenden Parteien zuerkannte Status der Asylberechtigten jeweils gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG die Feststellung getroffen, dass den Genannten die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Weiters wurde den beschwerdeführenden Parteien gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.).

Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten wurde im Verfahren des Erstbeschwerdeführers im Wesentlichen ausgeführt, dass die Asylgewährung an den Erstbeschwerdeführer darauf beruht hätte, dass dem Genannten im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch russische Soldaten drohe. Dieser hätte angegeben, von Ende 1999 bis Anfang 2000 tschetschenische Widerstandskämpfer im Krieg gegen die russische Armee unterstützt zu haben, indem er Munition, Nahrungsmittel und Verwundete transportiert hätte. Hierbei sei er gefilmt worden, wobei ihm die Aufnahme im Zuge einer Festnahme durch russische Soldaten am 15.10.2002 vorgehalten und ihm die aktive Teilnahme an den Kämpfen gegen Russland unterstellt worden sei. Die Anhaltung habe vier Tage gedauert. Aus Furcht vor weiteren Festnahmen habe er den Herkunftsstaat in Begleitung der Familie verlassen. Dem Erstbeschwerdeführer hätten damals ungerechtfertigte Eingriffe von erheblicher Intensität aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen gedroht und es hätte ihm damals keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung gestanden. Aufgrund der geänderten Lage in der Teilrepublik Tschetschenien treffe dies heute nicht mehr zu. Es seien heute auch ehemalige Widerstandskämpfer in Tschetschenien an der Macht, russische Einheiten seien in Tschetschenien seit vielen Jahren nicht mehr präsent. Das Bundesamt verkenne nicht, dass es in Tschetschenien zu Menschrechtsverletzungen komme, nichtsdestotrotz sei eine wesentliche Verbesserung der Sicherheitslage in Tschetschenien seit Zuerkennung des Status des Asylberechtigten erkennbar. Die Zahl der bewaffneten Auseinandersetzungen sei über die Jahre hinweg deutlich gesunken. Die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten habe sich auf die in den Jahren 2000 bis 2002 prekäre Sicherheitslage in der Teilrepublik Tschetschenien gegründet.

In den Verfahren der zweit- bis achtbeschwerdeführenden Parteien wurde zur Begründung der Aberkennung des Status der Asylberechtigten im Wesentlichen darauf verwiesen, dass diese den Status im Rahmen des Familienverfahrens zuerkannt bekommen hätten. Da es im Verfahren der Bezugsperson aufgrund des Wegfalls der Umstände zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten gekommen sei, seien auch die Verfahren der zweit- bis achtbeschwerdeführenden Parteien von der Aberkennung betroffen.

Seit der Asylzuerkennung seien mehr als fünf Jahre vergangen; da den beschwerdeführenden Parteien von der zuständigen Aufenthaltsbehörde nach Verständigung ein Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt worden sei, könne eine Aberkennung des Status gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG erfolgen.

Es hätten keine stichhaltigen Gründe festgestellt werden können, die gegen eine Rückkehr in die Russische Föderation sprechen würden, weshalb den beschwerdeführenden Parteien der Status von subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen sei.

Auf Grundlage der Feststellungen seien keine existenziellen Probleme in Bezug auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln gegeben, ferner liege in der Russischen Föderation derzeit keine dergestalt exzeptionelle Situation vor, welche eine Gefährdung im Sinne von Art. 2 und 3 EMRK indizieren würde. Die beschwerdeführenden Parteien hätten auch weder eine lebensbedrohende Erkrankung noch einen sonstigen auf ihre Person bezogenen „außergewöhnlichen Umstand“ behauptet oder bescheinigt, der ein Abschiebungshindernis im Sinne von Art. 3 EMRK darstellen könnte.

Ein Sachverhalt, welcher die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 erforderlich machen würde, habe sich im Verfahren nicht ergeben.

Die beschwerdeführenden Parteien würden über ein schützenswertes Privat- und Familienleben im Bundesgebiet verfügen. Eine Rückkehrentscheidung sei im gegenständlichen Verfahren nicht zu treffen gewesen, zumal den BeschwerdeführerInnen ein Aufenthaltstitel nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz erteilt worden wäre.

2.3. Gegen die Spruchpunkte I. und II. dieser Bescheide richtete sich die durch die gewillkürte Vertretung mit für alle Familienmitglieder gleichlautender Eingabe vom 12.06.2018 eingebrachte Beschwerde, in welcher begründend im Wesentlichen ausgeführt wurde, die Gründe, die zur Zuerkennung internationalen Schutzes an den Erstbeschwerdeführer geführt hätten, seien weiterhin aufrecht. Auch habe sich die Sicherheitslage im Heimatstaat nicht maßgeblich geändert. Dem Erstbeschwerdeführer und seinen Angehörigen drohe im Falle einer Rückkehr zudem die Gefahr einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. Die Behörde habe sich lediglich mit den objektiven Umständen in der Russischen Föderation auseinandergesetzt, nicht jedoch mit dem subjektiven Tatbestandsmerkmal. Insbesondere habe sie es unterlassen, zu prüfen, ob sich die Umstände, die konkret zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus geführt hätten, nachhaltig verändert haben. Wie sich aus der Niederschrift der Einvernahmen vom 13.02.2018 ergebe, habe die Behörde es gänzlich unterlassen, die beschwerdeführenden Parteien inhaltlich zu den Gründen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, zu befragen. Ebenso habe es die Behörde unterlassen, die beschwerdeführenden Parteien zu anderen Gründen, die eine Furcht vor Verfolgung iSd Statusrichtlinie begründen können, zu befragen. Hätte die Behörde die beschwerdeführenden Parteien entsprechend befragt, wäre sie zu dem Schluss gekommen, dass dem Erstbeschwerdeführer als ehemaliges Mitglied des tschetschenischen Widerstandes in der gesamten Russischen Föderation weiterhin Verfolgung drohe und sich die Lage nicht nachhaltig geändert hätte. Zudem drohe den beschwerdeführenden Parteien mittlerweile aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit asylrelevante Verfolgung iSd GFK. Seit der Herrschaft Kadyrows in Tschetschenien werde nur mehr eine Strömung der Religionsausübung, jene des Sufismus, akzeptiert. Die beschwerdeführenden Parteien würden eine andere Form des Islams leben und als Nicht-Sufisten von Kadyrow und seinem Staatsapparat als Staatsfeind betrachtet und als Wahhabiten bezeichnet werden. Die belangte Behörde habe es vollständig unterlassen, die beschwerdeführenden Parteien im Hinblick auf die Religion und die damit einhergehende Verfolgungsgefahr in der Russischen Föderation zu befragen. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und veraltet. Ausführliche Berichte zur politischen Verfolgung in der Russischen Föderation – auch Jahrzehnte nach der Ausreise – würden gänzlich fehlen. Aus verschiedenen auszugsweise zitierten Berichten ergebe sich, dass in Tschetschenien weiterhin massive Menschenrechtsverletzungen begangen würden und es zu außergerichtlichen Hinrichtungen sowie Folter ehemaliger Widerstandskämpfer komme. Ein OSZE-Bericht aus Dezember 2018 fasse vor allem die rezenten Menschenrechtsverletzungen, die tschetschenische RückkehrerInnen in ihrem Herkunftsstaat erwarten, zusammen. Dass die Behörde selbst von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien ausginge, ergebe sich aus dem Bescheid, doch es fehle jegliche Auseinandersetzung mit der Frage, warum die beschwerdeführenden Parteien nicht von den Menschenrechtsverletzungen bedroht sein sollten. Worin genau die nachhaltige Änderung der Lage begründet liege, werde von der Behörde nicht näher ausgeführt. Selbst wenn sich die allgemeine Lage gebessert hätte, stelle dies kein Indiz dafür dar, dass der Erstbeschwerdeführer nicht mehr politisch verfolgt werde. Die Behörde hätte daher ermitteln müssen, wie sich die Lage fallspezifisch darstelle. Ebensowenig habe die Behörde sich mit der Lage tschetschenischer RückkehrerInnen befasst. Eine Recherche in russisch- und tschetschenischsprachigen Originalquellen zeige, dass es sowohl Drohungen von Kadyrow selbst, als auch von den ihm unterstellten Staatsmächten gegenüber RückkehrerInnen gebe. Die Länderberichte der Behörde würden sich nur an einigen wenigen Stellen mit der Situation vermeintlicher Widerstandskämpfer im Falle ihrer Rückkehr befassen. Hätte die belangte Behörde Recherchen im Herkunftsstaat durchgeführt, anstatt nur Länderberichte ihrem Bescheid zugrundezulegen, so hätte sie feststellen müssen, dass ehemaligen Mitgliedern und Unterstützern des Widerstandes in Tschetschenien nach wie vor asylrelevante Verfolgung, willkürliche Inhaftierung, Folter und sogar Mord drohe und es aufgrund der Kooperation Tschetscheniens mit Russland auch keine innerstaatliche Fluchtalternative für ehemalige Mitglieder des Widerstandes gebe. Nicht nur drohe dem Erstbeschwerdeführer nach wie vor als ehemaliges Mitglied des tschetschenischen Widerstandes Verfolgung iSd GFK, als Nicht-Sufisten drohe der gesamtem Familie darüber hinaus Verfolgung iSd GFK aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit. Ferner habe sich die Behörde nicht mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, dass die beschwerdeführenden Parteien bei einer Rückkehr in eine ausweglose, existenzbedrohende Situation geraten könnten. Aufgrund der drohenden Verfolgung könnten die beschwerdeführenden Parteien bei einer Rückkehr keiner geregelten Arbeit nachgehen, weshalb sie mit sieben Kindern jedenfalls in eine existenzbedrohende Lage geraten würden. Soweit die Behörde den Familienmitgliedern des Erstbeschwerdeführers den Status unter Berufung auf § 34 AsylG 2005 aberkenne, übersehe sie, dass die Bestimmungen über das Familienverfahren iSd § 34 AsylG keine Anwendung fänden. Der kraft Familienverfahrens erworbene Status könne nur bei individuellem Vorliegen eines in § 7 AsylG enthaltenen Aberkennungstatbestandes aberkannt werden.

2.4. Die Beschwerdevorlagen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langten am 24.06.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

2.5. Mit Beschlüssen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 05.05.2020, Zahlen W103 2220381-1, W103 2220384-1, W103 2220373-1, W103 1235729-2, W103 2220382-1, W103 2220375-1, W103 2220378-1, und W103 2220372-1, wurden die Bescheide vom 15.05.2019 gemäß § 28 Absatz 3 VwGVG behoben und die Verfahren an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

Begründend wurde ausgeführt, die beschwerdeführenden Parteien seien im Vorfeld der Bescheiderlassung zu keinem Zeitpunkt hinsichtlich einer beabsichtigten Aberkennung ihres Asylstatus wegen geänderter Umstände einvernommen worden. Weder seien diese hinsichtlich eines Fortbestehens ihrer ursprünglichen Ausreisegründe befragt worden, noch sei ihnen Gelegenheit gegeben worden, allfällige neu entstandene Rückkehrbefürchtungen zur Sprache zu bringen. Im Bescheid des Erstbeschwerdeführers sei zwar wiederholt auf eine Änderung der Lage im Herkunftsstaat Bezug genommen worden, es sei jedoch in keiner Weise konkretisiert worden, in wie fern sich eine solche anhand der im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen ableiten ließe, noch sei aufgezeigt worden, weshalb die beim Erstbeschwerdeführer im Jahr 2007 festgestellte individuelle Verfolgungsgefahr zwischenzeitig nicht mehr als vorliegend erachtet werde. Die im Bescheid wiedergegebenen Länderberichte enthielten keine Ausführungen zur aktuellen Situation von Teilnehmern an Kampf- bzw. Unterstützungshandlungen im zweiten Tschetschenienkrieg, welche zur Begründung eines Wegfalls der individuellen Verfolgungsgefahr des Erstbeschwerdeführers herangezogen werden könnten. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe den Erstbeschwerdeführer weder zu seiner aktuellen Situation befragt, noch sonstige Ermittlungsschritte, etwa durch Heranziehung von einzelfallspezifischen Länderberichten, welche eine Würdigung der ursprünglichen Zuerkennungsgründe durch einen Abgleich mit der tatsächlichen Situation im Herkunftsstaat ermöglichen würden, durchgeführt. In den Verfahren der zweit- bis achtbeschwerdeführenden Parteien seien zudem keinerlei Feststellungen hinsichtlich allfälliger individueller Rückkehrhindernisse getroffen worden.

2.6. Mit Schreiben vom 05.06.2020 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den volljährigen beschwerdeführenden Parteien das im fortgesetzten Verfahren herangezogene Berichtsmaterial zur Lage in ihrem Herkunftsstaat und gewährte diesen die Möglichkeit, hierzu binnen Frist eine Stellungnahme einzubringen.

Am 16.06.2020 wurden die volljährigen beschwerdeführenden Parteien jeweils im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache, ihrer bevollmächtigten Vertreterin sowie einer Vertrauensperson niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen.

Der Erstbeschwerdeführer gab auf entsprechende Befragung hin zusammengefasst an, die ursprüngliche Verfolgungsgefahr sei immer noch genauso aktuell, da er mitgewirkt und geholfen hätte. Es sei so, wie zum Zeitpunkt der Antragstellung. Für den Fall einer Rückkehr befürchte er, von Kadyrow-Leuten festgenommen zu werden. Er würde dann vor die Wahl gestellt werden, entweder mit den Kadyrow-Leuten zusammenarbeiten zu müssen oder er wäre ihr Feind und Gegner. Würde er es nicht tun, wäre es schrecklich für die Frau und die Kinder. Vor der Ausreise habe er allen Verwandten gesagt, dass sie sich von ihm lossagen sollten. Befragt, weshalb Kadyrow-Leute Interesse an ihm haben sollten, wo er doch von russischer Seite verfolgt worden wäre, erklärte der Erstbeschwerdeführer, Putin arbeite mit Kadyrow zusammen; sie würden sich für alle interessieren, die im Widerstand gewesen seien und sind. Über Vorhalt, dass von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges alleine aufgrund der Teilnahme an Kriegshandlungen heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen sei und der Erstbeschwerdeführer angegeben hätte, vor etwa 20 Jahren Kämpfer lediglich unterstützt zu haben und ihm abgesehen davon, dass Verfolgungen nach derart langen Zeitspannen als ausgeschlossen zu betrachten wären, eine inländische Fluchtalternative beispielsweise in Moskau, Rostow oder Stawropol zur Verfügung stehen würde, verneinte der Erstbeschwerdeführer dies und gab an, Kadyrow habe von Putin alle Vollmachten bekommen und habe viel Macht in Russland. Es würden immer noch Maßnahmen gegen Tschetschenen getroffen, welche im Widerstand tätig gewesen wären. Man mache ihnen Schwierigkeiten bei der Anmeldung und man ließe es sie spüren. Über Frage der bevollmächtigten Vertreterin, was passieren würde, wenn er nicht für Kadyrow arbeiten würde, meinte der Erstbeschwerdeführer, in so einem Fall würde er spurlos verschwinden. Auch würden die Sunniten bei ihnen verfolgt werden. Alles andere außer Sufismus werde in Tschetschenien verfolgt. Dies würde auch ihn betreffen. Außerdem müsste er im Falle einer Arbeit für die Kadyrow-Leute genauso wie sie Leute abschlachten.

Die Zweitbeschwerdeführerin bestätigte, dass ihr selbst und ihren Kindern der Status der Asylberechtigten im Rahmen des Familienverfahrens zuerkannt worden sei und eine individuelle Verfolgung jeweils nicht vorgelegen hätte. Sie würden jedoch auch verfolgt werden, da sie zur Familie gehörten und es in Tschetschenien Gruppenbestrafungen gebe. Ihr Gatte habe seine in Tschetschenien zurückgebliebenen Familienangehörigen gebeten, sich von ihm zu distanzieren, um einer Verfolgung zu entgehen. Befragt, was sie im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation befürchten würde, gab die Zweitbeschwerdeführerin an, es sei aus anderen Fällen bekannt, dass auch Familienangehörige bestraft werden. Es könne alles Mögliche passieren: Festnahme, Folter, sie müssten gegen den Gatten/Vater aussagen. Über Befragung der bevollmächtigten Vertreterin gab die Zweitbeschwerdeführerin an, alle, außer Sufisten, würden verfolgt werden. Alle Familienangehörigen müssten beobachten, wie wer betet. In Moscheen müsse man auch beobachten und man müsse bekanntgeben, wer kein Sufist sei. Sie könnten sie nicht verheimlichen, dass sie keine Sufisten seien. Die Zweitbeschwerdeführerin verschleiere sich vor den Verwandten ihres Gatten; sei man verschleiert, gelte man als Wahhabit und falle sofort auf. Wahhabiten würden abgestempelt, verfolgt und getötet werden.

Der Drittbeschwerdeführer gab zu seinen Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr an, der Vorfall von seinem Vater sei heute schon erwähnt worden; dann gebe es die religiöse Komponente (Sufisten). Ferner gebe es die soziale Komponente. Der Drittbeschwerdeführer könne weder richtig Russisch, noch Tschetschenisch. Er hätte in der Russischen Föderation nichts. Er bekomme dort keine Ausbildung und keine Arbeit. In seiner Kultur sei es so, dass er in der Gesellschaft nur schwer Akzeptanz finden würde. Ihm würde vorgeworfen werden, Sohn jenes Mannes zu sein, der diese Taten getan hätte. Er könnte verhaftet und gefoltert werden. Er müsste vielleicht für Kadyrow arbeiten und andere Leute foltern oder umbringen. Als Sunnit könnte er den Glauben in Tschetschenien nicht so ausüben, wie er es tue. Dort werde der Sufismus praktiziert. Wer sich weigere, werde als Wahhabit oder Extremist abgestempelt.

Die Viertbeschwerdeführerin gab hinsichtlich ihrer Rückkehrbefürchtungen zu Protokoll, sie würde aufgrund der Dinge, die ihr Vater getan hätte, verfolgt werden. Wegen ihrer Religion würden die Leute sofort merken, dass sie nicht zu ihnen gehöre. Als Frau könne man dort keine ordentliche Ausbildung machen und müsse sich dem Mann unterordnen. Sie müsste sich verschleiern, wozu seitens des Einvernahmeleiters angemerkt wurde, dass die Viertbeschwerdeführerin auch während der Einvernahme verschleiert gewesen sei.

Mit an die Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin gerichtetem Schreiben vom 16.06.2020 wurde um Bekanntgabe allfälliger Rückkehrbefürchtungen der minderjährigen Fünftbeschwerdeführerin und des minderjährigen Sechsbeschwerdeführers ersucht.

Mit Eingaben vom 19.06.2020 wurde seitens der bevollmächtigten Vertreterin der beschwerdeführenden Parteien eine Stellungnahme eingebracht. Ausgeführt wurde, dass die herangezogenen Länderfeststellungen im Hinblick auf die Einhaltung der EMRK ein besorgniserregendes Bild der gegenwärtigen Situation in Tschetschenien zeichnen würden. Die Situation habe sich seit Zuerkennung des Status der Asylberechtigten nicht maßgeblich geändert, dem Erstbeschwerdeführer drohe aufgrund der ihm unterstellten Eigenschaft als Widerstandskämpfer in ganz Russland weiterhin Verfolgung. Aufgrund der vielfältigen Verknüpfung und engen Zusammenarbeit der tschetschenischen mit den russischen Behörden sei eine innerstaatliche Fluchtalternative für politisch Verfolgte nicht gegeben. Verwiesen wurde desweiteren auf die Gefahr für Personen, welche sich nicht dem Sufismus zugehörig fühlen sowie auf einen ergänzenden Bericht zum Thema „Ehrenmord“, welcher die weitgehende Entrechtung von Frauen in Tschetschenien belegen würde.

Mit Schreiben vom 23.06.2020 wurde durch die bevollmächtigte Vertreterin in den Verfahren der minderjährigen fünft- und sechstbeschwerdeführenden Parteien ausgeführt, die minderjährigen beschwerdeführenden Parteien seien im Bundesgebiet geboren worden und hätten hier ihre maßgebliche Sozialisierung erlebt und sich noch nie in Tschetschenien aufgehalten. Ansonsten werde auf die Verfolgungsgefahr, die bei einer Rückkehr drohe, auf das Vorbringen der gesetzlichen Vertreter verwiesen.

2.7. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.06.2020 wurde den beschwerdeführenden Parteien der Status der Asylberechtigten jeweils gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass diesen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkte I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde den beschwerdeführenden Parteien der Status des subsidiär Schutzberechtigten jeweils nicht zuerkannt (Spruchpunkte II.).

In der Entscheidungsbegründung wurde nach Darstellung des im Falle des Erstbeschwerdeführers im Bescheid über die Asylgewährung festgestellten Sachverhaltes erwogen, die Lage in der Russischen Föderation habe sich nachhaltig geändert und es sei den Länderfeststellungen zu entnehmen, dass eine Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges alleine aufgrund der Teilnahme an Kriegshandlungen heute im Allgemeinen nicht mehr stattfinden würde. Der Erstbeschwerdeführer habe laut seinen Ausführungen im Asylverfahren lediglich eine untergeordnete Rolle im Bürgerkrieg gehabt, indem er tschetschenische Kämpfer mit Munition und Nahrungsmitteln versorgt und verwundete tschetschenische Widerstandskämpfer transportiert hätte. Gründe, weshalb das tschetschenische Regime gerade an seiner Person ein konkretes Interesse aufweisen sollte, trotzdem bereits eine Zeitspanne von achtzehn Jahren vergangen sei und mehrere Amnestien gegen ehemalige Widerstandskämpfer erlassen worden seien, habe der Erstbeschwerdeführer nicht überzeugend darlegen können. Kriminelle Akten gegen Regimegegner im In- und Ausland könnten zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, jedoch habe der Erstbeschwerdeführer im Bürgerkrieg eine untergeordnete Rolle eingenommen. Das Bundesamt verkenne nicht, dass es in Tschetschenien zu Menschenrechtsverletzungen kommen könne, dennoch sei eine wesentliche Verbesserung der dortigen Sicherheitslage seit Zuerkennung des Asylstatus zu erkennen. Hinweise auf eine Verfolgung durch Angehörige der islamischen Strömung der Sufisten seien ebenfalls nicht festzustellen gewesen. Selbst wenn man davon ausginge, dass die vom Erstbeschwerdeführer dargelegte Bedrohungssituation tatsächlich bestünde, so würde man aufgrund des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu keinem anderen Verfahrensergebnis gelangen. Der Erstbeschwerdeführer habe nicht glaubhaft gemacht, auf dem gesamten Staatsgebiet einer Verfolgung durch das Kadyrow-Regime zu unterliegen und es wäre den beschwerdeführenden Parteien jedenfalls zumutbar, sich in der tschetschenischen Diaspora in Moskau, Rostow, oder Stawropol niederzulassen und einen Arbeitsplatz zu finden. Die Macht von Kadyrow würde grundsätzlich nicht über die Grenzen Tschetscheniens hinausreichen. Der Erstbeschwerdeführer habe zu keinem Zeitpunkt substantiiert Gründe dargelegt, die gegen eine Niederlassung in anderen Landesteilen sprechen würden. Da die Notwendigkeit internationalen Schutzes bei der Bezugsperson weggefallen wäre, sei auch den zweit- bis achtbeschwerdeführenden Parteien die Flüchtlingseigenschaft wieder abzuerkennen gewesen, zumal die Genannten auch keine individuellen asylrelevanten Sachverhalte vorgebracht hätten. Den beschwerdeführenden Parteien sei daher der Status von Asylberechtigten abzuerkennen gewesen.

Auch darüber hinaus bestünden keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass eine Abschiebung in die Russische Föderation Art. 2, Art. 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention verletzen würde oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes darstellen würde. Die beschwerdeführenden Parteien würden jeweils an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen leiden und könnten ihren Lebensunterhalt im Fall einer Rückkehr eigenständig bestreiten, sodass die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes ebenfalls nicht vorlägen.

2.8. Mit Eingabe vom 29.07.2020 wurde mit für alle Familienmitglieder gleichlautendem Schriftsatz die verfahrensgegenständliche Beschwerde eingebracht, weshalb auch mit gemeinsamen EK des BVwG entschieden wurde. Begründend wurde ausgeführt, die Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren durchgeführt und es unterlassen, zu prüfen, ob sich die Umstände, die zur Anerkennung des Erstbeschwerdeführers als Flüchtling geführt hätten, nachhaltig verändert haben. Ebenso habe die Behörde eine Prüfung dahingehend unterlassen, ob den beschwerdeführenden Parteien aus einem anderen Grund Verfolgung drohe Die im fortgesetzten Verfahren durchgeführten Einvernahmen seien abermals mangelhaft geführt worden, zumal keine Nachfragen zum Vorbringen des Erstbeschwerdeführers erfolgt wären und der pauschale Verweis auf eine Verbesserung der Lage nicht konkretisiert worden wäre. Hätte die Behörde die beschwerdeführenden Parteien entsprechend befragt, wäre sie zum Ergebnis gelangt, dass dem Erstbeschwerdeführer in der gesamten Russischen Föderation als ehemaliger Widerstandskämpfer weiterhin Verfolgung drohe und eine nachhaltige Änderung der Lage nicht eingetreten sei. Zudem wäre sie zu Schluss gekommen, dass die beschwerdeführenden Parteien mittlerweile auch aus anderen Gründen, nämlich wegen ihrer Religionszugehörigkeit, von asylrelevanter Verfolgung bedroht seien. Seit der Herrschaft des Kadyrow werde in Tschetschenien nur mehr die Strömung des Sufismus akzeptiert, Nicht-Sufisten würden von Kadyrow und seinem Staatsapparat als Staatsfeinde betrachtet und als Wahhabiten bezeichnet. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und veraltet. Ausführliche Berichte zur politischen Verfolgung in der Russischen Föderation würden fehlen und es würden sich die herangezogenen Berichte nur unzureichend mit der konkreten Situation der beschwerdeführenden Parteien befassen. Die Behörde habe nicht offengelegt, wie sie zur Auffassung einer nachhaltigen Änderung der Lage gelangt sei. Die im angefochtenen Bescheid wiedergegebenen Länderberichte würden keine Ausführungen zur aktuellen Situation von Teilnehmern an Kampf- bzw. Unterstützungshandlungen im zweiten Tschetschenienkrieg enthalten, welche zur Begründung eines Wegfalls der individuellen Verfolgungsgefahr des Erstbeschwerdeführers herangezogen werden könnten. Die Tatsache, dass es zu Amnestien gekommen sei und ehemalige Widerstandskämpfer mittlerweile prominent an Kadyrows Seite stünden, werde auch vom Erstbeschwerdeführer nicht in Frage gestellt; allerdings fehle jegliche Auseinandersetzung mit Personen, die nicht „freiwillig die Seite wechseln.“ Der Erstbeschwerdeführer habe vorgebracht, dass er im Namen Kadyrows ebenfalls Menschenrechtsverletzungen begehen müsste, um einer Verfolgung zu entgehen, womit sich die Behörde nicht auseinandergesetzt hätte. Verwiesen wurde auf auszugsweise zitiertes Berichtsmaterial, welches belege, dass Personen in der Situation des Erstbeschwerdeführers im Falle einer Rückkehr nach wie vor mit Verfolgung durch das tschetschenische Regime zu rechnen hätten und eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zur Verfügung stünde. Zudem habe die Behörde keine ausreichenden Länderberichte zur von den beschwerdeführenden Parteien vorgebrachten Verfolgung als Nicht-Sufisten herangezogen. Indem die Behörde sich nicht mit dem Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien auseinandersetze und keine einzige relevante Quelle für die Feststellung, wonach den beschwerdeführenden Parteien keine Verfolgung aus religiösen Gründen drohe, heranziehe, belaste sie den Bescheid mit Rechtswidrigkeit. Näher angeführte Berichte würden belegen, dass in Tschetschenien abseits des Sufismus keine anderen religiösen Strömungen akzeptiert würden und Anhänger solcher einer Verfolgungsgefahr aufgrund der religiösen Orientierung ausgesetzt seien. Die beschwerdeführenden Parteien könnten aufgrund der drohenden Verfolgung keiner geregelten Arbeit im Herkunftsstaat nachgehen und würden mit sieben Kindern jedenfalls in eine existenzbedrohende Lage geraten. Die Behörde habe zudem einen Bericht des OSZE aus Dezember 2018 unberücksichtigt gelassen, welchem sich insbesondere entnehmen ließe, dass es in Tschetschenien nach wie vor zu Menschenrechtsverletzungen komme. Die beschwerdeführenden Parteien hätten nach wie vor wohlbegründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer politischen Gesinnung als ehemalige Angehörige des tschetschenischen Widerstands sowie aufgrund ihrer Religion, sodass die Definition eines Flüchtlings weiterhin auf sie zutreffen würde. Zudem habe die Behörde die Bestimmung über das Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 rechtswidrig im Aberkennungsverfahren zur Anwendung gebracht. Die Behörde hätte für jedes Familienmitglied eine Prüfung vorzunehmen gehabt, ob die Voraussetzungen des § 3 AsylG 2005 vorliegen. Die von den Zweit- bis ViertbeschwerdeführerInnen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgebrachten Rückkehrbefürchtungen seien nicht gewürdigt worden.

2.9. Die Beschwerdevorlagen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und die bezughabenden Verwaltungsakte langten am 31.07.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und bekennen sich zum islamischen Glauben. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern des volljährigen Drittbeschwerdeführers, der volljährigen Viertbeschwerdeführerin und der jeweils minderjährigen Fünf- bis AchtbeschwerdeführerInnen, deren gesetzliche Vertretung sie innehaben.

Die erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien stellten infolge gemeinsamer illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 27.11.2002 Asylanträge. Für die in der Folge im Bundesgebiet geborenen fünft- bis achtbeschwerdeführenden Parteien wurden durch ihre gesetzlichen Vertreter ebenfalls Anträge auf Asyl eingebracht.

1.2. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 27.03.2007, Zahl 235.731/0/22E-VIII/40/03, wurde dem Erstbeschwerdeführer gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg.cit. wurde festgestellt, dass dem Erstbeschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wurde durch den Unabhängigen Bundesasylsenat insbesondere damit begründet, dass der Erstbeschwerdeführer von Ende 1999 bis Anfang 2000 tschetschenische Widerstandskämpfer im Krieg gegen die russische Armee unterstützt habe, indem er Munition, Nahrungsmittel und Verwundete von XXXX nach XXXX transportiert hätte. Hierbei sei er gefilmt worden. Als die russische Armee in Besitz dieses Filmmaterials gelangte, sei der Erstbeschwerdeführer am 15.10.2002 von russischen Soldaten in der leerstehenden Wohnung eines Freundes festgenommen worden, wobei ihm die Kassette vorgehalten und die aktive Teilnahme an den Kämpfen gegen Russland unterstellt worden sei. Um einer weiteren Verhaftung zu entgehen, habe der Erstbeschwerdeführer mit seiner Familie den Herkunftsstaat verlassen. Vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen habe nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden können, dass der Erstbeschwerdeführer wegen der aktiven Teilnahme an beiden Tschetschenien-Kriegen von asylrelevanter Verfolgung bedroht sei.

Den zweit- bis fünfbeschwerdeführenden Parteien wurde der Status der Asylberechtigten mit Bescheiden des Unabhängigen Bundesasylsenates ebenfalls vom 27.03.2007 im Wege der Erstreckung (bezogen auf das Verfahren des Erstbeschwerdeführers) gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 zuerkannt.

Dem minderjährigen Sechstbeschwerdeführer wurde der Status des Asylberechtigten mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates ebenfalls vom 27.03.2007 gemäß §§ 3, 34 AsylG 2005 zuerkannt.

Der minderjährigen Siebtbeschwerdeführerin wurde der Status der Asylberechtigten mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.05.2009 gemäß §§ 3 iVm 34 Abs. 2 AsylG 2005 zuerkannt.

Der minderjährigen Achtbeschwerdeführerin wurde der Status der Asylberechtigten mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.08.2010 gemäß §§ 3 iVm 34 Abs. 2 AsylG 2005 zuerkannt.

1.3. Nicht festgestellt werden kann, dass die beschwerdeführenden Parteien in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation zum Entscheidungszeitpunkt (weiterhin) aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wären. Die objektive Lage im Herkunftsstaat hat sich seit der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten maßgeblich verbessert. Der Erstbeschwerdeführer, welcher im Zeitraum 1999 bis 2000 die tschetschenische Widerstandsbewegung im Kampf gegen die russische Armee durch Transporte unterstützt hat, ist aus diesem Grund keiner aktuellen Verfolgung durch den russischen respektive tschetschenischen Behördenapparat ausgesetzt.

1.4. Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass die beschwerdeführenden Parteien im Fall ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wären. Die beschwerdeführenden Parteien liefen dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die beschwerdeführenden Parteien leiden jeweils an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. Die volljährigen erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien sind zu einer eigenständigen Bestreitung ihres Lebensunterhaltes in der Lage. Die minderjährigen beschwerdeführenden Parteien würden in Obhut ihrer Eltern in den Herkunftsstaat zurückkehren, welche für ihren Lebensunterhalt aufkommen könnten, und könnten einen Schulbesuch im Herkunftsstaat fortsetzen. Allfällige Defizite beim Gebrauch der tschetschenischen/russischen Sprache könnten die dritt- bis achtbeschwerdeführenden Parteien mithilfe ihrer Eltern in angemessener Zeit ausgleichen.

Den beschwerdeführenden Parteien ist es möglich, sich alternativ zu einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion Tschetschenien in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation, etwa in Moskau oder St. Petersburg, niederzulassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen.

1.5. Den unbescholtenen beschwerdeführenden Parteien wurde jeweils am 05.03.2019 ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ mit einer Gültigkeitsdauer von 22.10.2018 bis 22.10.2023 erteilt.

1.6. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern in der Russischen Föderation wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage/Russische Föderation: Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020). Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017). Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Sicherheitslage/Nordkaukasus: Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017). Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019). Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019). Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Sicherheitslage/Tschetschenien: Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017). Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Allgemeine Menschenrechtslage/Russische Föderation: Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 2.2020a). Die Verfassung postuliert die Russischen Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland ist an folgende UN-Übereinkommen gebunden: Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969); Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991); Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973); Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004); Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987); Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001); Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.9.2012) (AA 13.2.2019). Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 317 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat dabei fast alle Empfehlungen akzeptiert und nur wenige nicht berücksichtigt. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der EMRK. Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des EGMR um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert [Anm.: Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 13.2.2019). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 12.2019). Die allgemeine Menschenrechtslage in Russland ist weiterhin durch nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte sowie der unabhängigen Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden, aber gleichzeitig steigt der öffentliche Aktivismus deutlich. Hinzu kommt, dass sich mehr und mehr Leute für wohltätige Projekte engagieren und freiwillige Arbeit leisten. Regionale zivile Kammern wurden zu einer wichtigen Plattform im Dialog zwischen der Zivilbevölkerung und dem Staat in Russlands Regionen (ÖB Moskau 12.2019). Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AI 22.2.2018, FH 4.3.2020). Der konsultative „Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte“ beim russischen Präsidenten übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 13.2.2019). Staatliche Repressalien, aber auch Selbstzensur führen zur Einschränkung der kulturellen Rechte. Folter und andere Misshandlungen sind nach wie vor verbreitet. Die Arbeit unabhängiger Organe zur Überprüfung von Haftanstalten wird weiter erschwert. Im Nordkaukasus kommt es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen (AI 22.2.2018). Derzeit stehen insbesondere die LGBTI-Community in Tschetschenien sowie die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Russland unter Druck (ÖB Moskau 12.2019). Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine haben zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung geführt. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden jedoch verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine deutlich, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist auch die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen. Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren auch über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe. Die meisten Vorfälle gab es, wie in den Vorjahren, in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Im Vergleich zu den Jahren 2014-2017 ist gleichzeitig ein gewisser Anstieg der fremdenfeindlichen Stimmung zu vermerken, der auch im Zusammenhang mit sozialen Problemen (der Unzufriedenheit mit der Pensionsreform und sinkenden Reallöhnen) zu sehen ist. Wenngleich der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland seit 2013 weiterhin ausgesetzt bleibt, unterstützt die EU-Delegation in Moskau den Dialog mit NGOs, Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidigern aktiv (ÖB Moskau 12.2019). Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend „Aufständische“ und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet (ÖB Moskau 12.2019), und es werden von dort schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen (AI 22.2.2018).

Allgemeine Menschenrechtslage/Tschetschenien: NGOs beklagen weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen zumeist Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten (ÖB Moskau 12.2019). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 13.2.2019). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird, und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. BAMF 11.2019). 2017 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019, vgl. HRW 17.1.2019), wo die Betroffenen gefoltert und einige sogar getötet wurden [vgl. Kapitel 19.4. Homosexuelle] (FH 4.2.2019). Die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angebliche außergerichtliche Tötung von über zwei Dutzend Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten, die nicht im Zusammenhang mit der Verfolgung von LGBTI-Personen stehen soll (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AI 22.2.2018). Seitens Amnesty International wurde eine umfassende Untersuchung der Vorwürfe durch die russischen Behörden gefordert. Im Herbst 2017 besuchte das Komitee gegen Folter des Europarates neuerlich Tschetschenien und konsultierte dabei auch die russische Ombudsfrau für Menschenrechte. Ihre nachfolgende Aussage gegenüber den Medien, dass das Komitee keine Bestätigung außergerichtlicher Tötungen oder Folter gefunden habe, wurde vom Komitee unter Hinweis auf die Vertraulichkeit der mit den russischen Behörden geführten Gespräche zurückgewiesen. Ungeachtet dessen setzten die lokalen Behörden NGO-Berichten zufolge 2018 und 2019 die Repressalien gegen Homosexuelle in Tschetschenien fort (ÖB Moskau 12.2019). Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen Schwule berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht (AI 22.2.2018). Im Februar 2020 wurde die bekannte Journalistin der Nowaja Gazeta, Jelena Milaschina und eine Menschenrechtsanwältin in Grosny von ca. 15 Frauen und Männern in ihrem Hotel angegriffen und verprügelt. Die Nowaja Gazeta verlangte eine Entschuldigung des Republiksoberhauptes von Tschetschenien. Die Union der russischen Journalisten und das Helsinki Komitee verurteilten diesen Vorfall aufs Schärfste. Auch die OSZE und die russische Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter verlangen von den russischen Behörden eine Aufklärung des Vorfalls (Moscow Times 7.2.2020). In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte von Personen, die nicht aufgrund irgendwelcher politischer Aktivitäten, sondern aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 12.2019). Der regierungskritische tschetschenische Blogger Tumso Abdurachmanow ist nach eigenen Angaben in seinem polnischen Exil von einem bewaffneten Angreifer attackiert worden. Es sei ihm gelungen, den Angreifer zu überwältigen. Menschenrechtsgruppen verurteilten den Angriff als "Mordversuch". Abdurachmanow betreibt bei YouTube einen Videokanal, der etwa 75.000 Abonnenten hat. In seinen Videos setzt er sich kritisch mit dem tschetschenischen Regionalpräsidenten Ramsan Kadyrow auseinander. Nach eigenen Angaben wurde er in Tschetschenien mit dem Tode bedroht, seit 2015 lebt er im Exil. Dies war nicht der erste Angriff auf einen Tschetschenen, der von Kadyrow als "störend" empfunden wird, erklärte die russische Menschenrechtsorganisation Memorial. In den meisten Fällen würden die Ermordungen oder Mordversuche von "aus Tschetschenien entsandten Auftragsmördern" in Moskau oder anderen russischen Regionen, aber auch in der Ukraine oder anderen europäischen Ländern ausgeführt. 2019 hatte die Ermordung eines Georgiers mit tschetschenischen Wurzeln im Berliner Tiergarten Aufsehen erregt. Das Opfer soll im sogenannten zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft haben. Laut Bundesanwaltschaft wurde der 40-Jährige von russischen Behörden als "Terrorist" eingestuft und verfolgt. Ein d

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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