TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/2 W270 2211209-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.03.2021
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Entscheidungsdatum

02.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W270 2211209-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. GRASSL über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 08.11.2018, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX (in Folge: „Beschwerdeführer“) stellte am 01.07.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Bei einer Befragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab er befragt zum Grund für das Verlassen Afghanistans an, dass sie dort keine Sicherheit hätten. Täglich gebe es Anschläge. Sein Vater sei vergiftet und sein Bruder im Iran von der Polizei getötet worden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst um sein Leben.

2. Bei seiner Einvernahme vor der belangten Behörde am 22.08.2017 gab der Beschwerdeführer zu den Gründen für seine Asylantragstellung befragt im Wesentlichen an, dass er von „Feinden seines Vaters“, dieser sei vor neun Jahren im Krankenhaus vergiftet worden, bedroht und geschlagen worden sei.

3. Die belangte Behörde wies den gegenständlichen Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) mit Bescheid vom 08.11.2018 ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt III. bis VI.). Die Behörde begründete ihre Entscheidung damit, dass die Behauptungen zum fluchtauslösenden Ereignis nicht glaubwürdig seien. Auch sonst sah die belangte Behörde keine Gründe, die einer Rückkehr entgegenstehen würden. Ebenso nicht, dass die Rückkehrentscheidung unzulässig wäre.

4. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde rügte der Beschwerdeführer insbesondere eine inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung und eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens wegen unzureichender Ermittlungen und einer mangelnden Beweiswürdigung. Ein Anspruch auf Zuerkennung internationalen Schutzes ergebe sich aus der Erfüllung der Risikoprofile von mit der Regierung verbundenen Personen sowie einer „Verwestlichung“. Es bestünde ein Zusammenhang zum GFK-Grund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, gegenständlich zur „Familie“.

5. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wurde das Bundesverwaltungsgericht noch über ein Finanzstrafverfahren wegen der Übertretung ausländerbeschäftigungsrechtlicher und sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften informiert.

6. Gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie weitere länderkundliche und sonstige Informationen im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht. Ebenso wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, sich zu seinem Leben und seinem Gesundheitszustand zu äußern.

7. Am 17.11.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, in welcher insbesondere der Beschwerdeführer noch einmal zu seinem Antrag auf internationalen Schutz sowie auch weiteren entscheidungswesentlichen Umständen vernommen und daneben weitere Beweise, insbesondere auch Beweismittel zur Lage in Afghanistan wie auch zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich, aufgenommen wurden.

8. Mit Eingabe vom 19.11.2020 erstattete der Beschwerdeführer noch weiteres Vorbringen und legte ein weiteres Beweismittel vor.

II. Feststellungen:

1. Zur Person des Beschwerdeführers:

1.1. Der Beschwerdeführer trägt den Namen „ XXXX “ und ist afghanischer Staatsangehöriger.

1.2. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Afghanistan, genauer gesagt in der Stadt Kabul, geboren. Er ist in dieser Stadt auch aufgewachsen (wobei er dort an mehreren Wohnadressen lebte) und hat dort gelebt, bis er gegen Ende 2015 Afghanistan verließ.

1.3. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.

1.4. Der Beschwerdeführer gehört der afghanischen Volksgruppe der Tadschiken an und ist sunnitischer Moslem.

1.5. Der Beschwerdeführer hat, während er in Afghanistan aufwuchs, zwei Jahre lang die Schule besucht und auch eine Reihe von Erwerbstätigkeiten ausgeübt: So war er Hilfsarbeiter bei einem Automechaniker und in einer Autowäscherei. Er hat außerdem als Schweißer auf Baustellen gearbeitet.

1.6. Der Beschwerdeführer leidet an keinen Gebrechen und keiner Erkrankung.

2. Antragstellung in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste entgegen den einwanderungsrechtlichen Vorschriften in Österreich ein und stellte am 01.07.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

3. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

3.1. Der Vater des Beschwerdeführers wie auch dessen Onkel väterlicherseits waren für die Regierung von Najibullah im Polizeidienst tätig. Der Vater starb ungefähr im Jahr 2008 an einer Vergiftung in einer Krankenanstalt.

3.2. Nicht festgestellt wird, dass der Vater des Beschwerdeführers von Dritten ihm feindlich gegenüberstehenden Personen getötet wurde. Ebenso nicht festgestellt wird, dass der Bruder des Beschwerdeführers „ XXXX “ durch Dritte wegen der früheren Tätigkeit des Vaters im Polizeidienst für die Regierung Najibullah getötet wurde.

3.3. Gegen den Beschwerdeführer wurden keine Handlungen oder Maßnahmen durch Dritte in Zusammenhang mit früheren politischen Aktivitäten von Familienangehörigen gesetzt. Insbesondere wurde keine Drohung von einem Dritten gegenüber dem Beschwerdeführer ausgesprochen.

3.4. Auch gegen Familienangehörige des Beschwerdeführers in der Stadt Kabul kam es zu keinen Drohungen oder sonstigen Handlungen oder Maßnahmen.

4. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

4.1. Der Beschwerdeführer lebt in einer Wohnung in XXXX gemeinsam mit seiner Schwester, deren Ehemann, der auch sein Cousin väterlicherseits ist, und deren drei Kindern. Es besteht keine finanzielle Abhängigkeit. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass die Kinder seiner Schwester eine besondere Bindung zu ihm hätten. Sie würden ihn, wenn er etwa eine Nacht nicht zu Hause sei, immer wieder anrufen und fragen, wo er bleibe. Er bringt die Kinder seiner Schwester auch etwa in die Schule und hilft seiner Schwester überhaupt im Haushalt.

4.2. Der Beschwerdeführer ist mit seiner in Wien lebenden Cousine „ XXXX “ verlobt.

4.3. Der Beschwerdeführer hat von 06.09.2016 bis 30.06.2017 die „ XXXX “ in XXXX und zwei Jahre lang die XXXX in XXXX besucht. In Letzter hat er die Fächer „Politische Bildung“, „Englisch“ und „Mathematik“ gelernt.

4.4. Der Beschwerdeführer verfügt über ein Sprachzertifikat A1 nach dem Gemeinsamen Referenzrahmen der deutschen Sprache. Er verfügt bereits über Kenntnisse der deutschen Sprache, die der Stufe A2 entsprechen.

4.5. Der Beschwerdeführer hat einen Werte- und Orientierungskurs nach § 5 IntG absolviert.

4.6. Der Beschwerdeführer betrieb von Juli bis Oktober 2019 ein Unternehmen für Botendienste.

4.7. XXXX , Inhaber des Unternehmens „ XXXX “ hat dem Beschwerdeführer eine Anstellung in Vollzeit als Lieferbote oder als Küchenhilfe in Aussicht gestellt.

4.8. Der Beschwerdeführer hat regelmäßigen Kontakt zu Österreicherinnen und Österreichern, u.a. zu „ XXXX “ und „ XXXX “. Mit diesen schreibt er etwa regelmäßig und tauscht Fotos über Snapchat aus. Auch sonst beschreibt das soziale Umfeld den Beschwerdeführer und seine sonstigen, hier lebenden Familienangehörigen als nett, zuvorkommend, gastfreundlich und höflich.

4.9. Der Beschwerdeführer hat in XXXX in einem Team Fußball gespielt. Wenn er nicht arbeitet oder die Schule besucht lernt er Deutsch und hat zu diesem Zweck schon viele Bücher zu Hause. Ansonsten spielt er mit seiner Nichte (s. dazu auch oben II.4.1.).

4.10. Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich und verwaltungsstrafbehördlich unbescholten.

5. Zur maßgeblichen Lage in Afghanistan:

5.1. Zur allgemeinen Menschrechtslage in Afghanistan:

Staatswesen und Rechtsstaat

Gemäß Artikel 1 der Verfassung von 2004 ist Afghanistan eine islamische Republik mit einem Präsidenten als Staatsoberhaupt, der seine Autorität in allen drei Bereichen (Exekutive, Legislative und Judikative) ausübt. Die afghanische Regierung setzt sich aus 24 Ministerien zusammen, die unter dem Vorsitz des Präsidenten arbeiten. Nach dem umstrittenen Wahlergebnis von 2019 unterzeichneten Präsident Ghani und sein Hauptkonkurrent Abdullah Abdullah am 17. Mai 2020 ein Abkommen über die Teilung der Macht, das Ghani als Präsident und Abdullah als Vorsitzenden des Hohen Rates der Nationalen Versöhnung mit Exekutivbefugnissen anerkennt und letzterem außerdem das Recht einräumt, 50 % des Kabinetts zu ernennen. Die afghanische Legislative heißt Nationalversammlung und ist ein Zweikammer-Parlament, das aus der Walesi Jirga (Unterhaus) und der Meshrana Jirga (Oberhaus) besteht. Die Loya Jirga repräsentiert die Bürger Afghanistans und besteht aus den Mitgliedern der Nationalversammlung, den Präsidenten der Provinz- sowie der Distriktversammlungen. Minister, Oberster Richter und Mitglieder des Obersten Gerichtshofs sowie der Generalstaatsanwalt nehmen ohne Stimmrecht an den Sitzungen der Loya Jirga teil.

Nach der afghanischen Verfassung haben die Bürger das Recht auf ein faires Verfahren in einem unabhängigen Justizsystem. Die Justiz in Afghanistan umfasst den Obersten Gerichtshof sowie Berufungsgerichte und Primärgerichte in allen 34 Provinzen. Die primären Gerichte befassen sich mit allen Angelegenheiten der ordentlichen Straf-, Zivil- und Familiengerichtsbarkeit. In der Hauptstadt jeder Provinz gibt es Berufungsgerichte, die die Zuständigkeit für die Primärgerichte und Gerichte für Jugend-, Handels- und Familiensachen haben. Der Oberste Gerichtshof hat keine richterliche oder administrative Autorität über die Exekutive und die Legislative.

In städtischen Zentren ist das formale Justizsystem stärker als in ländlichen Gebieten, wo die Zentralregierung schwach und nicht präsent ist. Im Allgemeinen wird die Justiz in Afghanistan als unterfinanziert, unterbesetzt, unzureichend ausgebildet, weitgehend ineffektiv und als Opfer von Bedrohungen, Voreingenommenheit, politischer Einflussnahme und allgegenwärtiger Korruption beschrieben. Die allgemeine Unsicherheit, Bedrohungen und gezielte Angriffe auf Mitarbeiter des Justizsektors sind zusätzliche Herausforderungen für die Erbringung von Justizdienstleistungen.

Trotz der Existenz eines formellen Justizsystems werden viele Streitigkeiten, die von Unstimmigkeiten über Land bis hin zu Straftaten reichen, außerhalb des formellen Gerichtssystems durch informelle Justizmechanismen beigelegt. Solche Mechanismen sind komplexe Systeme und können zahlreiche Justizakteure einbeziehen, von Jirgas und Shuras bis hin zu einzelnen Religionsgelehrten, Juristen, Gemeindemitgliedern, NGOs und nationalen Institutionen. Traditionelle Justizmechanismen blieben für viele, vor allem in ländlichen Gegenden, die Hauptansprechpartner. Traditionelle und informelle Formen der Justiz wurden in Afghanistan jedoch weiterhin entgegen dem Rechtsstaatsprinzip, den Menschenrechtsstandards und den afghanischen Gesetzen angewandt.

Das afghanische Gesetz über Gefängnisse und Haftanstalten schützt die Rechte von Gefangenen und Inhaftierten. Allerdings wurden viele Menschen von der afghanischen Regierung auf der Grundlage der Terrorismusgesetze inhaftiert, und Einzelpersonen wurden ohne feste Haftdauer festgehalten. Berichten zufolge wurden Gefangene gefoltert, um Geständnisse abzulegen. Es wurde auch von Folter oder Misshandlungen von Jugendlichen im Gewahrsam der ANSF berichtet. Es wird auch von schlechten Haftbedingungen berichtet. Die Todesstrafe ist sowohl im afghanischen Strafgesetzbuch als auch im islamischen Recht vorgesehen, wird aber in der Praxis nur selten vollstreckt.

Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, die Menschenrechte zu schützen, wird in vielen Distrikten auch durch die herrschende Unsicherheit und die hohe Zahl von Anschlägen durch Aufständische untergraben. Obwohl die afghanische Regierung ihre Kontrolle in Kabul, den Provinzhauptstädten, den wichtigsten Bevölkerungszentren, den meisten Distriktzentren und den meisten Abschnitten der wichtigsten Bodenverbindungslinien aufrechterhielt, bedrohten die Taliban Distriktzentren und machten mehrere Positionen der wichtigsten Bodenverbindungslinien streitig.

Der Rechtsstaatlichkeitsindex 2020 des World Justice Project stuft Afghanistan auf Platz 122 von 128 Ländern ein und weist dem Land den letzten Platz im Faktor „Ordnung und Sicherheit“ zu.

Die Polizei ist Berichten zufolge stark militarisiert und hauptsächlich auf ihre Rolle als erste Verteidigungslinie gegen Aufständische in den Verwaltungszentren konzentriert. Die Polizeipräsenz ist in den Städten stärker, und die Polizeibeamten müssen sich an Richtlinien wie den Verhaltenskodex der ANP und die Richtlinien für den Einsatz von Gewalt halten. Die Reaktion der Polizei wird jedoch als unzuverlässig und inkonsistent charakterisiert, die Polizei verfügt über eine schwache Ermittlungskapazität, der es an forensischer Ausbildung und technischem Wissen mangelt. Der Polizei wird weit verbreitete Korruption, Verwicklung in das organisierte Verbrechen, Klientelismus und Machtmissbrauch vorgeworfen: Einzelne Personen in den Institutionen können ihre Machtposition missbrauchen und Erpressung einsetzen, um ihr geringes Einkommen aufzubessern. Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen durch die Polizei kommen weiterhin vor und Folter ist bei der Polizei endemisch. Untätigkeit, Inkompetenz, Straflosigkeit und Korruption führen zu unzureichenden Leistungen: Es wird von einem Anstieg der Kriminalität und weit verbreiteter Gewalt in den Gemeinden berichtet, besonders in den Städten. Auch die Unfähigkeit, regelmäßige Großangriffe mit hohen Opferzahlen und gezielte Tötungen zu verhindern, wird beobachtet.

Familiäre und häusliche Angelegenheiten werden typischerweise privat gehalten und die Polizei mischt sich nicht ein.

Todesstrafe und Hinrichtungen

Die Todesstrafe ist sowohl nach dem afghanischen Strafgesetzbuch als auch nach islamischem Recht vorgesehen. Es wird berichtet, dass das neue Strafgesetzbuch die Anzahl der Verbrechen, die mit der Todesstrafe geahndet werden können, erheblich einschränkt. Wenn die Todesstrafe vom Staat verhängt wird, müssen Hinrichtungsbefehle alle gerichtlichen Instanzen durchlaufen und vom afghanischen Präsidenten unterzeichnet werden. Im November 2019 befanden sich etwa 700 Menschen wegen „gewöhnlicher Verbrechen“ oder Verbrechen gegen die innere oder äußere Sicherheit im Todestrakt und warteten auf die Unterschrift des Präsidenten für ihre Hinrichtung. Die Todesstrafe wird in der Praxis nur selten vollstreckt. Berichten zufolge gab es 2017 fünf Hinrichtungen, 2018 drei und 2019 keine.

Die Aufständischen verhängen in den von ihnen kontrollierten Gebieten Strafen durch parallele Justizsysteme, die auf einer strengen Auslegung der Scharia beruhen. Dazu gehören auch Hinrichtungen, einschließlich öffentlicher Hinrichtungen durch Steinigung und Erschießen.

Bestrafung und Kriminalität

Artikel 29 der afghanischen Verfassung verbietet „Strafen, die gegen die Menschenwürde verstoßen“, und Afghanistan ist seit 1987 Vertragspartei des CAT. Körperliche Strafen durch den Staat sind in Afghanistan jedoch aufgrund des pluralistischen Rechtssystems, in dem islamische und zivile Gesetze miteinander interagieren, gesetzlich erlaubt, so dass einzelne Richter und Gerichte bestimmen können, wie sie Strafen nach einem der beiden Gesetzbücher vorschreiben. Körperliche Züchtigungen, einschließlich der Anwendung von Peitschenhieben und Schlägen, sind in den von den AGEs kontrollierten Gebieten häufiger. In den von ihnen kontrollierten Gebieten betreiben die Taliban ein paralleles Justizsystem, das auf einer strengen Auslegung der Scharia beruht. Neben Hinrichtungen führt die Anwendung dieses Systems zu Bestrafungen, die von UNAMA als grausam, unmenschlich und erniedrigend bezeichnet werden.

Über allgemeine Kriminalität und organisierte Kriminalität wurde im ganzen Land berichtet, wobei in den letzten Jahren eine Zunahme zu verzeichnen war, insbesondere in Großstädten wie Kabul, Jalalabad, Herat und Mazar-e Sharif. Die gemeldeten Verbrechen umfassten Entführungen von Erwachsenen und Kindern, Raubüberfälle und Einbrüche, Morde und Erpressungen. Kriminelle Gruppen hatten es auf Geschäftsleute, lokale Beamte und einfache Leute abgesehen, wobei Ausländer und wohlhabende Afghanen als Hauptziele angegeben wurden.

5.2. Zur Lage in der Stadt Kabul:

Allgemeine Situation und Sicherheitslage

Kabul ist die Hauptstadt von Afghanistan. Es wird berichtet, dass die Stadt, die vor 2001 zwölf Bezirke zählte, aufgrund des erheblichen demografischen Wachstums und der horizontalen Ausdehnung auf 22 Bezirke angewachsen ist. Die Einwohnerzahl ist offiziell mit 4 117 414 angegeben. Kabul City beherbergt einen Flughafen, der von internationalen und nationalen Passagierflügen angeflogen wird.

Die Taliban, einschließlich des Haqqani-Netzwerks, sowie die ISKP sind in der Hauptstadt aktiv. Nach Angaben des LWJ gilt Kabul-Stadt als unter Regierungskontrolle oder unbestimmt.

Aufgrund der häufigen öffentlichkeitswirksamen Anschläge in der Stadt im Laufe des Jahres 2017 kündigte die afghanische Regierung im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an, der als „Grüner Gürtel“ bezeichnet wird. Außerdem wurde innerhalb der afghanischen Polizei eine Spezialeinheit namens „Crisis Response Unit“ geschaffen, um Anschläge zu verhindern und darauf zu reagieren.

ACLED sammelte Daten zu 142 gewaltsamen Ereignissen in Kabul-Stadt im Zeitraum vom 01.03.2019 bis zum 30.06.2020 (durchschnittlich 2 Vorfälle pro Woche), von denen 49 als „Kämpfe“, 71 als „Explosionen“/“entfernte Gewalt“ und 22 als „Gewalt gegen Zivilisten“ eingestuft wurden.

Das Bild des Konflikts in Kabul-Stadt ist von asymmetrischer taktischer Kriegsführung geprägt, mit Selbstmordattentätern und IEDs als Angriffswaffen. Die Angriffe richteten sich hauptsächlich gegen Zivilisten, darunter die zivile Regierungsverwaltung, Kultstätten, Bildungseinrichtungen, Orte, an denen Wahlen stattfinden, und andere „weiche“ Ziele. Die Strategie der Taliban im dritten Quartal 2019 kombinierte mehrere öffentlichkeitswirksame Anschläge in Kabul-Stadt mit anhaltenden Friedensverhandlungen zum Abzug der US-Truppen.

Beispiele für Vorfälle sind mehrere Angriffe der ISKP, die trotz einer verringerten Aktivität der Gruppe im Jahr 2019 weiterhin eine aktive Zelle in Kabul unterhielt. Im Juni 2020 berichtete der UN-Sicherheitsrat über eine „taktische Übereinkunft“ zwischen dem Haqqani-Netzwerk und der ISKP in Kabul. Quellen zufolge beschränkten sich die Sicherheitsbedenken in Kabul nicht auf die Angriffe der AGEs, sondern umfassen auch einen deutlichen Anstieg der Kriminalität. Mehrere Quellen berichteten von einer ineffektiven Reaktion der Polizei auf die schnell wachsende Verbrechensszene in Kabul.

Der von der UNAM? dokumentierte tödlichste Vorfall im Jahr 2019 war ein von der ISKP begangener Selbstmordanschlag auf die Hochzeitshalle der Stadt im August. Die Zeremonie wurde hauptsächlich von schiitischen Muslimen besucht, und der Anschlag forderte 234 zivile Opfer. Auch die Taliban verübten Anschläge in der Hauptstadt und töteten und verwundeten Zivilisten. Einer der prominentesten Sicherheitsvorfälle ereignete sich im Juli 2019 bei einem Angriff auf das Verteidigungsministerium, der große Auswirkungen auf die umliegenden Stadtteile hatte und 151 zivile Opfer forderte.

Nach einem Anstieg in der ersten Jahreshälfte 2018 ging die Zahl der aufsehenerregenden Selbstmordattentate und komplexen Anschläge in Kabul ab der zweiten Jahreshälfte 2018 und weiter im Jahr 2019 zurück. Nach Angaben des UN-Generalsekretärs ist dies auf erfolgreiche Verbotsmaßnahmen und verstärkte Sicherheitsmaßnahmen der ANSF-Kräfte in der Hauptstadt zurückzuführen. Wie im Rest des Landes hat die Gewalt in Kabul im dritten Quartal 2019 zugenommen.

Aufsehenerregende Anschläge wurden seltener, da sich die Aufständischen auf gezielte Tötungen verlegten. Eine Zunahme der gezielten Tötungen wurde aus Kabul-Stadt gemeldet. Im Gegensatz zu den Vorjahren dokumentierte UNAMA im Jahr 2019 einen Rückgang der zivilen Opfer von sektiererisch motivierten Anschlägen (die hauptsächlich der ISKP zugeschrieben werden) um 35 %.

Im Zeitraum vom 01.03.2019 bis zum 30.06.2020 wurde keine Vertreibung aus der Hauptstadt verzeichnet, während im selben Zeitraum 4062 Personen in den Bezirk Kabul vertrieben wurden. Die Binnenvertriebenen, die in Kabul ankommen und sich dort aufhalten, erhöhen den Druck auf die Gemeinde, die Grundversorgung und die soziale Infrastruktur, was die Aufnahmekapazität der Stadt stark beeinträchtigt.

Sozioökonomische Rahmenbedingungen

Abschnitt 2.1.2. („Rahmenbedingungen für Unternehmen“) des Berichts „Afghanistan – Sozioökonomische Schlüsselindikatoren mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat“ des Europäischen Büros für Asylunterstützung (in Folge: „EASO“) vom August 2020 (in Folge: „EASO-Bericht Sozioökonomie“) ist Folgendes zu entnehmen (deutsche Fassung, Weglassung von Fußnoten):

„Rahmenbedingungen für Unternehmen in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif

Gemäß dem Bericht der Weltbank aus dem Jahr 2017 mussten Unternehmen in den Provinzen Herat und Balch vor Aufnahme ihrer Tätigkeit drei verschiedene Agenturen aufsuchen, was zu doppelt so vielen Verfahren führte wie in Kabul. Die Gründung eines Unternehmens dauerte in Herat einen Tag länger als in Kabul und Balch.

In telefonischen Befragungen, die die afghanische Industrie- und Investitionskammer (ACCI) bei Unternehmen in den Provinzen Kabul, Balch, Kandahar, Nangahar und Herat im November 2019 durchführte, gaben rund 83 % der Unternehmen an, die fehlende Stromversorgung stelle das gravierendste Infrastrukturproblem dar. Darüber hinaus berichteten viele Unternehmen über Schwierigkeiten beim Umgang mit Zöllen und Steuern, die sie als ‘zu komplex und intransparent’ bezeichneten.

Wie F. Foschini in seinem Schriftwechsel mit dem EASO 2018 ausführte, war das Fehlen einer günstigen und zuverlässigen Stromversorgung in Afghanistan stets eine starke Behinderung, die zu hohen Produktionskosten führte, weshalb die afghanischen Unternehmen gegenüber ausländischen Waren und Unternehmen nicht wettbewerbsfähig waren. Dieser Nachteil erschwerte die Entwicklung von Industrieparks in Herat erheblich. Diese waren zwar aufgrund des relativ günstigen Sicherheitsumfelds der Stadt und der dynamischen lokalen Geschäftswelt besser als andere in der Lage, positive Erträge zu erwirtschaften, waren aber paradoxerweise bei der Energieversorgung von ihrem Hauptwettbewerber Iran abhängig.

Nach den Mitte März 2020 verhängten Beschränkungen der Bewegungsfreiheit in Herat zur Verhinderung des Ausbruchs von COVID-19 hieß es von Seiten des Vorsitzenden des Wirtschaftsverbands, dass etwa 35 000 bis 36 000 Geschäfte und Fabriken geschlossen wurden, wodurch ‘Hunderttausende Menschen’ ihren Arbeitsplatz verloren. Im Juni 2020 gaben Vertreter der Industrie- und Handelskammer der Provinz Balch an, dass durch den COVID-19-bedingten Lockdown die Wirtschafts- und Geschäftsaktivitäten in der Provinz um etwa 80 % zurückgegangen waren; in Mazar-e Sharif sei seit Beginn der Verbreitung des Virus schon zum zweiten Mal ein Lockdown angeordnet worden.“

Dem Abschnitt 2.2.2. („Beschäftigungsmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen“) des EASO-Berichts Sozioökonomie ist Folgendes zu entnehmen (deutsche Fassung, Weglassung von Fußnoten):

„Kabul

Kabul ist im Wesentlichen eine urban geprägte Provinz, deren wirtschaftlich aktive Bevölkerung ‘in den Bereichen Handel und Dienstleistungen oder als Hilfsarbeitskräfte tätig ist’. In der Hauptstadt gibt es einen hohen Anteil an abhängig Beschäftigten, während Selbstständigkeit, anders als in den ländlichen Gebieten des Landes, weniger häufig ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehören kommunale, soziale und persönliche Dienstleistungen sowie die öffentliche Verwaltung. Als wichtige Drehscheibe für Handel und Beschäftigung in Afghanistan zieht die Hauptstadt Arbeitskräfte aus kleinen Dörfern in Provinzen wie Parwan, Logar und Wardak an, die täglich oder wöchentlich in die Hauptstadt pendeln, um landwirtschaftliche Erzeugnisse zu handeln oder als Wachleute, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. In Kabul sind Berichten zufolge Löhne und Gehälter im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für Mitarbeiter ausländischer Organisationen (so konnten z. B. Computertechniker 2017 monatlich im Durchschnitt 25 000 AFN verdienen; das entspricht beim Wechselkurs von 2017 fast 375 USD).“

Abschnitt 2.2.3. („Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts von Binnenvertriebenen und Rückkehrern“) des EASO-Berichts Sozioökonomie ist Folgendes zu entnehmen (deutsche Fassung, Weglassung von Fußnoten):

„Kabul

Mitte 2019 entfiel auf Kabul und Nangahar ein Drittel aller Rückkehrer. Da Menschen auf der Suche nach Sicherheit, Dienstleistungen und Arbeitsplätzen in relativ städtisch geprägte Gebiete ziehen, kann davon ausgegangen werden, dass städtische und stadtnahe Gebiete, in denen bereits Binnenvertriebene untergebracht sind, zusätzlich unter Druck geraten.

Gemäß der Studie über Binnenvertriebene von NRC, Samuel Hall und IDMC gaben 46 % der Befragten an, dass ihr Haushalt kaum seinen Lebensunterhalt bestreiten kann; in Kunduz lag dieser Anteil bei 67 %, während die Lage in Kabul mit 33 % etwas besser war.

Nach Angaben der Oxfam-Studie von 2018 verzeichnete Kabul bis Juni 2017 einen Zustrom von insgesamt 680 260 Rückkehrern und Binnenvertriebenen, wobei die meisten Rückkehrer außerhalb des Stadtzentrums leben, häufig in abgelegenen Gebieten und Lagern. Die Bewohner von Chaman-e Babrak etwa, einem Flüchtlingslager in der Stadt Kabul, unterhielten kaum Beziehungen zur Aufnahmegemeinschaft. Zwar gab es hier seitens der Aufnahmegemeinschaft keine Berichte über größere Spannungen, doch nahmen die von Oxfam befragten Personen die Rückkehrer ‘als eine Ursache für den Druck auf den Arbeitsmarkt und die Löhne vor Ort’ wahr. Die meisten befragten Rückkehrer gaben an, dass sie von Verwandten abhängig sind, um Unterkunft und andere Unterstützung zu erhalten. Diejenigen, die sich seit Jahren in Kabul aufhalten, wiesen auf eine Verschlechterung der Lage durch höhere lokale Preise, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Kriminalität hin.

Eine Studie von Oxfam erbrachte, dass Rückkehrer in der Regel nur gelegentlich in Kabul als Tagelöhner arbeiten und die meisten von ihnen nicht jeden Tag eine Arbeit finden konnten, weshalb ihr Einkommen nicht stabil war. Zum Zeitpunkt der Studie erhielten die meisten Rückkehrer mit Ausweispapieren finanzielle Unterstützung vom UNHCR, während einige Rückkehrer ohne Ausweispapiere Unterstützung von der IOM bekamen. Weitere Unterstützung vonseiten der Regierung oder NRO gab es nicht, obwohl sie als dringend notwendig angesehen wurde, insbesondere ‘in Bezug auf die Bereitstellung von Unterkünften und grundlegenden sozialen Diensten’. Im Juli 2019 berichtete AP-News über die Beschäftigung von Binnenvertriebenen als Tagelöhner in einer Ziegelei am Stadtrand von Kabul: Die Fabrikbesitzer sollen durch die Dörfer gereist sein und Darlehen zur Deckung des lebensnotwendigen Bedarfs angeboten haben und ‘Familien dazu gezwungen haben, diese Darlehen in den Sommermonaten in Form einer Leibeigenschaft abzuarbeiten’. Häufig mussten auch die Kinder arbeiten, und eine zehnköpfige Familie soll Berichten zufolge am Tag durchschnittlich 12-18 USD verdient haben.“

Dem Abschnitt 2.4.1. („Ernährungssicherheit“) des EASO-Berichts Sozioökonomie ist Folgendes zu entnehmen (deutsche Fassung, Weglassung von Fußnoten):

„Ernährungssicherheit in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Laut FEWS-Bericht vom April 2020 waren Haushalte in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif – sowie Haushalte in Jalalabad, Kandahar und anderen Großstädten –, die von kleinen Unternehmen oder Kleinhandel, Heimatüberweisungen, Lohnarbeit außerhalb der Landwirtschaft und Niedriglohnarbeitsplätzen abhängen, vom eingeschränkten Zugang zu Beschäftigung und deutlich gestiegenen Lebensmittelpreisen am stärksten betroffen.“

5.3. Zu den Auswirkungen der Sars-COV-2-Pandemie:

In ihrem im Juli 2020 herausgegebenen Afghanistan Development Update stellte die Weltbank fest, dass die COVID-19 Maßnahmen die Industrie, den Dienstleistungssektor und die Geschäftsaktivitäten erheblich beeinträchtigt haben, was zu Rückgängen bei Überweisungen und Arbeitsplatzverluste. Afghanische Beamte gaben an, dass etwa 35 000 bis 36 000 Geschäfte und Fabriken in Herat aufgrund von Bewegungseinschränkungen geschlossen werden mussten, während „Hunderttausende“ von Menschen ihre Arbeitsplätze verloren. Es wurde auch berichtet, dass in der Provinz Balkh die COVID-19-bedingte Abriegelung etwa 80 % der Wirtschaft und der Geschäfte in der Provinz zum Erliegen gekommen sind. Das Pro-Kopf-BIP wird Pro-Kopf-BIP wird voraussichtlich stark sinken – um 13 % bis 2021 – und mittelfristig unter dem Niveau vor COVID-19 bleiben. Infolgedessen wird erwartet, dass niedrigere Einkommen zu einer Verschlechterung der Beschäftigungs- und Armutsergebnisse führen, wobei die Armutsquote im Jahr 2020 möglicherweise 73 % erreicht. Die hohe Zahl von Rückkehrern und Binnenvertriebenen setzt auch die begrenzten Dienstleistungen und Beschäftigungsmöglichkeiten in den Hauptzentren der Städte zu.

FEWS schätzt, dass die COVID-19-Abriegelungsmaßnahmen einen reduzierten Zugang zu Einkommen und geschwächte Kaufkraft in städtischen Gebieten fast aller Provinzen. Im April 2020 berichtete FEWS über einen signifikanten Rückgang des Zugangs zu Einkommen armer Haushalte, die in der Regel ihr Einkommen von Tagelohnarbeit und anderen Kleingewerben verdienten und die von den Bewegungseinschränkungen betroffen waren, die von der Regierung Bewegungsfreiheit, die von der Regierung in den wichtigsten Städten auferlegt wurde.

Die Auswirkungen von Covid-19 und der damit einhergehende Lockdown hatten aus Sicht von HelpAge International katastrophale Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der afghanischen Bürger. Aufgrund des Lockdowns verloren viele Menschen Arbeit und Einkommen. Die Inflation der Preise bei Grundnahrungsmitteln wie Öl und Kartoffeln verschärfte die wirtschaftliche Notlage eines erheblichen Teils der afghanischen Bevölkerung. Nach Angaben des Biruni-Instituts haben sechs Millionen Menschen aufgrund der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren.

5.4. Zu einem möglichen Risiko als Rückkehrer aus dem „westlichen Ausland“:

In Bezug darauf, als „verwestlicht“ wahrgenommen zu werden, sollte eine Unterscheidung in Bezug auf die Einstellungen gegenüber Männern auf der einen und Frauen auf der anderen Seite. Afghanische Frauen und Kinder, die sich an die Freiheiten und die Unabhängigkeit im Westen gewöhnt haben an die Freiheiten und die Unabhängigkeit im Westen gewöhnt sind, können Schwierigkeiten haben, sich an die sozialen Einschränkungen in Afghanistan anzupassen. Frauen können auch als „verwestlicht“ angesehen werden, wenn sie außerhalb des Hauses arbeiten, am öffentlichen Leben teilnehmen oder eine höhere Bildung haben. Frauen, die als „verwestlicht“ wahrgenommen werden, können als Verstoß gegen kulturelle, soziale und religiösen Normen verstoßen und können der Gewalt ihrer Familie, konservativer Elemente der Gesellschaft und Aufständischer ausgesetzt sein.

In Bezug auf Männer ist die gesellschaftliche Einstellung gegenüber "verwestlichten" Personen gemischt. Männer mit „westlichen“ Werten oder die aus westlichen Ländern zurückkehren, kann mit Misstrauen begegnet werden und sie können Stigmatisierung oder Ablehnung ausgesetzt sein.

In einer Studie aus dem Jahr 2019 über den Verbleib und die Erfahrungen von abgeschobenen Afghanen stellte eine Quelle fest, dass als „verwestlicht“ angesehen zu werden, zu Bedrohungen der Rückkehrer durch ihre Familienmitglieder und Nachbarn. Die gleiche Quelle berichtete auch von Fällen, in denen Rückkehrer in der Öffentlichkeit angegriffen wurden, weil sie als „Verräter“ oder „Ungläubige“ angesehen wurden.

Teile der Gesellschaft, vor allem in den Städten (z.B. in Kabul), sind offen für westliche Ansichten, während andere Segmente, meist in ländlichen oder konservativen Umgebungen, sind dagegen.

Afghanen, die sich mit westlichen Werten identifizieren, können auch zur Zielscheibe aufständischer Gruppen werden, da sie als unislamisch oder regierungsfreundlich wahrgenommen oder als Spione betrachtet werden.

6. Zur persönliche Situation des Beschwerdeführers bei Rückkehr nach Afghanistan:

6.1. Allgemeines:

Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück.

In Kooperation mit Partnerinstitutionen des European Return and Reintegration Network (ERRIN) wird im Rahmen des ERRIN Specific Action Program sozioökonomische Reintegrationsunterstützung in Form von Beratung und Vermittlung für freiwillige und erzwungene Rückkehrer angeboten.

6.2. Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung:

Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs sehen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen eine Grundstücksvergabe vor, jedoch gilt dieses System als anfällig für Korruption und Missmanagement. Es ist nicht bekannt, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben und zu welchen Bedingungen.

Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär behandelt werden. Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess. Um den Prozess der Landzuweisung zu beginnen, müssen die Rückkehrer einen Antrag in ihrer Heimatprovinz stellen. Wenn dort kein staatliches Land zur Vergabe zur Verfügung steht, muss der Antrag in einer Nachbarprovinz gestellt werden. Danach muss bewiesen werden, dass der Antragsteller bzw. die nächste Familie tatsächlich kein Land besitzt. Dies geschieht aufgrund persönlicher Einschätzung eines Verbindungsmannes und nicht aufgrund von Dokumenten. Hier ist Korruption ein Problem. Je einflussreicher ein Antragsteller ist, desto schneller bekommt er Land zugewiesen. Des Weiteren wurde ein fehlender Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen, wie auch eine weite Entfernung der Parzellen von Erwerbsmöglichkeiten kritisiert. IDPs und Rückkehrer ohne Dokumente sind von der Vergabe von Land ausgeschlossen.

Bereits 2017 hat die afghanische Regierung mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben mit neuer rechtlicher Grundlage an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Eine Hürde ist die Identifizierung von geeigneten, im Staatsbesitz befindlichen Ländereien. Generell führt die unklare Landverteilung häufig zu Streitigkeiten. Gründe hierfür sind die jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen, mangelhafte Verwaltung und Dokumentation von An- und Verkäufen, das große Bevölkerungswachstum sowie das Fehlen eines funktionierenden Katasterwesens. So liegen dem afghanischen Innenministerium Berichte über widerrechtliche Aneignung von Land aus 30 Provinzen vor.

6.3. Unterstützung durch IOM:

Die internationale Organisation für Migration (IOM – International Organization for Migration) unterstützt mit diversen Projekten die freiwillige Rückkehr und Reintegration von Rückkehrer/innen nach Afghanistan. In Bezug auf die Art und Höhe der Unterstützungsleistung muss zwischen unterstützter freiwilliger und zwangsweiser Rückkehr unterschieden werden. Im Rahmen der unterstützten Freiwilligen Rückkehr kann Unterstützung entweder nur für die Rückkehr (Reise) oder nach erfolgreicher Aufnahme in ein Reintegrationsprojekt auch bei der Wiedereingliederung geleistet werden.

Mit 1.1.2020 startete das durch den AMIF der Europäischen Union und das österreichische Bundesministerium für Inneres kofinanzierten Reintegrationsprojekt, RESTART III. Im Unterschied zu den beiden Vorprojekten RESTART und RESTART II steht dieses Projekt ausschließlich RückkehrerInnen aus Afghanistan zur Verfügung. RESTART III, ist wie das Vorgängerprojekt auf drei Jahre, nämlich bis 31.12.2022 ausgerichtet und verfügt über eine Kapazität von 400 Personen. Für alle diese 400 Personen ist neben Beratung und Information – in Österreich sowie in Afghanistan – sowohl die Bargeldunterstützung in der Höhe von 500 Euro wie auch die Unterstützung durch Sachleistungen in der Höhe von 2.800 Euro geplant.

Die Teilnahme am Reintegrationsprojekt von IOM ist an einige (organisatorische) Voraussetzungen gebunden. So stellen Interessent/innen an einer unterstützen freiwilligen Rückkehr zunächst einen entsprechenden Antrag bei einer der österreichischen Rückkehrberatungseinrichtungen - dem VMÖ (Verein Menschenrechte Österreich) oder der Caritas bzw. in Kärnten auch beim Amt der Kärntner Landesregierung. Die jeweilige Rückkehrberatungsorganisation prüft dann basierend auf einem Kriterienkatalog des BMI, ob die Anforderungen für die Teilnahme durch die AntragsstellerInnen erfüllt werden. Für Reintegrationsprojekte ist durch das BMI festgelegt, dass nur Personen an dem Projekt teilnehmen können, die einen dreimonatigen Aufenthalt in Österreich vorweisen können. Es wird hier jedoch auf mögliche Ausnahmen hingewiesen, wie zum Beispiel bei Personen, die im Rahmen der Dublin-Regelung nach Österreich rücküberstellten werden. Des Weiteren sieht die BMI Regelung vor, dass nur eine Person pro Kernfamilie die Unterstützungsleistungen erhalten kann. Im Anschluss unterstützt die jeweilige Rückkehrberatungseinrichtung den/die Interessenten/in beim Antrag auf Kostenübernahme für die freiwillige Rückkehr an das BFA. Wenn die Teilnahme an dem Reintegrationsprojekt ebenso gewünscht ist, so ist ein zusätzlicher Antrag auf Bewilligung des Reintegrationsprojektes zu stellen. Kommt es in weiterer Folge zu einer Zustimmung des Antrags seitens des BMI wird ab diesem Zeitpunkt IOM involviert.

Es besteht auch die Möglichkeit jederzeit einen Antrag auf freiwillige Rückkehr zu stellen, auch ohne Teilnahme an dem Projekt. Eine Mitarbeiterin von IOM Österreich weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es hier keine Teilung zwischen freiwilligen und unterstützten Rückkehrer/innen gibt. Grundsätzlich spricht man von unterstützter freiwilliger Rückkehr und zusätzlich gibt es die Reintegrationsunterstützung bei Projektteilnahme.

Neben Beratung und Vorabinformationen ist IOM für die Flugbuchung verantwortlich und unterstützt die Projektteilnehmer auch bei den Abflugmodalitäten. Flüge gehen in der Regel nach Kabul, können auf Wunsch jedoch auch direkt nach Mazar-e Sharif gehen [Anm.: Unter Umgehung von Kabul und mit Zwischenlandung in Mazar-e-Sharif]. Die Weiterreise nach Herat beispielsweise findet in der Regel auf dem Luftweg über Kabul statt. Die österreichischen Mitarbeiter unterstützen die Projektteilnehmer beim Einchecken, der Security Controle, der Passkontrolle und begleiten sie bis zum Abflug-Terminal. Teilnehmer am Reintegrationsprojekt RESTART III von IOM landen in der Regel (zunächst) in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Dort werden sie von den örtlichen IOM-MitarbeiterInnen in Empfang genommen. IOM Mitarbeiter können Rückkehrer/innen direkt nach Verlassens des Flugzeuges empfangen und sie bei den Ein- bzw. Weiterreiseformalitäten unterstützen. An den Flughäfen anderer Städten wie Mazar-e-Sharif, Kandahar oder Herat gibt es keine derartige Betreuung direkt am Flughafen.

RESTART sowie die Folgeprojekte RESTART II und RESTART III unterscheiden sich nur minimal voneinander. So ist beispielsweise die Höhe der Barzahlung und auch die Unterstützung durch Sachleistungen gleich geblieben, wobei im ersten RESTART Projekt und in der ersten Hälfte von RESTART II nur 2.500 Euro in Sachleistung investiert wurden und die restlichen 300 Euro für Wohnbedürfnisse, Kinderbetreuung oder zusätzlich für Bildung zur Verfügung standen. Dies wurde im Verlauf von RESTART II geändert und es ist nun auch in RESTART III der Fall, sodass die gesamte Summe für eine einkommensgenerierende Tätigkeit verwendet werden kann.

IOM hat mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union das Projekt „RADA“ (Reintegration Assistance and Development in Afghanistan) entwickelt.

Innerhalb dieses Projektes gibt es eine kleine Komponente (PARA – Post Arrival Reception Assistance), die sich speziell an zwangsweise rückgeführte Personen wendet. Der Leistungsumfang ist stark limitiert und nicht mit einer Reintegrationsunterstützung vergleichbar. Die Unterstützung umfasst einen kurzen medical check (unmittelbare medizinische Bedürfnisse) und die Auszahlung einer Bargeldunterstützung in der Höhe von 12.500 Afghani (rund 140 EUR) zur Deckung unmittelbarer, dringender Bedürfnisse (temporäre Unterkunft, Weiterreise, etc.).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden.

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an.

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ.

III. Beweiswürdigung:

1. Zu den Feststellungen zur Person (II.1.):

1.1. Die Feststellungen unter II.1. beruhen – sofern nicht im Folgeabsatz behandelt – einerseits auf den dahingehend konsistenten Angaben des Beschwerdeführers im verwaltungsbehördlichen Verfahren (Beweismittel: Erstbefragung, Vernehmung) und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (Beweismittel: Vernehmung in der mündlichen Beschwerdeverhandlung). Sie ergeben sich andererseits auch aus den Angaben der in der mündlichen Beschwerdeverhandlung herangezogenen Dolmetscherin, an denen sich das erkennende Gericht nicht zu zweifeln veranlasst sah. Sie stehen auch nicht in Widerspruch zu den von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen und es gab auch vom Beschwerdeführer kein Vorbringen, jedenfalls nicht mehr in der Beschwerde, welches sie als strittig erscheinen ließ.

1.2. Soweit der Beschwerdeführer zunächst seinen Geburtsort in der Provinz Kapisa angab, so stellte er danach – und dies stellte auch die belangte Behörde so fest (Bescheid, S. 12) und es blieb diese Tatsache danach auch unbestritten – klar, dass er in der Stadt Kabul geboren wurde und dort auch lebte. Seine Eltern hätten früher in Kapisa gelebt, er selbst habe in der Stadt Kabul an verschiedenen Adressen gewohnt (s. AS 111 f).

2. Zu den Feststellungen zur Antragstellung in Österreich (II.2.):

Die Feststellung unter II.2. folgt aus den konsistenten Angaben des Beschwerdeführers während des Verfahrens (Beweismittel: Erstbefragung und Vernehmung im verwaltungsbehördlichen Verfahren) wie auch aus den sonstigen Verfahrensakten. Sie waren auch als unstrittig anzusehen.

3. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen (II.3.):

3.1. Der Beschwerdeführer brachte im Verfahren als fluchtauslösendes Ereignis auf das Wesentliche zusammengefasst vor, dass Familienangehörige von ihm für die Kommunisten in der Regierungszeit von Najibullah tätig gewesen seien. Feinde hätten seinen Vater und seinen Bruder getötet. Seine Familie und er selbst seien bedroht worden und er selbst auch geschlagen worden. Deshalb hätte er das Land verlassen müssen.

3.2. Die belangte Behörde traf keine positiven Feststellungen zu diesen Sachverhaltsbehauptungen. Dies im Wesentlichen, weil sie die Fluchtbehauptungen des Beschwerdeführers für oberflächlich und nicht plausibel hielt. Auch seien sie emotional regungslos und betreffend maßgebliche Tatsachen erst spät im Verfahren vorgetragen worden. Auch die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers hätte nicht zu anderen Schlussfolgerungen veranlasst (Bescheid, S. 12 f und 55 ff). Die Beschwerde bestreitet dies bezogen auf die verwaltungsbehördlichen Tatsachenfeststellungen zum Beschwerdeführer zusammengefasst damit, dass Länderinformationen nicht berücksichtigt worden seien. Auch könne ein Gefühlsausdruck zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit schon angesichts individueller und kultureller Unterschiede nicht herangezogen werden (Beschwerde, Pkt. 4).

3.3.1. Bei der Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts zu einem von einem Antragsteller auf internationalen Schutz getätigten Fluchtvorbringen sind folgende, der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu entnehmende Leitlinien zu beachten:

3.3.2. Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. etwa VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, Rn. 11, m.w.N.).

3.3.3. Es ist jedoch ausreichend, wenn das Beweismaß der Glaubhaftigkeit heranzogen und das vom Revisionswerber erstattete Vorbringen ausschließlich auf dessen Glaubwürdigkeit hin gewürdigt wird (vgl. VwGH 25.02.2019, Ra 2018/19/0707, Rn. 13). Dieses Beweismaß tritt anstelle des gemäß § 17 VwGVG i.V.m. § 45 Abs. 2 AVG (allgemein) geltenden Beweismaßes, wonach es genügt, von mehreren Möglichkeiten jene als Tatsache erwiesen anzunehmen, die gegenüber allen anderen Möglichkeiten eine überragende Wahrscheinlichkeit oder gar die Gewissheit für sich hat und alle anderen Möglichkeiten absolut oder mit Wahrscheinlichkeit ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich erscheinen lässt bzw. der die „größere innere Wahrscheinlichkeit“ zukommt (vgl. dazu aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0484, Rn 35, und VwGH 02.12.2020, Ra 2020/02/0220, Rn. 12, jeweils m.w.N.).

3.3.4. Weder die Behörde noch das Verwaltungsgericht sind verpflichtet, dem Asylwerber im Wege eines Vorhaltes zur Kenntnis zu bringen, dass Widersprüche vorhanden sind, die im Rahmen der gemäß § 45 Abs. 2 AVG vorzunehmenden Beweiswürdigung zu seinem Nachteil von Bedeutung sein könnten, und ihm aus diesem Grund eine Stellungnahme hiezu zu ermöglichen (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 05.11.2020, Ra 2020/14/0258, Rn. 14, m.w.N.).

3.3.5. Die Glaubwürdigkeit des Vorbringens eines Asylwerbers ist von der zuständigen Behörde (oder eben auch durch das Verwaltungsgericht) nach der zu Art. 4 der EU-Richtlinie 2011/95/EU ergangenen Rechtsprechung des EuGH zu prüfen. Dabei kommt es darauf an, ob dieser sein Vorbringen gebührend substantiierte und auch, ob er es so schnell wie möglich darlegte. Sollten Unterlagen oder sonstige Beweise für die vom Asylwerber aufgestellten Behauptungen fehlen, so können die Behauptungen weiters auch nur dann berücksichtigt werden, wenn sie kohärent und plausibel sind, zu den verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen und auch die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers gegeben ist. Zu berücksichtigen sind dabei allerdings auch Erklärungen für das Fehlen von Beweisen und die generelle Glaubwürdigkeit (vgl. VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472, Rn. 21 und 19, m.w.N.).

3.3.6. Es entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Asylbehörden in der Beweiswürdigung den realen Hintergrund der vom Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte in ihre Überlegungen einzubeziehen und die Glaubwürdigkeit seiner Behauptungen auch im Vergleich zur einschlägigen Berichtslage zu messen haben. Bei den von Amts wegen zu treffenden Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern haben die Asylbehörde und das Verwaltungsgericht von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch zu machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen (vgl. etwa VwGH 05.10.2020, Ra 2020/19/0092, Rn. 15, m.w.N.).

3.4.1. Unter Berücksichtigung dieser Leitlinien war aus den folgenden Erwägungen der vom Beschwerdeführer als fluchtauslösend vorgetragene Tatsachenkomplex als solches nur zum Teil als glaubwürdig anzusehen:

3.4.2. Aus den Länderinformationen zu Afghanistan ergibt sich kein maßgebliches Risikoprofil für Familienangehörige von Personen, die seinerzeit für die Regierung unter Najibullah (oder dort im Polizeidienst) tätig waren. Die in der Beschwerde genannten Profile aus den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des Schutzbedarfs für afghanische Asylsuchende– die auch in den Richtlinien vom 30.08.2018 (dies in Folge bezeichnet als „UNHCR-Richtlinien 2018“, abrufbar hier: https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2019/07/afg_guidelines_2018.pdf, abgerufen am 25.02.2021) enthalten sind – passen nicht (Beschwerde, S. 13 f). So geht es ja nicht um eine behauptete Unterstützung der derzeitigen afghanischen Regierung (bzw. einer Tätigkeit für diese), sondern einer, die vor langer Zeit die Gewalt in Afghanistan ausübte. Auch den Länderleitfäden des EASO aus den Jahr 2018 bis 2020 (die sohin auch den behaupteten Zeitraum des fluchtauslösenden Ereignisses also durchaus abdecken) wie auch sonst aus den Richtlinien des UNHCR zu Afghanistan betreffend den maßgeblichen Zeitraum folgt kein explizites Risikoprofil (s. demgegenüber nur die Hinweise / Einschätzungen betreffend Tätigkeiten für das kommunistische Regime (s. hingegen die Ausführungen zur etwaigen Relevanz von Tätigkeiten für die Regierung Najibullah bei der Prüfung von möglichen Ausschlussgründen, UNHCR-Richtlinien 2018, S. 133 ff; s. unter Abschnitt 6.3.1. des EASO-Länderleitfadens 2020, abrufbar hier: https://easo.europa.eu/country-guidance-afghanistan-2020, abgerufen am 25.02.2021). Dies bedeutet jedoch noch nicht, dass deshalb die behaupteten Tatsachen schon aus diesem Grund unplausibel sind; es also im Regelfall (geradezu) ausgeschlossen werden könnte, dass Handlungen oder Maßnahmen in Zusammenhang mit früheren Tätigkeiten von Angehörigen in der Regierung Najibullah stehen.

3.4.3.1. Das Bundesverwaltungsgericht übersieht auch fallbezogen nicht, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des (von ihm so behaupteten) fluchtauslösenden Ereignisses etwas über 16 Jahre alt und damit noch minderjährig war. Dies erfordert eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung, bei der die vorgebrachte Fluchtgeschichte und allfällige Widersprüche in den Angaben unter dem Aspekt der Minderjährigkeit gewürdigt werden müssen. Es muss sich aus der Entscheidung erkennen lassen, dass solche Umstände in die Beweiswürdigung Eingang gefunden haben und dass darauf Bedacht genommen wurde, aus welchem Blickwinkel die Schilderung der Fluchtgeschichte erfolgte (zu alledem vgl. etwa VwGH 15.10.2020, Ra 2020/18/0223, Rn. 10, m.w.N.).

3.4.3.2. Beachtlich ist weiters, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt seiner Erstbefragung rund 17 Jahre alt war und auch keine Erkrankung oder Einschränkungen angab (Seite der Akten des verwaltungsbehördlichen Verfahrens [in Folge: „AS“] 7, Frage 7). Er hatte zu diesem Zeitpunkt auch bereits als Fliesenleger gearbeitet (s. AS 3 und 7). Im Zeitpunkt seiner Vernehmung im verwaltungsbehördlichen Verfahren war der Beschwerdeführer bereits – jedenfalls ungeachtet des zum damaligen Zeitpunkts von einem abweichenden Geburtsdatum ausgehenden pflegschaftsgerichtlichen Obsorgebeschluss so anzusehen – volljährig. Dort gab er auch an, dass er gesund und in der Lage sei Angaben zu machen. Auch seien sämtliche Angaben bei seiner Erstbefragung vollständig protokolliert worden (AS 99 und 101). Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass weder das Alter noch sonstige Umstände einer vollumfänglichen Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers – unbeschadet allfälliger Beschränkungen des Beweiswerts, dazu jeweils noch nachstehend – entgegenstehen.

3.4.4. Eingangs ist ferner auch festzuhalten, dass Zweifel ob der allgemeinen Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers nicht aufkamen.

3.4.5. Positiv festzustellen (II.3.1.) aus dem vorgetragenen Tatsachenkomplex ob des vom Beschwerdeführer vorgebrachten fluchtauslösenden Ereignisses war, dass der Vater wie auch der Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers für die Regierung des Najibullah tätig waren; ebenso, dass der Vater des Beschwerdeführers an einer Vergiftung im Krankenhaus verstarb. Zwar erwähnte der Beschwerdeführer dies erstmalig bei der Vernehmung durch die belangte Behörde; doch blieb er dahingehend im weiteren Verfahren konsistent. Dass er den „Polizeidienst“ als Form der Tätigkeit für die Regierung erst vor dem Bundesverwaltungsgericht erwähnte schadet dabei – im Gegensatz zu anderen Inkonsistenzen / Steigerungen, worauf im Folgenden noch einzugehen sein wird – nicht, weil es sich dabei ja auch um eine „Regierungstätigkeit“ handelte und der Kern der zunächst behaupteten Tatsachen nicht verlassen wurde (bei Gegenüberstellung der Angaben auf AS 113 und Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, OZ 10 [in Folge: „VHS“], S. 8).

3.4.6.1. Im Übrigen war jedoch der vorgetragene fluchtauslösende Tatsachenkomplex nicht als glaubwürdig zu sehen:

3.4.6.2. So gab der Beschwerdeführer bei seiner Erstbefragung an, dass er Afghanistan verlassen hätte, weil es dort keine Sicherheit und täglich Anschläge gebe. Auch sei sein Vater vergiftet und sein Bruder im Iran von der Polizei getötet worden. Mit keinem Wort erwähnte er hingegen irgendeine gegen ihn persönlich gerichtet Handlung oder Maßnahme.

3.4.6.3. Nun darf nicht übersehen werden, dass gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 die Erstbefragung insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden dient und sich – abgesehen von einem Folgeantrag – nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Auch hat der Verwaltungsgerichtshof vor diesem Hintergrund bereits ausgesprochen, dass er der Annahme, ein Asylwerber werde immer alles, was zur Asylgewährung führen könne, bereits bei der Erstbefragung vorbringen, nicht beitreten kann. Ebenso jedoch, dass es am Boden des § 19 Abs. 1 AsylG 2005 allerdings weder der Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht verwehrt ist, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zu späteren Angaben einzubeziehen, wobei es aber sorgsamer Abklärung bedarf und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. zu alledem etwa VwGH 16.07.2020, Ra 2019/19/0419, Rn. 10 f, m.w.N.). Ausdrücklich wiederum hat der Verwaltungsgerichtshof bereits in seiner Rechtsprechung betont, dass es nicht generell unzulässig ist, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen (vgl. etwa VwGH 21.11.2019, Ra 2019/14/0429, Rn. 10, m.w.N.). Fallbezogen ist es nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer gegen ihn persönlich gerichtete Handlungen oder Maßnahmen nicht einmal im Ansatz erwähnte. Auch die im Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses gegebene Minderjährigkeit (wobei, wie bereits festgehalten der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt bereits über 16 Jahre alt war und auch bereits einer Arbeitstätigkeit nachging) noch das Alter im Zeitpunkt der Erstbefragung allein stehen einer grundsätzlichen, beweiswürdigenden Verwertung dieses Umstands nicht entgegen. Dies schon insbesondere deshalb, weil der Beschwerdeführer eben andere Umstände für das Verlassen Afghanistans, wie die dortige Sicherheitslage, bei der Erstbefragung angeben konnte.

3.4.6.4. Doch sprechen auch noch die die nachstehend dargestellten Inkonsistenzen und Unplausibilitäten dagegen, dass das Fluchtvorbringen in Teilen als wahr anzusehen und somit festzustellen ist:

3.4.6.5. So gab der Beschwerdeführer bei seiner Vernehmung durch die belangte Behörde auf eine entsprechende Frage hin an, dass er nicht wisse, um wen es sich bei den Feinden seines Vaters gehandelt habe (AS 115). Bei seiner Vernehmung als Beteiligter vor dem Bundesverwaltungsgericht gab er hingegen an, dass es sich dabei um „ XXXX “, „ XXXX “ und „ XXXX “ handle; dies habe ihm sein Onkel väterlicherseits, nachdem er angegriffen wurde, erzählt (VHS, S. 8 f). Der Beschwerdeführer konnte jedoch diesen Widerspruch nicht aufklären, sondern gab auf entsprechenden Vorhalt lediglich an, dass er – dies jedoch entgegen den Tatsachen der Niederschrift – gar nicht danach gefragt worden sei (VHS, S. 11). Weder das Alter des Beschwerdeführers im Zeitpunkt, als er von den Namen der Feinde erfahren haben will, noch zum Zeitpunkt der Vernehmung vor der belangten Behörde veranlas

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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