TE Bvwg Beschluss 2021/3/4 W182 2118213-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.03.2021
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Entscheidungsdatum

04.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AVG §68 Abs1
BFA-VG §21 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a

Spruch


W182 1414755-6/6E

W182 2118213-4/6E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , und 2.) XXXX , geb. XXXX , beide StA. Russische Föderation, vertreten durch Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.01.2021, Zl. ad 1.) 831151002/200748237 und ad 2.) 1078843306/200748261, beschlossen:

A) Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG), nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1.1. Die beschwerdeführenden Parteien (im Folgenden BF) sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und gehören der tschetschenischen Volksgruppe an. Die BF1 ist die Mutter des minderjährigen BF2.

Der BF2 wurde im XXXX in Österreich geboren. Seine Eltern, die BF1 und der ihr nach muslimischen Ritus angetraute Gatte (Lebensgefährte), sein im XXXX geborener Bruder sowie seine im XXXX geborene Schwester waren schon im September 2008 bzw. im Oktober 2008 (BF1, Bruder und Schwester) in das Bundesgebiet eingereist und hatten hier Anträge auf internationalen Schutz gestellt.

Die BF1 begründete ihren Antrag ursprünglich damit, dass sie nach der Ausreise ihres Gatten von den Behörden mit dem Umbringen bedroht worden wäre, falls ihr Mann nicht zurückkomme. Ihr Gatte und dessen gesamte Familie wäre in der Heimat von den Behörden verfolgt worden. Nachdem ihr Gatte jedoch völlig andere Fluchtgründe vorbrachte, wechselte die BF1 ihr Vorbringen und begründete ihren Antrag im Wesentlichen mit den Fluchtgründen ihres Gatten, wonach dieser aufgrund eines Vorfalles im Jahr 1999 in Tschetschenien seither von Privatpersonen aus unbegründeten Rachemotiven verfolgt werde und in diesem Zusammenhang auch sie selbst und ihre Kinder bedroht worden wären. Ihren Angaben zufolge seien weder die BF1 noch ihr Gatte politisch tätig gewesen, haben nicht gekämpft und auch keine Kämpfer unterstützt.

Die Anträge wurden nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 11.05.2012 mit Erkenntnissen des Asylgerichtshofes vom 30.08.2012, u.a. Zl. D3 414754-1/2010/11E (BF1), in Verbindung mit Ausweisungen in die Russische Föderation vollinhaltlich abgewiesen. Begründend ging das Gericht aufgrund erheblicher Widersprüche von der Unglaubwürdigkeit der Vorbringen aus.

1.2. Die BF1 reiste in der Folge mit ihrem Gatten und den beiden Geschwistern des BF2 illegal nach Deutschland, von wo sie im August 2013 nach Österreich rücküberstellt wurden.

Hierauf stellten sie im August 2013 Folgeanträge auf internationalen Schutz, die mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 25.11.2013, u.a. Zl. 13 11.510-EAST Ost (BF1), gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 Ausweisungen aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgesprochen wurden (Spruchpunkt II.). Mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.05.2014, u.a. Zl W223 1414755-2/5E (BF1), wurden die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abgewiesen und die Verfahren gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 idgF insoweit zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) zurückverwiesen.

1.3. Die BF1 verblieb im Bundesgebiet und brachte zusammen mit ihrem Gatten sowie ihren beiden Kindern am 13.09.2014 ihren zweiten Folgeantrag auf internationalen Schutz ein.

In weiterer Folge wurde mit Schreiben vom XXXX 2015 für den BF2 ein erster Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 34 AsylG 2005 eingebracht.

Die Anträge wurden durch Bescheide des Bundesamtes vom 11.11.2015 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten bzw. des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bzw. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt I. und II), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), wobei gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen, sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.)

Nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 03.10.2017 wurden die dagegen erhobenen Beschwerden durch Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.10.2017, u.a. Zlen. W147 1414755-3/9E (BF1) sowie W147 2118213-1/6E (BF2), in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht ging aufgrund von Widersprüchen und Unstimmigkeiten davon aus, dass die Vorbringen, die im Laufe von drei Verfahren kontinuierlich gesteigert worden seien, um einen asylrelevanten Sachverhalt zu konstruieren, völlig unglaubwürdig seien.

Die Erkenntnisse wurden den BF am 30.10.2017 zugestellt und rechtskräftig.

1.4. Am 23.01.2018 stellte die BF1 zusammen mit ihrem Gatten und ihren drei Kindern, die alle im Bundesgebiet verblieben waren, Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 56 Abs. 1 AsylG 2005, die in der Folge auf Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 abgeändert wurden.

Das Bundesamt wies die Anträge mit Bescheiden vom 28.03.2018 gemäß § 58 Abs. 10 AsylG 2005 zurück, verband das gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG - unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise - mit Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 3 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei.

Gegen diese Bescheide wurden Beschwerden erhoben. Infolge der geltenden Geschäftsverteilung wurde die Beschwerdesache der volljährigen Tochter der BF1 einer anderen Gerichtsabteilung zugewiesen.

Die seitens der BF1, ihres Gatten und ihrer beiden Söhne erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Beschwerdeverhandlung am 23.01.2019, mit den Erkenntnissen vom 25.02.2019, u.a. Zlen. W147 1414755-4/10E (BF2) und W147 2118213-2/7E (BF2) als unbegründet ab, wobei es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG jeweils aussprach, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerden wurde mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 11.06.2019, Zl. E 1159-116272019-8, abgelehnt und die Beschwerden dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 12.08.2019 wurden die Revisionen der BF1, ihres Gatten und ihrer beiden Söhne mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 19.12.2019, Zl. Ra 2019/21/0217, zurückgewiesen.

1.5. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.08.2020, W247 1414757-4/33E, wurde in Erledigung der Beschwerde der minderjährigen Tochter der BF1 gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 28.03.2018 u.a. ausgesprochen, dass ihr gegenüber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei, wobei ihr gemäß § 55 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für 12 Monate erteilt wurde.

1.6. Der inzwischen volljährige Sohn der BF1 hat am 01.04.2020 einen dritten Folgeantrag auf internationalen Schutz gestellt. Sein Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes von 22.10.2020 gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bzw. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt I. und II), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), wobei gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.), sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).

Eine dagegen erhobene Beschwerde ist beim Bundesverwaltungsgericht seit Dezember 2020 anhängig.

2.1. Die im Bundesgebiet verbliebene BF1 stelle für sich und den BF2 am 20.08.2020 einen dritten (BF1) bzw. ersten (BF2) Folgeantrag auf internationalen Schutz.

In einer Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 20.08.2020 gab die BF1 auf die Frage, warum sie neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz stelle, im Wesentlichen an, dass sie mit ihrer Tochter und dem BF2 im Februar 2020 (nach einer Festnahme) in eine polizeiliche Familienunterkunft (als gelinderes Mittel) verbracht worden sei. Beide BF würden an psychischen Problemen leiden. Die BF1 sehe keine Zukunftsperspektiven oder Behandlungsmöglichkeiten in Tschetschenien. Während es ihr nicht gut gegangen sei, habe ihre Tochter auf den BF2 aufgepasst. Letztere habe jedoch ein Visum bekommen und sei ausgezogen. Ihr älterer Sohn befinde sich in einem Asylverfahren. Wo sich ihr Gatte befinde, wisse sie nicht. Sie stehe nun allein mit einem kleinen Sohn da, um dessen Gesundheit sie sich Sorgen mache. Außerdem habe sie erfahren, dass fremde Männer immer wieder ihren Vater nach ihnen gefragt hätten. Sie hätten sich nach ihrem Aufenthalt erkundigt und würden sie suchen. Ihr Vater sei vor fünf Monaten an einem Herzversagen gestorben. Er habe große Angst um sie gehabt. Zu ihren Befürchtungen bei einer Rückkehr in die Heimat befragt, gab die BF1 an, keine Zukunftsperspektiven für sich und ihren Sohn zu haben, wobei sie sich nicht ohne ihren Gatten zurückzukehren traue, da sie wegen ihm weggegangen sei. Seit wann die unbekannten Männer ihr Zuhause in Tschetschenien aufsuchen würden, wisse sie nicht. Ihre Mutter habe ihr dies erst mitgeteilt, als sie ihr berichtet habe, dass sie in einer polizeilichen Unterkunft sei und abgeschoben werde.

In einer dem Bundesamt vorgelegten schriftlichen Stellungnahme der Rechtsvertretung der BF vom 20.08.2020 wurde zur Folgeantragstellung bzw. zum neuen Vorbringen insbesondere auf die psychischen Erkrankungen beider BF hingewiesen, die aufgrund der unbedingt erforderlichen Behandlungen allein deswegen schon einen neuen Sachverhalt darstellen würden. Darüber hinaus würden die beiden volljährigen Kinder bzw. Geschwister der BF nicht von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme betroffen sein und daher sowohl eine Trennung von der volljährigen Tochter bzw. Schwester als auch keine Rückkehr im Familienverband und/oder mit dem Gatten bzw. Vater stattfinden. Somit würde es sich bei den BF bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nunmehr um eine psychisch kranke, alleinstehende Frau mit einem psychisch kranken minderjährigen Sohn handeln. Richtig sei, dass es noch Verwandte in der Russischen Föderation gebe, jedoch bestehe selten Kontakt zu diesen und könnten diese sie nicht unterstützen. Insbesondere könnten diese den BF weder effektiven Zugang zu medizinischer Behandlung noch einen Zugang zur Deckung von Grundbedürfnissen gewährleisten. Laut einer fachärztlichen Stellungnahme zum BF2 könne eine Trennung von seiner volljährigen Schwester jedenfalls nicht mit dem Kindeswohl vereinbart werden, da es zu einer weiteren Traumatisierung führen würde.

Dazu wurde ein klinisch-psychologischer Befundbericht einer Klinischen- und Gesundheitspsychologin und Psychotherapeutin vom 29.07.2020 hinsichtlich der BF1 vorgelegt. Darin wurde ausgeführt, dass die BF1 das Bild einer ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10:F43 und eine schwere depressive Störung nach ICD-10:F32.2 geschildert habe. Durch Ihre derzeitige Unterbringung müsse von einer anhaltenden Retraumatisierung in Österreich ausgegangen werden, was leider auch bei dem XXXX jährigen BF2 zutreffe. Die anhaltende Unsicherheit ihrer Lebenssituation, jede Zwangsmaßnahme und die damit verbundene Unterbrechung einer sicherlich absolut notwendigen fachärztlichen psychiatrischen und psychologischen Betreuung müsse als zusätzliche traumatische Erfahrung mit weiterer Traumatisierung angenommen werden. Dies sei scheinbar leider bereits eingetreten.

Weiters wurde einer fachärztlichen Stellungnahme eine Ärztin eines Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulatoriums XXXX vom 06.08.2020 vorgelegt, wonach der BF2 seit 29.07.2020 an der Ambulanz in Betreuung sei und an einer akuten Belastungsreaktion F 43.0 leide, die situativ und zeitlich eindeutig der aktuellen Abschiebungssituation zuzuordnen sei. Der BF2 sei seit einem halben Jahr in einem Abschiebezentrum untergebracht, habe keinen Kontakt zu Gleichaltrigen und erlebe fast täglich dramatische Abschiebungsszenarien mit. Dazu wurde aus fachärztlicher Sicht empfohlen, dass das Kind sofort in eine andere mit dem Kindeswohl vereinbare Umgebung übersiedeln müsse, wobei eine Trennung von Mutter und Schwester keinesfalls stattfinden dürfe, da dies eine weitere Traumatisierung bedeuten würde. Bei der Untersuchung habe der BF1 überhaupt nicht auf Ansprache oder Angebote reagiert, wobei erste Reaktionen, wenige nur kurze Blickkontakte, jedoch keine Sprache, erst nach mehr als 30 Minuten erfolgt seien.

Eine Verfahrensanordnung nach § 29 Abs. 3 AsylG 2005, in welcher den BF mitgeteilt wurde, dass eine Zurückweisung ihres Antrages wegen entschiedener Sache beabsichtigt sei, wurde der Rechtsvertretung der BF am 04.09.2020 ausgefolgt.

2.2. In einer vom Bundesamt in Auftrag gegebenen gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren vom 10.10.2020 gelangte eine Ärztin mit ÖÄK-Diplom für psychosomatische und psychotherapeutische Medizin, Psychotherapeutin sowie allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Sachverständige, hinsichtlich der BF1 zur Diagnose einer Anpassungsstörung (F 43.2), wobei für eine PTBS oder eine schwere depressive Episode derzeit keinerlei Hinweise bestehen würden, da sich kein entsprechendes Kriterium A explorieren habe lassen und auch in den mitgebrachten Befunden entsprechende Symptome nicht zu erkennen gewesen seien. Hinsichtlich des BF2 wurde der Verdacht auf F 43.2 diagnostiziert. Zur Diagnose wurde ausgeführt, dass derzeit keine aussagekräftige Befundung erfolgen könne, da das Kind die Kontaktaufnahme verweigere. In der Beobachtung sei er weder weinerlich noch wütend noch angespannt, eher gelangweilt wirkend. Allerdings sei ohne persönliche Kontaktaufnahme in einem Gespräch oder Spiel keine seriöse Aussage zu treffen. Zu therapeutischen und medizinischen Maßnahmen wurde ausgeführt, dass der BF1 ein mildes Antidepressivum gegeben werden könne und hinsichtlich des BF2 wohl eine Umgebung mit anderen Kindern und adäquater, altersentsprechender Freizeitgestaltung dem Kindeswohl zuträglich sei. Bei einer Überstellung der BF sei eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht auszuschließen. Eine akute Suizidalität oder eine akute schwere Erkrankung würden sich jedoch weder bei der BF1 noch ihrem Sohn finden. Allgemein medizinisch und grob neurologisch würden sich bei beiden BF keine Auffälligkeiten finden.

2.3. In einer niederschriftlichen Einvernahme beim Bundesamt am 16.11.2020 brachte die BF1 im Beisein eines Rechtsberaters im Wesentlichen zur neuen Antragsstellung vor, dass die alten Fluchtgründe im Zusammenhang mit ihrem Gatten noch immer voll aufrecht seien, wobei der genaue Grund für die neuerliche Asylantragstellung der Umstand sei, dass sie für ihren in Österreich geborenen Sohn keine Zukunft in Tschetschenien sehe, er hänge sehr an seiner Schwester, welche in zwei bis dreimal pro Woche besuche. Hinsichtlich ihrer Befürchtungen bei einer Rückkehr ins Herkunftsland befragt, verwies die BF1 zusätzlich darauf, dass ihre Mutter ihr, als sie vor der Abschiebung gestanden sei, gesagt habe, dass irgendwelche Männer nach ihr gefragt hätten, weil bekannt geworden sei, dass sie zurückkehre. Die BF1 wissen nicht, ob die Männer wegen ihr oder ihres Mannes gekommen seien. Sie habe Angst. Die Männer hätten bereist öfters nach ihr gefragt, doch habe ihre Mutter ihr dies bisher verheimlicht und erst gesagt, als sie erfahren habe, dass die BF1 zurückkehren solle. Ihr Vater sei deswegen an einem Herzinfarkt gestorben. Im Herkunftsland würden sich neben der Mutter keine Familienangehörigen der BF1 aufhalten, allerdings würden ihr Schwiegervater sowie zwei Schwager nach wie vor in Russland leben. Sie habe damals mit ihrem Mann und den Kindern bei den Schwiegereltern gewohnt. Dies sei in Tschetschenien üblich, wenn man heirate. Mit Ihrem Gatten habe sie nach ihrer Umsiedlung im Februar 2020 zuletzt - noch im Februar - ein kurzes Telefongespräch geführt und seither keinen Kontakt mehr. Wo sich ihr Gatte aufhalte, wisse sie nicht. Auf Vorhalt, dass sie bei der Untersuchung am 28.09.2020 angegeben habe, dass sich ihr Gatte versteckt halte, wiederholte die BF1, dass sie nicht wisse, wo ihr Mann sei und nicht über ihn reden wolle. In Österreich würden sich ein Bruder, zwei Schwestern und ein Neffe ihres Gatten aufhalten. Bei der BF1 würde ihr jüngster Sohn (BF2) wohnen, Ihr älterer Sohn lebe aktuell bei seinem Onkel (väterlicherseits), ihre Tochter bei ihrer Tante (väterlicherseits). Der BF2 besuche jede Woche eine psychologische Betreuung. Es handle sich um eine einstündige Spiel- und Einzeltherapie. Den Kindergarten besuche er seit Februar 2020 nicht mehr. Seit dem Aufenthalt in der polizeilichen Familienunterkunft habe er sich zurückgezogen und weniger gesprochen. Jetzt gehe es ihm besser. Die BF1 sei vor zwei Wochen bei einer Psychiaterin gewesen, diese habe sie zum Blutbild und EKG geschickt und ihr Medikamente (Pramulex und Trittico retard) verschrieben. Das dazu vorgelegte Blutbild und EKG weisen keine erkennbaren, erheblichen Auffälligkeiten auf.

3.1. Mit den nunmehr angefochtenen, oben im Spruch angeführten Bescheiden des Bundesamtes wurden die Anträge auf internationalen Schutz der BF vom 20.08.2020 sowohl hinsichtlich des Status von Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG idgF wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I. und II.). Weiters wurde den BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 idgF nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.), wobei gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.).

3.2.1. In den Bescheiden wurde zu der Person der BF im Wesentlichen festgestellt, dass ihre Identität feststehe, sie russische Staatsangehörige und unbescholten seien. Sie würden unter psychischen Problemen leiden.

Zu den Gründen für den neuen Antrag auf internationalen Schutz wurde im Wesentlichen festgestellt, dass die BF1 sich vollinhaltlich den Fluchtgründen Ihres Lebensgefährten anschließe und ihre Fluchtgründe auch auf den BF2 beziehe. Nicht festgestellt werden könne, dass sie einer asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt seien, von einer heimatstaatlichen Behörde in der Russischen Föderation gesucht oder verfolgt werden, oder im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würden und ihnen die notdürftigste Lebensgrundlange entzogen werde. Es könne weiters nicht festgestellt werden, dass eine maßgeblich ausgeprägte und verfestigte private oder familiäre Integration in Österreich vorliege. Der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt habe sich somit seit Rechtskraft des Vorverfahrens nicht geändert.

Zum Privat- und Familienleben wurde im Wesentlichen festgestellt, dass sich in Österreich der Lebensgefährte/Vater und die beiden volljährigen Kinder/Geschwister der BF aufhalten. Die BF1 sei gemeinsam mit dem BF2 in einer Bundesbetreuungsstelle untergebracht. Ihr Lebensgefährte sei untergetaucht und seit Februar 2020 unbekannten Aufenthaltes, das vierte Asylverfahren des erwachsenen Sohnes der BF1 befinde sich aktuell in Beschwerde, ihrer erwachsenen Tochter sei ein Aufenthaltstitel ausgestellt worden. Die BF seien in Österreich nicht berufstätig und befinden sich in Grundversorgung. Die BF1 habe abgesehen von Deutschkursen keine Ausbildung absolviert oder Kurse besucht. Sie habe geringe Deutschkenntnisse. Sie sei in Österreich in keinem Verein und in keiner Organisation tätig. Es könne nicht festgestellt werden, dass eine maßgebliche Änderung der Integrationsverfestigung in Österreich bestehe.

Zum Herkunftsstaat wurde u.a. festgestellt:

„[…]

In der Russischen Föderation wurden zu diesem Zeitpunkt 3 719400 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, sowie 69462 Todesfälle bestätigt (WHO,24.01.2021,https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports ). Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.

Grundversorgung

Letzte Änderung: 21.07.2020

2018 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 73,6 Millionen, somit ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 55%. Die Arbeitslosenrate liegt bei 4,7% (WKO 7.2019), diese ist jedoch abhängig von der jeweiligen Region. Russische StaatsbürgerInnen haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2018). Das BIP lag 2019 bei ca. 1.542 Milliarden US-Dollar (WKO 7.2019; vgl. GIZ 7.2020b).

Russland ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der Weltgasreserven (25,2%), circa 6,3% der Weltölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19%) über bedeutende Ressourcen. Die mangelnde Diversifizierung der russischen Wirtschaft führt jedoch zu einer überproportional hohen Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Rohstoffe stehen für ca. 70% der Exporte und finanzieren zu rund 50% den Staatshaushalt. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund 10% des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2020 den 94. Platz [2019 Platz 98] unter 180 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen. Die Erhöhung des allgemeinen Satzes der Mehrwertsteuer von 18% auf 20% am Jahresanfang 2019 belastete die Verbrauchernachfrage. Das Wirtschaftswachstum betrug 2019 1,3%. Langfristig befürchten Ökonomen und Behörden ein Erlahmen der Konjunktur, wenn strukturelle Reformen ausbleiben. Diese seien wegen des Rückgangs der erwerbstätigen Bevölkerung und der starken Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport erforderlich (GIZ 7.2020b).

Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Behinderungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit 10.444 Rubel [ca. 141 €] entspricht. Auch der Mindestlohn wurde seit 1.5.2018 an das Existenzminimum angeglichen. Der Warenkorb, der zur Berechnung des Existenzminimums herangezogen wird, ist marktfremd. Die errechnete Summe reicht kaum zum Überleben aus. Diese Entwicklung kann nur teilweise durch die Systeme der sozialen Absicherung aufgefangen werden. In den Regionen, die neben dem föderalen Existenzminimum ein höheres regionales Existenzminimum eingeführt haben, haben die Beschäftigten und die Rentner die Möglichkeit, eine aufstockende Leistung bis zur Höhe des regionalen Existenzminimums zu erhalten. Die Entwicklung hin zur Verarmung ist vorwiegend durch extrem niedrige Löhne verursacht. Diese sind zum einen eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik. Zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält. Zum anderen resultieren die niedrigen Löhne aus der primär auf den Erhalt der Arbeitsplätze fokussierten russischen Beschäftigungspolitik. Ungünstig ist zudem die Arbeitsmarktstruktur. Der größte Teil der Beschäftigten arbeitet im öffentlichen Dienst oder in Unternehmen, die ganz oder teilweise dem Staat gehören (33,4 Mio. von 73,1 Mio. Beschäftigten). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15-20% für Arbeitnehmer ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Folglich müssen Arbeitnehmer bis zum 44. Lebensjahr jede Chance zum Vermögensaufbau nutzen, um sich vor Altersarmut zu schützen. Auch bei Migranten wird beim Lohn gespart. Sie verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 13.2.2019).

Die Lage der Rentner (29,5% der russischen Bevölkerung) ist stabil, aber prekär. Die Durchschnittsrente beträgt 13.348 Rubel [ca. 180 €]. Die Durchschnittsaltersrente ist ein wenig höher und beträgt 14.075 Rubel [ca. 190 €]. Sie soll ab 2019 als Ausgleich zu der zugleich eingeführten Anhebung des Rentenalters um fünf Jahre (jährlich um ein Jahr bis auf 60 Jahre bei Frauen und 65 Jahre bei Männern) jährlich um durchschnittlich 1.000 Rubel [ca. 14 €] erhöht werden. Gemessen am Existenzminimum ist das durchschnittliche Rentenniveau zwischen 2012 und Ende 2018 um 18% gesunken. Damit führen die Rentner ein Leben an der Grenze des Existenzminimums und sind stark von den Lebensmittelpreisen abhängig. Dennoch gehören die Rentner nicht zu den Verlierern der Politik. Weil die Rente die verlässlichste staatliche Transferleistung ist, sind die Rentner vielmehr ein Stabilisierungsfaktor in vielen Haushalten geworden. Statistisch ist das Armutsrisiko von Haushalten ohne Rentner dreimal höher als das von Haushalten mit Rentnern. Verlierer der aktuellen Politik sind v.a. ältere Arbeitnehmer, Familien mit Kindern und Arbeitsmigranten. An der Höhe des Existenzminimums gemessen sank das Lohnniveau zwischen 2012 und 2018 um 49%. Seit 1.2.2018 sind die Löhne für alle Mitarbeiter im öffentlichen Dienst um 4% pauschal angehoben worden. Weitere Lohnerhöhungen sind im Bildungssystem und Gesundheitswesen geplant, wo die Löhne 23% respektive 19% unter dem landesweiten Durchschnittslohn liegen (AA 13.2.2019).

Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Rentner und Menschen mit Behinderung. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Renten, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Behinderung, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel 20.2 Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).

Die EU hat die Verlängerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland bis Juni 2020 beschlossen (Standard.at 20.6.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 18.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020b): Russland, Wirtschaft und Entwicklung, https://www.liportal.de/russland/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 17.7.2020

-        IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101366&vernum=-2, Zugriff 18.3.2020

-        Standard.at (20.6.2019): EU verlängert Sanktionen gegen Russland, https://www.derstandard.at/story/2000105172803/eu-verlaengert-sanktionen-gegen-russland, Zugriff 18.3.2020

-        Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.2.2020

-        WKO – Wirtschaftskammer Österreich (7.2019): Länderprofil Russland, https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-russland.pdf, Zugriff 18.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 21.07.2020

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 7.2020a; vgl. ÖB Moskau 12.2018), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Dennoch hat sich die wirtschaftliche Lage im Nordkaukasus in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Wenngleich die föderalen Transferzahlungen wichtig bleiben, konnten in den vergangenen Jahren dank des massiven Engagements der Föderalen Behörden, insbesondere des Nordkaukasus-Ministeriums, signifikante Fortschritte bei der sozio-ökonomischen Entwicklung der Region erzielt werden (ÖB Moskau 12.2019). Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, ist wieder aufgebaut. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Die Bevölkerungspyramide ähnelt derjenigen eines klassischen Entwicklungslandes mit hohen Geburtenraten und niedrigem Durchschnittsalter, und unterscheidet sich damit stark von der gesamtrussischen Altersstruktur (AA 13.2.2019).

Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien im Juni 2019 bei 27.443 Rubel [ca. 388 €] (Chechenstat 2019), landesweit bei 48.453 Rubel [ca. 686 €] im zweiten Quartal 2019 (GKS 16.8.2019). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im August 2019 bei 12.440 Rubel [ca. 176 €] (Chechenstat 2019), landesweit im ersten Halbjahr 2019 bei 14.135 Rubel [ca. 200 €] (GKS 30.7.2019). Das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 10.967 Rubel [ca. 155 €], für Pensionisten bei 8.553 Rubel [ca. 121 €] und für Kinder bei 10.552 Rubel [ca. 150 €] (Chechenstat 2019). Landesweit lag das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 11.553 Rubel [ca. 163 €], für Pensionisten bei 8.894 Rubel [ca. 126 €] und für Kinder bei 10.585 Rubel [ca. 150 €] (RIA Nowosti 23.7.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 18.3.2020

-        Chechenstat (2019): ??????????? ?????????? (Amtliche Statistiken), http://chechenstat.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_ts/chechenstat/ru/statistics/indicators/, Zugriff 18.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020

-        GKS.ru (16.8.2019): ?????????????? ??????????? ??????????? ?????????? ????? (durchschnittliches monatliches Gehalt), http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/trud/sr-zarplata/t1.docx, Zugriff 18.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 18.3.2020

-        RIA Nowosti (23.7.2019): ??????? ????????? ???????? ???????????? ???????? ?? I ??????? 2019 ???? (Das Arbeitsministerium hat das Existenzminimum für das erste Quartal 2019 berechnet), https://ria.ru/20190723/1556815859.html, Zugriff 18.3.2020

Sozialbeihilfen

Letzte Änderung: 21.07.2020

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2018).

Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Rentenfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Altersrenten gezahlt. Das Rentenalter wird mit 60 Jahren bei Männern und bei 55 Jahren bei Frauen erreicht. Da dieses Modell aktuell die Renten nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Rentenreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Renteneintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Rentenreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Renteneintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Rente gehen (GIZ 7.2020c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 7.2020c).

Personen im Rentenalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Altersrente. Dies gilt auch für Rückkehrende. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht erforderlich. Zu erhaltende Leistungen werden ebenfalls in der Erstberatung diskutiert (IOM 2018). Seit dem Jahr 2010 werden Renten, die geringer als das Existenzminimum für Rentner sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a).

Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2017). Das europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, denen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:

- Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);

- Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);

- Familien mit geringem Einkommen;

- Studenten, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015). 2018 profitierten von diesen Leistungen für bestimmte Kategorien von Bürgern auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen. In den Regionen könnte die Zahl noch höher liegen, da die Föderationssubjekte für den größten Teil der monatlichen Geldleistungen aufkommen (Russland Analysen 21.2.2020a).

Familienbeihilfe

Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.120 Rubel (ca. 44 €). Bei einem zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.131 Rubel (ca. 87 €). Der maximale Betrag liegt bei 22.120 Rubel (ca. 313 €) (IOM 2018). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums. Ab 2020 soll der Kreis der berechtigten Familien erweitert werden (Russland Analysen 21.2.2020a).

Mutterschaft

Mutterschaftsurlaub kann man bis zu 140 Tage beantragen und erhält weiterhin 100% des Lohnes (70 Tage vor der Geburt, 70 Tage danach). Im Falle von Mehrlingsgeburten kann dieser auf 194 Tage erhöht werden. Das Minimum der Mutterschaftshilfe liegt bei 100% des gesetzlichen Mindestlohns bis zu einem Maximum im Vergleich zu einem 40 Stunden Vollzeitjob. Der Mindestbetrag der Mutterschutzhilfe liegt bei 9.489 Rubel (ca. 130 €) und der Maximalbetrag bei 61.375 Rubel (ca. 840 €) (IOM 2018). Weiters gibt es landesweite Pauschalzahlungen für die Geburt und die medizinische Registrierung vor der 12. Schwangerschaftswoche und seit 2020 Lohnersatzzahlungen von 40% in den ersten drei Jahren der Elternzeit. Mütter haben auch Anspruch auf zwei zusätzliche bezahlte Urlaubstage bis zum 14. Lebensjahres des Kindes. Bezüglich Betreuungseinrichtungen von Kindern ist zu sagen, dass die Gebühren dafür niedrig sind und hohe Vergünstigungen bei zunehmender Kinderanzahl bieten. Obwohl das Angebot von Betreuungseinrichtungen regional variiert, gibt es im Allgemeinen ein breites Versorgungsnetz (Russland Analysen 21.2.2020b).

Mutterschaftskapital

Zu den bedeutendsten Positionen der staatlichen Beihilfe zählt das Mutterschaftskapital, in dessen Genuss Mütter mit der Geburt ihres zweiten Kindes kommen. Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich – innerhalb von zehn Jahren stiegen sie inflationsbereinigt von 250.000 auf 453.026 Rubel, also von 4.152 € auf mehr als 7.500 € (RBTH 22.4.2017). Ab dem 1.1.2020 wird das Mutterschaftskapital in Russland erhöht. Familien, in denen das zweite Kind geboren wird, erhalten 470.000 Rubel (ca. 6.100 €) statt der derzeitigen 453.000. Dies teilte der Minister für Arbeit und soziale Sicherheit mit (Russland Capital 7.6.2019). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil das zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017). Die Höhe des Mutterschaftskapital entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden und auf die Geburt des ersten Kindes ausgeweitet werden (Russland Analysen 21.2.2020a). Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (Russland Analysen 21.2.2020b).

Behinderung

ArbeitnehmerInnen mit einem Behindertenstatus haben das Recht auf eine Behindertenrente. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Diese wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Rentenalters (IOM 2018).

Arbeitslosenunterstützung

Eine Person kann sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin wird die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz anbieten. Sollte der/die BewerberIn diesen zurückweisen, wird er/sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindesthöhe pro Monat beträgt 850 Rubel (12 €) und die Maximalhöhe 4.900 Rubel (70 €). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2018).

Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen

BürgerInnen ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an (min. 12%). Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Im Jahr 2018 lag dieser Zuschuss bei 453.026 Rubel (ca 6.618 €). Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei 3.200 Rubel (45 €) (IOM 2018).

Quellen:

-        BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 17.7.2020

-        IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101366&vernum=-2, Zugriff 18.3.2020

-        RBTH – Russia beyond the Headlines (22.4.2017): Gratis-Studium und Steuerbefreiung: Russlands Wege aus der Geburtenkrise, https://de.rbth.com/gesellschaft/2017/04/22/gratis-studium-und-steuerbefreiung-russlands-wege-aus-der-geburtenkrise_747881, Zugriff 18.3.2020

-        Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.2.2020

-        Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.2.2020

-        Russland Capital (7.6.2019): Das Mutterschaftskapital wird auf 470.000 Rubel erhöht, https://www.russland.capital/das-mutterschaftskapital-wird-auf-470-000-rubel-erhoeht, Zugriff 18.3.2020

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 21.07.2020

Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger ist in der Verfassung verankert (GIZ 7.2020c; vgl. ÖB Moskau 12.2018). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu notfallmäßiger medizinischer Versorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Fälle von Diskriminierung auf Grund von Religion oder ethnischer Herkunft bezüglich der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sind nicht bekannt (ÖB Moskau 12.2019). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der „Nationalen Projekte“, die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert, sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 7.2020c).

Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zu Verfügung gestellt. StaatsbürgerInnen haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2018; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Jede/r russische Staatsbürger/in, egal ob er einer Arbeit nachgeht oder nicht, ist von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 12.2019). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten (IOM 2018; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Diese müssen bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden. An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2018). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt (ÖB Moskau 12.2019).

Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2018; vgl. ÖB Moskau 12.2019), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 27.11.2018; vgl. Ostexperte 22.9.2017).

Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 7.2020c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 7.2020c; vgl. AA 13.2.2019). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 12.2019).

Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Anstalt und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken erwiesen wird, haben Personen das Recht, die medizinische Anstalt nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Das bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem „zuständigen“ Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem „zuständigen“ Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Anstalt durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Anstalten zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 12.2019).

Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 12.2019). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). In Notfällen sind Medikamente in Kliniken, wie auch an Ambulanzstationen, kostenfrei erhältlich. Gewöhnlich kaufen russische Staatsbürger ihre Medikamente jedoch selbst. Bürgerinnen mit speziellen Krankheiten wird Unterstützung gewährt, u.a. durch kostenfreie Medikamente, Behandlung und Transport. Die Kosten für Medikamente variieren, feste Preise bestehen nicht (IOM 2018). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann (ÖB Moskau 12.2019). Im Zuge der Lokalisierungspolitik der Russischen Föderation sinkt der Anteil an hochwertigen ausländischen Medikamenten. Es wurde über Fälle von Medikamenten ohne oder mit schädlichen Wirkstoffen berichtet. Als Gegenmaßnahme wurde 2018 ein neues System der Etikettierung eingeführt, sodass nun nachvollzogen werden kann, wo und wie die Arzneimittel hergestellt und bearbeitet wurden. Die Medikamentenversorgung ist zumindest in den Großstädten gewährleistet und teilweise kostenfrei (AA 13.2.2019).

Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Das Hauptproblem ist jedoch weniger die fehlende technische Ausstattung, sondern ein Ärztemangel, obwohl die Zahl der Ärzte 2018 leicht gestiegen ist. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsversorgung zu stark auf die klinische Behandlung ausgerichtet ist. Da in den letzten Jahren die Zahl der Krankenhäuser und Ärztezentren abgenommen hat, hat die Regierung darauf reagiert und 2018 beschlossen, dass bis 2024 360 neue medizinische Einrichtungen, darunter 30 onkologische Zentren, gebaut und weitere 1.200 saniert werden sollen. Zusätzlich sollen 800 mobile Einrichtungen eröffnet werden. Parallel zu diesen Beschlüssen wurden jedoch 2018 300 staatliche Krankenhäuser geschlossen. Den größten Fortschritt in der medizinischen Versorgung brachten 2018 die Einführung der Telemedizin und die digitale Erbringung der medizinischen Leistung. Patienten können seit dem 1.4.2018 einen Termin über ihr e-Konto vereinbaren oder einen digitalen Arzt in Anspruch nehmen. Diagnose und Behandlung erfolgen online. Mit der Einführung der Telemedizin haben sich die langen Wartezeiten auf eine Behandlung verkürzt (AA 13.2.2019).

Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (vgl. dazu die Kapitel 19. Bewegungsfreiheit und 19.1 Meldewesen) (DIS 1.2015; vgl. AA 13.2.2019).

Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist (ÖB Moskau 12.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 17.7.2020

-        GTAI – German Trade and Invest (27.11.20186): Russlands Privatkliniken glänzen mit hohem Wachstum, https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche,t=russlands-privatkliniken-glaenzen-mit-hohem-wachstum,did=2183416.html, Zugriff 19.3.2020

-        DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101366&vernum=-2, Zugriff 19.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        Ostexperte.de (22.9.2017): Privatkliniken in Russland immer beliebter, https://ostexperte.de/russland-privatkliniken/, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 21.07.2020

Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung, und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).

Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, schwangere Frauen und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015). Weitere Krankheiten, für die Medikamente kostenlos weitergegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), sind:

- infektiöse und parasitäre Krankheiten

- Tumore

- endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten

- Krankheiten des Nervensystems

- Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems

- Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde

- Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes

- Krankheiten des Kreislaufsystems

- Krankheiten des Atmungssystems

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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