TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/18 W228 2175181-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.03.2021
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Entscheidungsdatum

18.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W228 2175181-1/36E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald WÖGERBAUER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX 1998, Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.10.2017, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, sowie §§ 46, 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 55 Abs. 1 bis 3 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, hat sein Heimatland verlassen, ist illegal in das Bundesgebiet eingereist und hat am 25.01.2016 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 25.01.2016 gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, dass in Afghanistan Krieg herrsche und er von den Taliban bedroht worden sei.

Der Beschwerdeführer wurde am 21.09.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er aus der Provinz Farah stamme. Sein Vater sei bereits verstorben. Seine Mutter und seine Geschwister würden nunmehr im Iran leben. Er habe keine Angehörigen mehr in Afghanistan. Zu seinem Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer aus, dass er sich freiwillig gemeldet habe, um Soldat in der afghanischen Armee zu werden. Nach dem Einschreiben habe er den Militärstützpunkt verlassen und habe gemerkt, dass ihm ein Auto gefolgt sei. Zu Hause angekommen, sei er von seinen Verfolgern gefesselt und entführt worden. Er sei an einem ihm unbekannten Ort für ca. zwei Tage festgehalten worden. Dann sei ihm die Flucht gelungen. Er sei nachhause geflüchtet, von wo aus er schließlich seine Ausreise aus Afghanistan organisiert habe.

Mit angefochtenem Bescheid vom 12.10.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs.1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu seinem Fluchtgrund, zur Situation im Falle seiner Rückkehr und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Es habe keine glaubhafte Gefährdungslage festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung glaubhaft machen können. Dem Beschwerdeführer könne eine Rückkehr nach Afghanistan zugemutet werden.

Gegen verfahrensgegenständlich angefochtenen Bescheid wurde mit Schreiben der damaligen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 30.10.2017 Beschwerde erhoben. Darin wurde zunächst das vom Beschwerdeführer in der Einvernahme erstattete Vorbringen wiederholt und wurde ausgeführt, dass die im Bescheid angeführten Länderfeststellungen unvollständig und teilweise nicht mehr aktuell seien und sich kaum mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers auseinandersetzen würden. In weiterer Folge wurde auf Berichte zur allgemeinen Lage in Afghanistan verwiesen und wurde ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar sei. Dem Beschwerdeführer werde seitens der Taliban und anderer extremistischer Gruppierungen eine oppositionelle Gesinnung aufgrund seiner Zugehörigkeit beim afghanischen Militär bzw. aufgrund seiner Familiengeschichte unterstellt. Dem Beschwerdeführer wäre daher Asyl, zumindest jedoch subsidiärer Schutz zu gewähren.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 02.11.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Am 09.10.2018 wurde ein Anlass-Bericht vom 06.10.2018 an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Am 30.01.2019 wurde eine Verständigung von einer rechtskräftigen Verurteilung des BG Leopoldstadt vom 17.12.2018 an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Am 08.05.2019 wurde eine Gewerbeanmeldung mit Wirksamkeit vom 06.05.2019 betreffend den Beschwerdeführer an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Am 05.07.2019 übermittelte die damalige Rechtsvertretung des Beschwerdeführers eine Stellungnahme und Urkundevorlage an das Bundesverwaltungsgericht. Darin wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer zum Christentum konvertiert sei und sich am 05.05.2019 habe taufen lassen.

Am 10.07.2019 wurde eine Beschuldigtenvernehmung vom 09.07.2019 an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Am 09.11.2020 wurde ein Abschluss-Bericht vom 02.08.2019 sowie eine „Verständigung der Kriminalpolizei vom endgültigen Rücktritt von der Verfolgung nach Ablauf der Probezeit“ der Staatsanwaltschaft Wien vom 06.10.2020 an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde in der gegenständlichen Rechtssache am 02.02.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein des Beschwerdeführers und seiner damaligen Rechtsvertretung, eines Vertreters der belangten Behörde sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführt. Im Zuge der Verhandlung wurden zwei Zeugen einvernommen.

Am 03.02.2021 sowie am 15.02.2021 langte jeweils eine Stellungnahme der belangten Behörde beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Am 15.02.2021 langte eine Auflösung des Vollmachtsverhältnisses beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde in der gegenständlichen Rechtssache am 26.02.2021 eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein des Beschwerdeführers sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführt. Die belangte Behörde entschuldigte ihr Fernbleiben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger, geboren XXXX 1998. Er stammt aus der Provinz Farah. Er ist im Kindesalter gemeinsam mit seiner Kernfamilie in den Iran gezogen und hat einige Jahre lang dort gelebt, bevor er nach Afghanistan zurückgekehrt ist und dort bis zu seiner letztmaligen Ausreise gelebt hat. Wann genau bzw. wie lang sich der Beschwerdeführer im Iran aufgehalten hat, konnte nicht festgestellt werden.

Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Die Mutter, der Onkel sowie die Geschwister des Beschwerdeführers leben nunmehr im Iran. Der Beschwerdeführer hat keine Angehörigen in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer hat insgesamt sechs Jahre lang die Schule besucht. Der Schulbesuch fand in Afghanistan mindestens 2 Jahre statt. Ob der restliche Schulbesuch von 4 Jahren im Iran oder in Afghanistan stattgefunden hat, konnte nicht festgestellt werden. Im Iran hat der Beschwerdeführer als Gehilfe in einem Supermarkt gearbeitet. Nach seiner Rückkehr aus dem Iran nach Afghanistan hat der Beschwerdeführer in seiner Heimatprovinz als Hirte gearbeitet.

Der Beschwerdeführer ist Tadschike. Er bekannte sich in Afghanistan zum sunnitischen Islam und spricht Dari.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer wurde am 11.12.2018 zu Zl. 039 U 110/2018t vom Bezirksgericht Leopoldstadt zu einer Freiheitstrafe von drei Monaten, bedingt nachgesehen unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren, wegen §§27 (1) Z 1 2. Fall, 27 (1), Z 1 8. Fall SMG rechtkräftig verurteilt.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit spätestens 26.11.2015 in Österreich. Er ist illegal in das Bundesgebiet eingereist. Es halten sich keine Familienangehörigen oder Verwandten des Beschwerdeführers in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer hat Deutschkurse besucht, jedoch keine Deutschprüfung abgelegt. Er war Mitglied in einem Fußballverein und ist seit Sommer 2020 regelmäßig in der Pannonischen Tafel ehrenamtlich tätig. Er war in Österreich bereits als Werbemittelverteiler und Essenauslieferer tätig.

1.2. Zum Fluchtgrund

Der Beschwerdeführer war in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt und wurden von ihm keine asylrelevanten Gründe für das Verlassen seines Heimatstaates dargetan. Es wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgungsgefahr durch die Taliban droht.

Der Beschwerdeführer, der als sunnitischer Moslem erzogen wurde, zeigt Interesse für den christlichen Glauben und hat sich am 05.05.2019 in der „ XXXX “ taufen lassen. Die „ XXXX “ ist weder als Kirchengemeinschaft registriert noch im Bund der evangelikalen Gemeinden in Österreich verzeichnet. Als Trägerverein fungiert der Verein für Mission und Asylintegration der XXXX .

Der Beschwerdeführer hat jedoch nicht aus innerer Überzeugung und als identitätsstiftendes Merkmal seine Religionszugehörigkeit aufgegeben und abgelegt. Ein Religionswechsel aus innerer Überzeugung liegt daher nicht vor. Das Christentum ist nicht wesentlicher Bestandteil der Identität des Beschwerdeführers geworden.

Der Beschwerdeführer würde seinem derzeitigen Interesse für das Christentum im Falle der Rückkehr nach Afghanistan nicht weiter nachkommen und würde sein derzeitiges Interesse für das Christentum im Falle der Rückkehr nach Afghanistan nicht nach außen zur Schau tragen. Ihm droht in Afghanistan, jedenfalls in Mazar-e Sharif, nicht die Gefahr, auf Grund eines (allenfalls unterstellten) Abfalls vom Islam bzw. seiner Hinwendung zum Christentum physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein.

Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung keine Verfolgung.

1.3. Zur Situation im Falle der Rückkehr:

Bei einer Rückkehr in die Provinz Farah kann eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage sowie der schlechten Erreichbarkeit dieser Provinz nicht ausgeschlossen werden.

Dem Beschwerdeführer ist jedoch eine Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif möglich und zumutbar. Die Wohnraum- und Versorgungslage ist in Mazar-e Sharif sehr angespannt. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer jedoch grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache vertraut und wuchs in einem afghanischen Familienverband auf. Der Beschwerdeführer lebte zwar nie in Mazar-e Sharif und verfügt dort auch über keine familiären Anknüpfungspunkte. Angesichts seines sechsjährigen Schulbesuchs, seiner Schreib- und Lesekompetenz, seiner Sprachkenntnisse (Dari), seiner Tätigkeit als Gehilfe in einem Supermarkt, seiner in Österreich gewonnenen Berufserfahrung im Zuge seiner ehrenamtlichen Tätigkeit sowie als Werbemittelverteiler und Essenauslieferer sowie seinem guten Gesundheitszustand und seiner Arbeitsfähigkeit könnte sich der Beschwerdeführer dennoch in Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese zumindest anfänglich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Ihm wäre der Aufbau einer Existenzgrundlage in Mazar-e Sharif möglich. Er ist in der Lage, in Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Er hat weiters die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Es ist daher anzunehmen, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat auch ohne familiäre Anknüpfungspunkte in Mazar-e Sharif in der Lage sein wird, sich notfalls mit Hilfstätigkeiten ein ausreichendes Einkommen zu sichern.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat/ maßgebliche Situation in Afghanistan:

Herat

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA Herat 4.2014). Herat ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Enjil, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kuhna, Obe, Pashtun Zarghun, Zendahjan und die „temporären“ Distrikte Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar, Kozeor), Zawol und Zerko (NSIA 01.06.2020; IEC Herat 2019), die aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 03.07.2015; vgl. PAJ 01.03.2015). Ihre Schaffung wurde vom Präsidenten nach Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, während das Parlament seine Zustimmung (noch) nicht erteilt hat (AAN 16.08.2018). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (NSIA 01.06.2020). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ Herat o.D.).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Herat im Zeitraum 2020-21 auf 2,140.662 Personen, davon 574.276 in der Provinzhauptstadt (NSIA 01.06.2020). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ Herat o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 03.02.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. STDOK 13.06.2019).

Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 05.12.2017, LCA 04.07.2018). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Straßen verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (LCA 04.07.2018), die einen der größten Trockenhäfen Afghanistans beherbergt (KN 11.09.2020). Die Schaffung einer weiteren Zollgrenze zum Iran ist im Distrikt Ghoryan geplant (TN 11.09.2020). Eine Eisenbahnverbindung zwischen der Stadt Herat und dem Iran, die die Grenze an diesem Punkt überqueren wird, ist derzeit im Bau (1TV 28.10.2020, TN 11.09.2020). Über Tötungen und Entführungen auf der Strecke Herat-Islam-Qala wurde berichtet (UNAMA 7.2020, KN 07.07.2020; vgl. PAJ 06.02.2020) sowie über Sprengfallen am Straßenrand (KN 07.07.2020; vgl. PAJ 06.02.2020), auch auf der Ring Road (TN 10.10.2020). Darüber hinaus gibt es Berichte über illegale Zolleinhebungen durch Aufständische sowie Polizeibeamte entlang der Strecke Herat-Kandahar (HOA 12.01.2020, PAJ 04.01.2020; vgl. NYT 01.11.2020). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (STDOK 25.11.2020; cf. Kam Air Herat o.D.).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet sich voneinander. Während einige Distrikte, wie z.B. Shindand, als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, kam es in Herat-Stadt in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte (AAN 21.04.2020; vgl. OA 20.07.2020). Darüber hinaus fanden im Juli und September 2020 (UNAMA 10.2020) sowie Oktober 2019 Angriffe statt, die sich gegen Schiiten richteten (AAN 21.04.2020). Bezüglich krimineller Handlungen wurde beispielsweise über bewaffnete Raubüberfälle und Entführungen berichtet (OA 20.07.2020, AAN 21.04.2020, AN 02.01.2020).

Je weiter man sich von der Stadt Herat (die im Januar 2019 als „sehr sicher“ galt) und ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban (STDOK 13.06.2019). Pushtkoh und Zerko befanden sich im Februar 2020 einem Bericht zufolge vollständig in der Hand der Taliban (AAN 28.02.2020), während die Kontrolle der Regierung in Obe auf das Distriktzentrum beschränkt ist (AAN 08.04.2020, AAN 20.12.2019). In Shindand befindet sich angeblich das „Taliban-Hauptquartier“ von Herat (AAN 20.12.2019). Dem Long War Journal (LWJ) zufolge kontrollierten die Taliban Ende November 2020 jedoch keinen Distrikt von Herat vollständig. Mehrere Distrikte wie Adraskan, Ghoryan, Gulran, Kushk, Kushk-i-Kuhna, Obe und Shindand sind umstritten, während die Distrikte um die Stadt Herat unter der Kontrolle der Regierung stehen (LWJ o.D.; vgl. STDOK 13.06.2019).

Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen (SAS 02.11.2018; vgl. RUSI 16.03.2016). Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab (SAS 02.11.2018). Die Rasoul-Gruppe, die mit der stillschweigenden Unterstützung der afghanischen Regierung operiert hat, kämpft mit Stand Jänner 2020 weiterhin gegen die Hauptfraktion der Taliban in Herat, wenn die Zusammenstöße zwischen den beiden Gruppen laut einer Quelle innerhalb der Rasoul-Fraktion auch nicht mehr so häufig und heftig sind wie in den vergangenen Jahren. Etwa 15 Kämpfer der Gruppe sind Anfang 2020 bei einem Drohnenangriff der USA gemeinsam mit ihrem regionalen Führer getötet worden (SAS 09.01.2020; vgl. UNSC 27.05.2020).

Während ein UN-Bericht einen Angriff in der Nähe einer schiitischen Moschee im Oktober 2019 dem Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISKP) zuschrieb (UNGASC 10.12.2019) und ein Zeitungsartikel vom März 2020 behauptete, dass der ISKP eine Hochburg in der Provinz unterhält (VOA 20.03.2020), gab eine andere Quelle an, dass es unklar sei, ob und welche Art von Präsenz die ISKP in Herat hat. Angriffe gegen schiitische Muslime sind Teil des Modus operandi des ISKP, aber - insbesondere angesichts der Schwäche der Gruppe in Afghanistan - stellt ein Bekenntnis des ISKP zu einem bestimmten Angriff noch keinen vollständigen Beweis dafür dar, dass die Gruppe ihn wirklich begangen hat (AAN 21.04.2020). Ein Bewohner des Distrikts Obe hielt eine ISKP-Präsenz in Herat angesichts der Präsenz der Taliban z.B. im Distrikt Shindand für unwahrscheinlich (AAN 20.12.2019).

Auf Regierungsseite befindet sich Herat im Verantwortungsbereich des 207. Afghan National Army (ANA) „Zafar“ Corps (USDOD 01.07.2020; vgl. ST 02.10.2020), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - West (TAAC-W) untersteht, welche von italienischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 01.07.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung [...]

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020). Im Jahr 2020 wurden mehrere Fälle von zivilen Opfern aufgrund von Luftangriffen gemeldet (UNAMA 10.2020, AAN 24.02.2020, RFE/RL 22.01.2020).

Es kam in mehreren Distrikten der Provinz Herat zu Kämpfen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban sowie zu Angriffen der Taliban auf Regierungseinrichtungen (KP 20.11.2020, NYTM 29.10.2020, PAJ 15.10.2020, NYTM 01.10.2020, KP 05.09.2020, NYTM 28.08.2020, NYTM 05.07.2020, NYTM 30.01.2020). Die Regierungstruppen führten in der Provinz Operationen durch (AN 05.09.2020, AJ 23.07.2020, XI 29.01.2020b, RFE/RL 22.01.2020). Darüber hinaus wurde von Explosionen von Sprengfallen am Straßenrand in verschiedenen Distrikten berichtet (KP 22.11.2020, NYTM 29.10.2020, TN 10.10.2020, NYTM 01.10.2020, NYTM 28.08.2020, TN 05.07.2020, NYTM 30.01.2020).

Vorfälle mit IEDs, wie die Detonation eines an einem Fahrzeug befestigten IEDs (VBIED) (KP 01.11.2020) einer Sprengfalle am Straßenrand (NYTM 28.08.2020) und eines weiteren IEDs passierten auch in der Stadt Herat (GW 10.11.2020; vgl. AAN 27.10.2020). Auch wurden sowohl in den Distrikten als auch der Stadt Herat gezielte Tötungen durchgeführt (NYTM 29.10.2020, NYTM 01.10.2020, NYTM 28.08.2020, NYTM 27.02.2020, NYTM 30.01.2020).

Balkh/Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA Balkh 13.04.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (NSIA 01.06.2020; vgl. IEC Balkh 2019).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif (NSIA 01.06.2020). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) (PAJ Balkh o.D.; vgl. NPS Balkh o.D.) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (AAN 08.07.2020).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.01.2017). Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul (TD 05.12.2017). Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab (OSM o.D.; vgl. TD 05.12.2017). Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan (LCA 04.07.2018).

Entlang des Highway 1 westlich der Stadt Balkh in Richtung der Provinz Jawzjan befindet sich der volatilste Straßenabschnitt in der Provinz Balkh, es kommt dort beinahe täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auch besteht auf diesem Abschnitt in der Nähe der Posten der Regierungstruppen ein erhöhtes Risiko von IEDs - nicht nur entlang des Highway 1, sondern auch auf den Regionalstraßen (STDOK 21.07.2020). In Gegenden mit Talibanpräsenz, wie zum Beispiel in den südlichen Distrikten Zari (AAN 23.05.2020), Kishindeh und Sholgara, ist das Risiko, auf Straßenkontrollen der Taliban zu stoßen, höher (STDOK 21.07.2020; vgl. TN 20.12.2019).

In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (Kam Air Balkh o.D.; BFA Staatendokumentation 25.03.2019).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert (KP 10.02.2020; STDOK 21.07.2020), da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen (KP 10.02.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen (STDOK 21.07.2020). Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten (LWJ o.D.).

Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen (STDOK 21.07.2020). Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften (NYT 16.12.2019; REU 14.03.2019).

Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps (USDOD 01.07.2020; TN 22.04.2018), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 01.07.2020). Das Hauptquartier des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.04.2018). Die meisten Soldaten der deutschen Bundeswehr sind in Camp Marmal stationiert (SP 07.04.2019). Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz (USDOD 01.07.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung [...]

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020). Im Zeitraum 01.01.-30.09.2020 dokumentierte UNAMA 553 zivile Opfer (198 Tote, 355 Verletzte) in der Provinz, was mehr als eine Verdopplung gegenüber derselben Periode im Vorjahr ist (UNAMA 10.2020). Im ersten HalbJahr 2020 war hinsichtlich der Opferzahlen die Zivilbevölkerung in den Provinzen Balkh und Kabul am stärksten vom Konflikt in Afghanistan betroffen (UNAMA 7.2020).

Der UN-Generalsekretär zählte Balkh in seinen quartalsweise erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage in Afghanistan im März und Juni 2020 zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes (UNGASC 17.06.2020; UNGASC 17.03.2020; vgl. LWJ 10.03.2020), und auch im September galt Balkh als eine der Provinzen mit den schwersten Talibanangriffen im Land (BAMF 07.01.2020). Es kam zu direkten Kämpfen (UNOCHA 23.09.2020; AJ 01.05.2020; DH 08.04.2020) und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren (UNOCHA 23.07.2020; REU 01.05.2020; UNOCHA 07.01.2020) oder Sicherheitsposten (NYTM 01.10.2020; NYTM 28.08.2020; AnA 18.03.2020; XI 07.01.2020). Die Regierungskräfte führten Räumungsoperationen durch (AN 25.06.2020; MENAFN 24.03.2020; AA 18.03.2020; XI 25.01.2020).

Ebenso wurde von IED-Explosionen, beispielsweise durch Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 28.08.2020), aber auch an Fahrzeugen befestigten Sprengkörpern (vehicle-borne IEDs, VBIEDs) (TN 25.08.2020; RFE/RL 25.08.2020; vgl. NYTM 28.08.2020) sowie Selbstmordanschlägen berichtet (TN 25.08.2020; RFE/RL 25.08.2020; RFE/RL 19.09.2020). Auch in Mazar-e Sharif kam es wiederholt zu IED-Anschlägen (NYTM 01.10.2020; AN 19.09.2020; TN 01.07.2020; AP 14.01.2020; TN 04.01.2020). Zudem wurde von der Entführung (DH 08.04.2020) und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (NYTM 01.10.2020; DH 08.04.2020).

Covid-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf, folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.09.2020; vgl. WB 28.06.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.09.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.06.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.09.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis ...) um 18 bis 31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.09.2020; vgl. WB 15.07.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.08.2020; vgl. NYT 31.07.2020, IMPACCT 14.08.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.09.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.07.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.09.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.07.2020). Mit Stand 22.09.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.09.2020). [...]


Religionsfreiheit:

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha'i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 10.6.2020). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (USDOS 10.6.2020).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 10.6.2020; vgl. FH 4.3.2020). Ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 10.6.2020). Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 16.7.2020; vgl. USCIRF 4.2020, USDOS 10.6.2020), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (RA KBL 10.6.2020). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 8.11.2017). Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (USDOS 10.6.2020). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020). Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren.

Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 10.6.2020). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 10.6.2020; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 10.6.2020).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hana- fitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Recht zu sprechen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime. Vertreter nicht-muslimischer religiöser Minderheiten, darunter Sikhs und Hindus, berichten über ein Muster der Diskriminierung auf allen Ebenen des Justizsystems (USDOS 10.6.2020).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 10.6.2020).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.3.2020). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 10.6.2020; vgl. FH 4.3.2020). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 10.6.2020).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 10.6.2020). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 10.6.2020).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 10.6.2020).

Apostasie, Blasphemie, Konversion:

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (FH 4.3.2020; vgl AA 16.7.2020, USDOS 10.6.2020).

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen (AA 16.7.2020). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 10.6.2020) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen" verboten ist (MoJ 15.5.2017: Art. 323).

Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie (USDOS 10.6.2020; AA 16.7.2020); jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.6.2020) Die afghanische Regierung scheint kein Interesse daran zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen (LIFOS 21.12.2017; vgl. RA KBL 10.6.2020) - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben (LIFOS 21.12.2017).

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten Vorgehen und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIFOS 21.12.2017).

Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann der Organisation Open Doors zufolge dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden (LIFOS 21.12.2017; vgl. FH 4.3.2020). Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren (LIFOS 21.12.2017). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.3.2020).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (RA KBL 10.6.2020).

2. Beweiswürdigung

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppenzugehörigkeit, zur Abstammung aus der Provinz Farah sowie dem nunmehrigen Aufenthaltsort seiner Angehörigen stützen sich auf die Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren vor dem BFA, in der Beschwerde, sowie in den Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht und auf die Kenntnis und Verwendung der Sprache Dari.

Der Umstand, dass nicht festgestellt werden konnte, wann konkret bzw. wie lang sich der Beschwerdeführer im Iran aufgehalten hat, ergibt sich daraus, dass der Beschwerdeführer dazu keine stringenten Angaben gemacht hat. Dass ein Aufenthalt im Iran stattgefunden hat, wird dem Beschwerdeführer geglaubt, zumal er dies erstens im gesamten Verfahren gleichlautend behauptet hat und auch der Dolmetscher in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht ausführte, dass der Beschwerdeführer eher einen persischen Dialekt mit einer Verfärbung der örtlichen Farah-Sprache spricht.

Der Umstand, dass nicht festgestellt werden konnte, wo der Beschwerdeführer nach den ersten beiden Schuljahren in Afghanistan die Schule besucht hat, ergibt sich aus seinen diesbezüglich dauerhaft widersprüchlichen Angaben. In der Erstbefragung führte der Beschwerdeführer aus, dass er von 01.01.2005 bis 01.01.2011 die Schule in Farah besucht habe. In der Einvernahme vor dem BFA gab er hingegen einerseits an, dass er von 2005 bis 2010 eine afghanische Schule im Iran besucht habe, andererseits, dass er in Afghanistan nur 2 Jahre zur Schule ging. Aufgrund der in der Erstbefragung und in der Einvernahme vor dem BFA übereinstimmenden Angaben zur Dauer des Schulbesuchs war jedoch festzustellen, dass der Beschwerdeführer sechs Jahre lang die Schule besucht hat. Wenn der Beschwerdeführer in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht plötzlich neu ausführte, dass er insgesamt nur zwei Jahre lang die Schule besucht habe, so wandelt er seine Aussage beim BFA, dass er 2 Jahre in Afghanistan die Schule besucht habe und von 2005-2010 in Kerman erneut ab. Diesbezüglich ist darauf zu verweisen, dass gemäß ständiger Judikatur des VwGH die Erstaussage die Vermutung für sich, dass sie der Wahrheit am nächsten kommt. Auch wenn den Angaben in der Erstbefragung kein allzu großes Gewicht zukommt, stimmt seine dort getätigte Angabe zur Dauer des Schulbesuchs mit seiner diesbezüglich später in der Einvernahme vor dem BFA getätigten Angabe überein. Zudem geht der erkennende Richter davon aus, dass der Beschwerdeführer versucht seine Ausbildung zu verschleiern, da er im Protokoll vom 26.02.2021 angab, dass der Vater beschloss die beiden Brüder im Iran wegen Schulbesuchs zu belassen. Der erkennende Richter geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer 6 Jahre eine Schule besuchte.

Die Feststellung zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem von der belangten Behörde eingeholten Gutachten zur Altersfeststellung vom 11.04.2016.

Die Feststellungen zu den absolvierten Kursen, zur Mitgliedschaft im Fußballverein sowie zur gemeinnützigen Tätigkeit ergeben sich aus den vorgelegten Nachweisen/Bestätigungen.

2.2. Zum vorgebrachten Fluchtgrund:

Die Feststellungen zu den Gründen des Beschwerdeführers für das Verlassen seines Heimatstaates stützen sich auf die vom Beschwerdeführer vor dem BFA, in der Beschwerde sowie in den mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht getroffenen Aussagen.

Dem Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er im Herkunftsland von den Taliban bedroht worden sei und er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nach wie vor einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt wäre, kann jedoch nicht gefolgt werden. Dies aus folgenden Erwägungen:

Der Beschwerdeführer tätigte zum Vorfall, bei welchem er von den Taliban mitgenommen und gefangen gehalten worden sei, teilweise vage, widersprüchliche und unstimmige Angaben.

So gab der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem BFA an, dass er nach dem Einschreiben beim Militärstützpunkt am Heimweg von einem Auto verfolgt worden sei. In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab er widersprüchlich dazu an, dass die Verfolger auf Motorrädern unterwegs gewesen seien.

Überdies tätigte der Beschwerdeführer massiv widersprüchliche Angaben hinsichtlich der Anzahl an Personen, welche ihn von zuhause mitgenommen hätten. In der Einvernahme vor dem BFA sprach er von 14 bis 15 Personen, während er in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht angab, dass es sechs bis sieben Personen gewesen seien. Auf entsprechenden Vorhalt dieses Widerspruchs in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht konnte der Beschwerdeführer diesen Widerspruch nicht aufklären, sondern gab er nur unsubstantiiert an, dass er das vor dem BFA nicht so gesagt habe und seine heutige Angabe der Wahrheit entspreche.

Des Weiteren konnte der Beschwerdeführer nicht genau angeben, wie viele Nächte er in Gefangenschaft der Taliban gewesen sei. In der Einvernahme vor dem BFA sprach er davon, dass er am dritten Tag geflüchtet sei. In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab er zunächst an, dass er ein oder zwei Nächte dort gewesen sei; etwas später sprach er wiederum von zwei bis drei Nächten. Es erscheint nicht nachvollziehbar, dass man sich hinsichtlich eines solch einschneidenden Erlebnisses nicht daran erinnern kann, wie viele Nächte man dort verbracht hat.

Auch die Angaben des Beschwerdeführers zur Flucht aus der Gefangenschaft der Taliban waren unstimmig. So führte er in der Einvernahme vor dem BFA aus, dass er nach seiner Flucht eine Stunde zu Fuß gegangen sei, dann in ein Dorf gekommen sei und an drei Türen geklopft habe. Erst bei der dritten Tür sei ihm geöffnet worden. In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sagte er hingegen aus, dass er nach der Flucht ca. zwei bis drei Stunden durchgelaufen sei und dann in einen sogenannten „Wald“ gekommen sei, wo es zwei oder drei Häuser gegeben habe. Er sei zu einer Tür gegangen, habe angeklopft und ein Herr habe ihm geöffnet. Dass erst bei der dritten Türe jemand geöffnet habe, erwähnte er nicht mehr.

Abschließend ist zu bemerken, dass der Beschwerdeführer auch zu seiner endgültigen Flucht aus Afghanistan unstimmig war. So gab er in der Verhandlung zunächst an, dass er Schafe verkauft habe um seine Reise zu finanzieren. Etwas später führte er hingegen aus, dass seine Mutter sich von Nachbarn bzw. Verwandten Geld geliehen habe um die Ausreise des Beschwerdeführers zu finanzieren und gab er schließlich an, dass er nicht wisse, ob Schafe verkauft worden seien, weil darum habe sich seine Mutter gekümmert.

Aufgrund der widersprüchlichen und unstimmigen Angaben ist das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner Furcht vor Verfolgung durch die Taliban nicht glaubhaft.

Das in der Beschwerde angeführte Element, wonach der Onkel des Beschwerdeführers für die Regierung gearbeitet habe und deshalb ermordet worden sei, steht den Angaben des Beschwerdeführers in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 26.02.2021 zufolge in keinem Zusammenhang mit seinem eigenen Fluchtgrund.

In einer Gesamtschau konnte der Beschwerdeführer eine ihm im Falle der Rückkehr nach Afghanistan drohende Verfolgungsgefahr durch die Taliban nicht glaubhaft machen.

Zum behaupteten Abfall vom Islam und zur Konversion zum Christentum ist beweiswürdigend wie folgt auszuführen:

Vorweg ist festzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer sowohl in der Erstbefragung als auch in der Einvernahme vor dem BFA explizit als Sunnite bezeichnete. Ausführungen, wonach er diesen Glauben nicht mehr ausüben, ihn zumindest kritisch hinterfragen würde oder sich für einen anderen Glauben interessiere, traf der Beschwerdeführer nicht.

Die Ausführungen des Beschwerdeführers dahingehend, was ihn dazu bewegt habe, sich vom Islam ab- und dem Christentum zuzuwenden, bleiben sehr allgemein gehalten und nannte er kein Schlüsselerlebnis, welches Ausgangspunkt für seine Hinwendung zum Christentum gewesen sein sollte. Zum Unterschied zwischen dem Christentum und dem Islam befragt, gab der Beschwerdeführer eine ausweichende Antwort und führte lediglich unsubstantiiert aus, dass er nicht an den Islam glaube und er, seit er Christ sei, Ruhe gefunden und keine Angst um seine Zukunft habe. Bei der Aussage des Beschwerdeführers, dass das Christentum der einzige Weg sei, nahe zu Gott zu kommen, handelt es sich um eine hohle Redewendung, mit welcher der Beschwerdeführer keinen Bezug konkret zu seiner Person herzustellen vermochte und er konnte auch nicht näher erklären, was dies für ihn bzw. seinen christlichen Alltag bedeutet. Auch dazu, was ihm am Islam missfalle, blieb es im Wesentlichen bei allgemein gehaltenen Floskeln dahingehend, dass sein voriges Leben viel mit Dunkelheit zu tun gehabt habe und er nunmehr frei und ohne Gewalt und ohne Kriege leben könne. Nachgefragt, worin er das christliche Elemente sehe, wenn er sage, dass er hier frei und zwanglos leben könne, blieb er wiederum allgemein und vage.

Auch wenn kein Detailwissen zum Christentum vorausgesetzt wird, so ist dennoch beim Beschwerdeführer auffällig, dass er teilweise sehr grundlegende Fragen nicht beantworten konnte, was insbesondere erstaunlich erscheint, zumal der Beschwerdeführer bereits seit Mai 2019 getauft ist. Nach kirchlichen Feiertagen befragt, fragte er zunächst nach: „Was meinen Sie?“ und gab schließlich an: „Ich kenne Samstag und Sonntag ist Feiertag, dann gehe ich in die Kirche.“ Auf erneute Nachfrage konnte er schließlich nur wenige Feiertage nennen. Befragt, welcher Feiertag am wichtigsten für ihn sei, gab er zunächst unsubstantiiert an, dass er alle möge, gab dann schließlich an, dass er Pfingsten lieber möge als die anderen Feste, konnte aber nicht konkret angeben, warum er diesen Feiertag so gerne möge, sondern blieb er erneut bei allgemeinen Phrasen. Näher zur Kreuzigung befragt, inwiefern die Kreuzigung mit den Sünden der Menschen zusammenhängt, führte der Beschwerdeführer schließlich aus, dass er sich noch nicht so lange mit dem Christentum beschäftige und daher noch nicht alles wisse. Es ist allerdings festzuhalten, dass Personen, die sich ernsthaft mit einem Glaubenswechsel auseinandersetzen, zumindest die wesentlichen und grundlegendsten Züge der neuen Religion erläutern können müssen, was beim Beschwerdeführer allerdings nicht

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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