Entscheidungsdatum
19.03.2021Norm
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1Spruch
W242 2191793-1/44E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HEUMAYR als Einzelrichter über die Beschwerde des Herrn XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Dr. XXXX LL.M., Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.03.2021 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
II. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.
III. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (nachfolgend als „BF“ bezeichnet) ist afghanischer Staatsangehöriger und reiste als Volljähriger unrechtmäßig und schlepperunterstützt in Umgehung der Grenzkontrollen nach Europa ein und stellte am 9.6.2015 im Bundesgebiet den Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF legte dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: entweder „BFA“ oder „belangte Behörde“) folgende Unterlagen vor:
? WIFI Anmeldebestätigung für Deutschkurs A2
? ÖSD Zertifikat A1 „bestanden“
? Empfehlungsschreiben der Mag. XXXX , Pfarrgemeinderätin der Pfarrgemeinde XXXX vom 28.9.2017, wonach der BF hilfsbereit und freundlich ist und in der Pfarre bei verschiedenen Festen im Einsatz und bemüht sei um Integration und Engagement
? Bestätigung des Gemeindeamtes XXXX über gemeinnützige Arbeiten im Bereich der Ortspflege, 2.10.2017
? Erklärung über Austritt aus der Religionsgemeinschaft, verfasst von der Bezirkshauptmannschaft XXXX an die Islamische Glaubensgemeinschaft in XXXX Wien, XXXX vom 3.10.2017, worin mitgeteilt wird, dass der BF „mit der am 3. Oktober 2017 bei der Bezirkshauptmannschaft XXXX eingelangten Erklärung den Austritt aus der römisch-katholischen Kirche angezeigt hat“
? Bestätigung des Austritts aus der Religionsgemeinschaft gemäß Art 6 es Interkonfessionellen Gesetzes vom 25.5.1868, RGBl. Nr. 49, und der Verordnung vom 18.1.1869, RGBl. Nr. 13, verfasst von der Bezirkshauptmannschaft XXXX an den BF vom 3.10.2017, wonach der BF „mit der am 3. Oktober 2017 bei der Bezirkshauptmannschaft XXXX eingelangten Erklärung den Austritt aus der römisch-katholischen Kirche angezeigt hat“
? Kopie einer Tazkira (übersetzt durch einen vom BFA beigezogenen Dolmetsch)
Die Polizeiinspektion XXXX informierte das BFA im Jänner 2017, dass der BF des Vergehens der Begünstigung (§ 299 StGB) verdächtigt wurde und trat das BFA daher mit Note vom 22.2.2018 die Staatsanwaltschaft XXXX zum Zwecke der Bekanntgabe des Verfahrensstandes heran.
Mit Erledigung vom 26.2.2018, XXXX , informierte das Landesgericht XXXX die belangte Behörde, dass das Verfahren wegen § 299 Abs. 1 StGB gegen den BF unter Setzung einer Probezeit von einem Jahr vorläufig eingestellt wurde (Diversion).
Nach Erstbefragung am 10.5.2015 und Einvernahme vor dem BFA am 3.10.2017 wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom XXXX der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen.
Gegen diesen ordnungsgemäß zugestellten Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde mit Schriftsatz seines damaligen Rechtsvertreters Rechtsanwalt Dr. XXXX vom 30.3.2018 und ist das Beschwerdeverfahren seit 9.4.2018 beim Bundesverwaltungsgericht anhängig. Der Beschwerde war ein Schreiben der Bezirkshauptmannschaft XXXX vom 29.3.2018 angeschlossen, womit die „Erklärung“ (datiert 3.10.2017) und die „Bestätigung“ (datiert 3.10.2017), welche von der Bezirkshauptmannschaft XXXX innerhalb des ihr zugewiesenen Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form auf Papier errichtet wurden, auf „Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft“ und Geburtsort von „ XXXX “ auf „ XXXX “ geändert wurden.
Vor der belangten Behörde wurde der BF im Rahmen des Parteigehörs mit Erledigung vom 18.10.2018 darüber in Kenntnis gesetzt, dass aufgrund der Verurteilung des Landesgerichtes XXXX vom 5.10.2018, Zahl: XXXX , wegen Vergehen nach dem Suchtmittelgesetz (Freiheitsstrafe von sechs Monaten, unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen) beabsichtigt ist, gegen den BF eine Rückkehrentscheidung nach Afghanistan iVm einem Einreiseverbot iVm der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde zu erlassen, nachdem bei dem BF nunmehr die Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbots festgestellt wurden.
Um den Sachverhalt im Lichte seiner persönlichen Verhältnisse beurteilen zu können, wurde der BF zur Beantwortung von insgesamt 25 Fragen zu seinen persönlichen Lebensumständen und dem Gesundheitszustand, seinem familiären Hintergrund, seiner finanziellen Situation und zu allfällig gesetzten Integrationsbemühungen aufgefordert. Für die Äußerung wurde ihm eine Frist von sieben Tagen eingeräumt und wurde darauf hingewiesen, dass für den Fall, dass er die Frage nach seinem Gesundheitszustand nicht beantwortet bzw. nicht mit allenfalls vorhandenen Bescheinigungsmitteln unterlegt, das BFA davon ausgehe, dass er nicht an einer schwerwiegenden, lebensbedrohenden physischen oder psychischen Erkrankung oder sonstigen Beeinträchtigung leidet und für den Fall, dass er die Fragen zu seinem familiären Hintergrund und zu allfälligem Aufenthaltstitel in einem anderen europäischen Land nicht beantwortet bzw. nicht mit allenfalls vorhandenen Bescheinigungsmitteln unterlegt, das BFA davon ausgeht, dass die Tatsachen, welche aus den gestellten Fragen resultieren sollten, nicht gegeben sind.
Mit Schriftsatz seines Rechtsvertreters vom 30.10.2018 – eingelangt am 2.11.2018 – gab der BF eine Stellungnahme zu den Fragen der belangten Behörde ab.
Das BFA erließ daraufhin den Bescheid vom 13.11.2018, XXXX , womit der Bescheid vom XXXX gemäß § 68 Abs. 2 AVG abgeändert wurde. In dessen Spruchpunkt I. wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG ausgesprochen und in Spruchpunkt II. wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Es wurde ausgesprochen, dass der BF gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 23.8.2018 verloren habe (Spruchpunkt III.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde mit diesem Bescheid ein auf fünf Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.) und einer Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise, so der Bescheid im Spruchpunkt VI..
Begründend wurde in dem Bescheid vom 13.11.2018 ausgeführt, dass der BF mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 5.10.2018, XXXX , wegen Vergehen nach dem SMG zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten – unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen – für schuldig erkannt wurde.
Gegen diesen ordnungsgemäß zugestellten Bescheid erhob der BF vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und beantragte, den angefochtenen Bescheid ersatzlos aufzuheben, in eventu die ausgesprochene Rückkehrentscheidung aufzuheben, die Abschiebung für unzulässig zu erklären, das erlassene Einreiseverbot zur Gänze zu beheben, in eventu die Dauer des Einreiseverbots auf ein verhältnismäßiges Ausmaß zu reduzieren.
Begründend wurde – zusammengefasst – ausgeführt, dass dem Wortlaut des § 68 Abs. 2 AVG nach Bescheide „aus denen niemandem ein Recht erwachsen ist“ von Amts wegen aufgehoben oder abgeändert werden können. Der VwGH vertrete in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass es bei der Abänderungsbefugnis nicht auf die Art des Bescheides – ob begünstigend, ob belastend – ankomme, sondern ausschließlich auf die Art, auf die Richtung der Abänderung. Eine belastende Abänderung von Amts wegen, durch welche die Rechtslage für die Partei ungünstiger gestaltet wird, sei nach § 68 Abs. 2 AVG sowohl bei belastenden als auch bei begünstigenden Bescheiden unzulässig. Die ‚nachträgliche Erlassung eines Einreiseverbots nach § 68 Abs. 2 AVG‘ sei unzulässig, da nicht begünstigend.
Unter Hinweis auf VwGH 16.11.2015, Ra 2015/12/0029-6, wurde ausgeführt, dass der eingebrachten Beschwerde aufschiebende Wirkung gemäß § 13 Abs. 1 VwGVG zugekommen sei, sodass sich der Spruchpunkt V als inhaltlich rechtswidrig erweise und dieser daher aufzuheben sei.
Es wurde weiters moniert, dass die belangte Behörde in der Begründung der bekämpften Entscheidung überhaupt nicht dargelegt habe, inwiefern aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls eine (besondere) ‚Schwere des Fehlverhaltens‘ seinerseits anzunehmen gewesen wäre und habe die Behörde die Umstände, die einer Beurteilung des Gesamtverhaltens des BF zugrunde gelegen wären, nicht hinreichend dargelegt. Das Einreiseverbot beziehe sich einzig auf die Verurteilung, ohne einzelfallbezogen darzutun, wie die Behörde zu der Schlussfolgerung gelange, dass gegen den BF ein Einreiseverbot von fünf Jahren zu verhängen sei. Es gehe von ihm keine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit aus. Er habe das Unrecht der Tat, wegen welcher er verurteilt wurde, eingesehen und sei festentschlossen sich künftig rechtskonform zu verhalten, sodass ein fünfjährig befristetes Einreiseverbot in das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten unverhältnismäßig hoch bemessen sei. Aus diesem Grunde werde auch um die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nach § 18 Abs. 5 BFA-VG ersucht.
Die belangte Behörde legte den bezughabenden Akt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor und langte dieser am 14.12.2018 ein. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.12.2018, XXXX , wurde der Beschwerde stattgegeben und der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit ersatzlos behoben, sodass der ursprüngliche Bescheid vom XXXX wiederhergestellt war. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zugelassen.
Die belangte Behörde BFA brachte hiergegen die außerordentliche Amtsrevision ein und wurde diese mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.6.2019, XXXX , als unbegründet abgewiesen, da die Rechtsstellung des BF nicht hätte verschlechtert werden dürfen, sodass amtswegige Aufhebung des Bescheids vom XXXX durch den Bescheid vom 13.11.2018 nicht hätte erfolgen dürfen und daher die ersatzlose Behebung des Bescheids vom 13.11.2018 durch das Bundesverwaltungsgericht zu Recht erfolgte.
Am 18.9.2019 wurde die öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführt, wo die erkennende Richterin den BF unter anderem aufforderte, seinen Facebook-Account am Mobiltelefon vorzuweisen und wurden vom Facebook-Account „ XXXX “ mit den Angaben „wohnt in XXXX , von 35 Personen abonniert“ vier Lichtbilder angefertigt, welche als Beilage ./E zum Verhandlungsprotokoll genommen wurden. Unter anderem folgt der BF mit seinem Facebook-Account der Facebook-Gruppe „ XXXX – Paradise on earth“.
Der BF legte dem Gericht folgende Beweismittel vor:
? Dokument „Katechumenat_7. Sitzung“ mit dem Text des „Vater Unser“ samt Erläuterungen des Inhalts des Gebetes, Lückentext über vier Zeilen mit fünf Wortvorschlägen zum Ergänzen des Lückentextes über das Gleichnis vom barmherzigen Vater aus Lukus 15, 11-32
? Dokument „Pfarre_Katechumenat_11. Sitzung_Ali“ mit dem Text des „Apostolischen Glaubensbekenntnisses“ samt Erläuterungen des Inhalts des Gebetes
? Dokument „Katechumenat_27. Sitzung“ über das Thema „Fastenzeit“
? Dokument „Katechumenat 2019_9. Sitzung“ über das Thema „Pfingsten“
? Dokument „Katechumenat_8. Sitzung“ über „Wiederholung der Dreifaltigkeit“
? Dokument „Katechumenat_10. Sitzung“ über das Thema „Gottesdienst“ samt Bildern und Vokabeln
? Dokument „Entstehung der Bibel“
? Dokument „Katechumenat 2019_8. Sitzung_Ali“ über das Thema „Christi Himmelfahrt“
? Dokument „Pfarre_Katechumenat_6. Sitzung“ über die Offenbarung von Gott im Alten Testament und im Neuen Testament
? Dokument „Das Kreuzzeichen“
? Dokument „Karwoche oder die Große Heilige Woche“
? Dokument Lückentext „Die Entstehung der Bibel“
? Dokument „Katechumenat_1. Sitzung“ über das Thema „Gegenstände im Kirchenraum“
13. Der BF wies der erkennenden Richterin auf seinem Mobiltelefon SAMSUNG eine Textnachricht vom „Dienstag, 17. September 2017, 7.14 nachm.“ von der Telefonnummer XXXX – eingespeichert unter „F“ – vor. Textinhalt:
„Lieber Ali ich kann morgen leider nicht mitfahren. Du kannst ihnen gerne meine Telefonnummer geben. Sie können mich anrufen. Ich denke an dich, an euch. Pfarrer XXXX “.
Der BF trug seine Fluchtgründe vor und dass er in Österreich verlegt worden sei, da er immer Schweinefleisch gekocht habe.
Mit Erledigung vom 9.10.2019 wurde die verantwortliche Bezirkskoordinatorin des Roten Kreuzes – welche laut BFA mit den Verlegungsgründen des BF vertraut ist – zum Zwecke der Bekanntgabe des Verlegungsgrundes des BF kontaktiert. Mit Schreiben vom 22.10.2019 informierte das Rote Kreuz, Bezirksstelle XXXX , XXXX , dass der BF im Jänner 2017 wegen des Gefühls gemobbt zu werden, um Verlegung ersuchte. Bereits in Gesprächen vorher habe er erzählt, dass er zum Christentum konvertiert sei und seit diesem Zeitpunkt auch Schweinefleisch esse. Aus einem Auszug der Unterkunftsgesamtdokumentation wurde festgehalten, dass der BF unbedingt einen Quartierwechsel wolle, da er der einzige Christ im Haus sei, da er Schweinefleisch koche und da er schnarche und mit seinem Schnarchen nicht die anderen Mitbewohner stören wolle. Laut Auskunft der Frau XXXX wurde der Quartierwechsel per 1.2.2017 genehmigt und durchgeführt.
Am 14.10.2019 langte ein Schreiben des Pfarrers XXXX vom 21.9.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Darin wird mitgeteilt, dass der Gefertigte den BF bereits seit 2017 kenne und von dieser Zeit an dieser jeden Sonntag den 8-Uhr-Gottesdienst besuche und bei Herrn XXXX sitze, welcher ein guter Begleiter für den BF sei. Der BF habe schon öfter die Bitte geäußert, Christ zu werden. Von früheren Taufbewerbern seiner Pfarre wisse der Gefertigte, dass es für Täuflinge, besonders bei Migrationshintergrund, einer intensiven Vorbereitungszeit bedürfe (mindestens ein Jahr Katechumenat). Am 7.4.2019 sei der BF in das Katechumenat aufgenommen worden und werde von der Religionsprofessorin des BORG XXXX auf die Taufe vorbereitet. Laut Kirchenrecht gehöre ein Taufbewerber bereits zur Kirchengemeinschaft und bestätige die Religionsprofessorin des BORG XXXX , dass der BF mit Eifer und großem Interesse bei der Sache sei.
Mit Erkenntnis des BVwG vom 15.5.2020, GZ XXXX , wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen und die Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.
Nach Beschwerdeerhebung hob der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 21.9.2020, E XXXX , das Erkenntnis des BVwG vom 15.5.2020 betreffend die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, den Ausspruch, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist und die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise auf. Die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wurde abgelehnt. Damit ist die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II., III., IV., V. und VI. des Bescheides des BFA vom XXXX beim BVwG neuerlich anhängig.
Mit Schreiben vom 17.11.2020 – eingelangt am 18.11.2020 – gab der Rechtsvertreter des BF bekannt, dass der BF den Rechtsvertreter mit seiner weiteren Vertretung in seinem Verfahren vor dem BVwG bevollmächtigt und beauftragt hat.
Die Beschwerdesache wurde in weiterer Folge der Gerichtsabteilung XXXX zugewiesen. Mit Verfahrensanordnung vom 01.02.2021 räumte das BVwG dem BF und der belangten Behörde erneut Parteiengehör im Ermittlungsverfahren ein. Aufgrund der zwischenzeitlichen Gesamtaktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (sowie der COVID-19 Pandemie) wurden dem BF und der belangten Behörde die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme zur Lage im Herkunftsland eingeräumt.
Mit Schriftsatz vom 19.02.2021 - eingelangt am 23.2.2021 - erfolgte eine Stellungnahme durch den bevollmächtigten Vertreter des BF.
Am 01.03.2021 wurde eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit eines Dolmetschers sowie der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers durchgeführt und dieser zu seinen familiären Verhältnissen seinem Leben im Bundesgebiet einvernommen.
II. Sachverhalt:
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:
Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX .
Der BF reiste in Umgehung der Grenzkontrollen unrechtmäßig schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein. Die Identität steht nicht fest.
Der BF stellte in Österreich im Juni 2015 den Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF ist Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan aus der Volksgruppe der Tadschiken. Der Geburtsort des BF ist XXXX . Der BF wurde in einem von islamischen Werten geprägten familiären Umfeld sozialisiert. Die Herkunftsprovinz der Familie des BF ist XXXX .
Der BF spricht Dari. In Österreich erwarb er Deutschkenntnisse. Der BF erlangte vor seiner Einreise keine Schulbildung.
Im österreichischen Strafregister scheint eine Verurteilung des BF auf.
Der BF ist gesund. Er ist arbeitswillig, erwerbsfähig und bei Rückkehr nach Afghanistan ein Mann ohne Sorgepflichten. Der BF ist alleinstehend.
Der BF bestreitet den Lebensunterhalt in Österreich durch die staatliche Grundversorgung.
Der BF verfügt über keine Familienangehörige im Bundesgebiet.
Zur Rückkehrmöglichkeit nach Afghanistan
Der BF ist in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt. Gründe, die eine Verfolgung oder sonstige Gefährdung des BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom BF nicht glaubhaft gemacht.
Dem BF würde im Falle einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz seiner Eltern eine Gefahr im Sinne des Art. 2 oder 3 EMRK drohen. Der Beschwerdeführer kann nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile, wie insbesondere die Städte Herat oder Mazar-e-Sharif verwiesen werden. Dem Beschwerdeführer wäre es im Fall einer Niederlassung in Herat oder Mazar-e Sharif nicht möglich, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen. Im Fall einer Ansiedlung liefe er Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.
Zur Lage im Herkunftsstaat
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 16.12.2020 (auszugsweise wiedergegeben):
„[...]
3 COVID-19
Letzte Änderung: 14.12.2020
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf, folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.09.2020; vgl. WB 28.06.2020).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.09.2020).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.06.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.09.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis ...) um 18 bis 31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.09.2020; vgl. WB 15.07.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.09.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.09.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.08.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 01.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.08.2020; vgl. NYT 31.07.2020, IMPACCT 14.08.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.09.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.07.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.09.2020).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.07.2020). Mit Stand 22.09.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.09.2020). [...]
4 Politische Lage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 06.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.02.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.02.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.03.2020; vgl. Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt, um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.07.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.03.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, AA 01.10.2020).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa 4 Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.03.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).
Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Nach monatelangem erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.02.2020; vgl. FH 04.03.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.07.2020), und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.07.2020; vgl. NZZ 20.04.2020, DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.07.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.06.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004; USDOS 20.06.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.07.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.07.2020; vgl. DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.07.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020; REU 06.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida, keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.02.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 06.10.2020; vgl. AJ 05.10.2020, BBC 22.09.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 05.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.09.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 06.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.09.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 05.10.2020). [...]
5 Sicherheitslage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).
Für den Berichtszeitraum 01.01.2020 - 30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.07.2020).
Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonalen Trends gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.03.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.01.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020). [...]
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuss (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).
Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.07.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 01.07.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.03.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).
Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (TN 26.03.2020 vgl.; BBC 25.03.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020, USDOD 6.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019), und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020).
Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.05.2020, AnA 28.07.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Ha