TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/19 W192 2212516-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.03.2021
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Entscheidungsdatum

19.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch


W192 2212507-1/32E

W192 2212508-1/26E

W192 2212505-1/21E

W192 2212516-1/13E

W192 2212513-1/13E

W192 2212509-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) mj. XXXX , geb. XXXX . 5.) mj. XXXX , geb. XXXX , 6.) mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.12.2018, Zahlen 1.) 1105469405/160236335, 2.) 1105468800/160236195, 3.) 1105522709/160235890, 4.) 1105463401/160236390, 5.) 1105463706/160236535, 6.) 1153251608/170604205 zu Recht:

A) Die Beschwerden werden gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z. 3, 57 AsylG 2005 i. d. g. F., § 9 BFA-VG i. d. g. F. und §§ 52, 55 FPG i. d. g. F. als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Erstbeschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Zweitbeschwerdeführerin und ihren zwei minderjährigen Kindern, darunter die Fünftbeschwerdeführerin sowie mit zwei Brüdern des Erstbeschwerdeführers, dem Drittbeschwerdeführer und dem Viertbeschwerdeführer, am 15.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Für den später als weiteres Kind der Eheleute in Österreich geborenen Sechstbeschwerdeführer wurde am 19.05.2017 ein Antrag auf Gewährung desselben Schutzes gestellt.

Bei der Erstbefragung am 15.02.2016 gaben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin übereinstimmend an, dass sie verheiratet seien, der Volksgruppe der Hazara angehören und dem Islam der schiitischen Ausrichtung angehören. Die Beschwerdeführer hätten sich zuletzt drei Jahre lang im Iran aufgehalten und seien über die Türkei und weitere Länder nach Österreich gelangt. Der Erstbeschwerdeführer habe seinen Reisepass in der Türkei verloren und die Reise durch einen Schlepper organisiert.

Zum Fluchtgrund brachte der Erstbeschwerdeführer vor, dass er in Afghanistan Automechaniker gewesen sei. Eines Tages habe sich in einem zu reparierenden Fahrzeug eine Waffe gefunden, welche jedoch nicht dem Erstbeschwerdeführer gehört habe. Er sei dann kontrolliert und die Waffe sichergestellt worden. An einem anderen Tag sei er von einer Gruppe Männer aufgesucht und bedroht worden, warum er den Hinweis der Polizei mitgeteilt hätte. Darauf habe er das Land verlassen und sei in den Iran gereist, wo er drei Jahre lang illegal gelebt habe. Seine Kinder hätten nicht die Schule besuchen dürfen und er hätte Angst gehabt, dass er wieder abgeschoben werde. Im Falle einer Rückkehr hätte er Angst vor den genannten Männern.

Die Zweitbeschwerdeführerin brachte zum Fluchtgrund vor, dass man in Afghanistan in einem zu reparierenden Fahrzeug eine Bombe und eine Waffe gefunden habe. Personen hätten den Erstbeschwerdeführer beschuldigt, dass er die Polizei informiert habe und er sei deshalb bedroht worden. Daraufhin habe die Familie Afghanistan verlassen und illegal im Iran gelebt, wo sie Angst vor einer Abschiebung gehabt hätten. Im Falle einer Rückkehr befürchtet sie, dass ihr Mann getötet werde.

Mit Beschluss des zuständigen Bezirksgerichts vom 11.06.2018 wurde die Obsorge für den damals minderjährigen Drittbeschwerdeführer und den minderjährigen Viertbeschwerdeführer auf den Erstbeschwerdeführer übertragen.

Im entsprechenden Pflegschaftsverfahren gab der Erstbeschwerdeführer an, dass seine Eltern Anfang des Jahres 2016 beim gemeinsamen Versuch, die Grenze vom Iran in die Türkei zu überschreiten, von der Polizei gefasst worden seien. Er stehe im regelmäßigen telefonischen Kontakt mit den Eltern, mit denen er etwa einmal in der Woche sprechen könne. Diese seien einverstanden, dass er die Obsorge für seine minderjährigen Brüder übernehme.

Am 03.07.2018 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführer. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer an, dass er aus Afghanistan stamme, aber im zweiten Lebensjahr mit den Eltern in den Iran gezogen sei, wo er etwa 25 Jahre gelebt habe. Er habe dann knapp vier Jahre in Afghanistan gelebt, zwei Jahre davon der Stadt Herat. Er habe mit seiner Familie dann mehr als ein Jahr in Helmand gelebt und sei dann wieder nach Herat gezogen. Danach seien sie für zwei Jahre in den Iran und anschließend nach Europa gegangen. Der Erstbeschwerdeführer habe in Afghanistan als Auto-Spengler gearbeitet. Der Erstbeschwerdeführer habe keine näheren Verwandten in Afghanistan. Zu seinen Eltern und Brüdern im Iran habe er Kontakte über Internet. Der Erstbeschwerdeführer habe im Iran in einer Erwachsenenschule Lesen und Schreiben gelernt und seit frühester Jugend seinem Vater in der Werkstatt geholfen. Nach der Rückkehr nach Afghanistan habe die Familie in Herat ein Grundstück gekauft und ein Haus gebaut, das sein Vater später verkaufen habe lassen. In Helmand habe die Familie ein Haus gemietet.

Der Erstbeschwerdeführer habe im Iran mit der Zweitbeschwerdeführerin standesamtlich und traditionell die Ehe geschlossen. Der Erstbeschwerdeführer habe 2014 von Herat aus mit seinen Eltern, seiner Ehefrau und zwei Töchtern Afghanistan verlassen.

Zu den Gründen für die Stellung des Asylantrags brachte er vor, dass er nach dem Umzug aus dem Iran nach Afghanistan in Herat ein Grundstück gekauft und ein Haus zu bauen begonnen sowie eine Auto-Spengler-Werkstätte eröffnet habe. Seine Familie habe die Tante seiner Frau und deren Familie, die in Helmand lebe, kennengelernt und von dieser gehört, dass in Helmand bessere wirtschaftliche Möglichkeiten bestehen und ein Cousin Freunde habe, die Autos importieren. Die Familie sei der Empfehlung zum Umziehen gefolgt. Nach einigen Monaten in Helmand sei der Erstbeschwerdeführer eines Tages von der Arbeit heimgekommen und habe im Hof seine ältere Tochter – deren Beschwerdeverfahren bei der Gerichtabteilung W 175 anhängig ist - gesehen, die rote Spuren auf der Wange gehabt hätte. Diese habe angegeben, dass sie vom Cousin der Zweitbeschwerdeführerin geschlagen worden sei, was von der Zweitbeschwerdeführerin bestätigt worden sei. Der Erstbeschwerdeführer habe den genannten Cousin aufgesucht und zur Rede gestellt und dieser habe ihm vorgeworfen, dass die Tochter keine islamische Kleidung, insbesondere kein Kopftuch getragen habe, als sie auf der Straße gewesen sei. Weiters habe der Cousin gemeint, dass die damals fünf oder sechs Jahre alte Tochter im Alter von neun Jahren verheiratet werden müsse. Es sei ein Streit entstanden und der Erstbeschwerdeführer habe das Haus des Cousins verlassen. Am gleichen Tag sei der Cousin abends zur Familie des Erstbeschwerdeführers gekommen und habe ihm erklären wollen, dass diesem Land Mädchen kaum auf die Straße gehen dürften und schon gar nicht ohne Kopftuch. Es sei unter Beteiligung des ebenfalls anwesenden Bruders des Cousins zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung gekommen und der Cousin habe den Erstbeschwerdeführer mit einer Schusswaffe bedroht, er würde dem Beschwerdeführer erschießen, wenn er die Taliban beleidige. Der Cousin arbeite mit Taliban eng zusammen. Die Zweitbeschwerdeführerin sei dazwischengetreten und sei im Zuge der Auseinandersetzung niedergestoßen worden. Der Erstbeschwerdeführer habe den Cousin mit einem Messer am Bein verletzt. Seine Eltern hätten beide durch Schreien aus dem Haus gejagt. Die beim Vorfall verletzte Zweitbeschwerdeführerin habe im Spital ihr Kind verloren.

Am nächsten Tag habe der Erstbeschwerdeführer dem Vater des Cousins die Waffe zurückgebracht und dieser habe zu einer Versöhnung aufgefordert. In einer Moschee des Viertels sei es zur Versöhnung gekommen und der Cousin habe gesagt, dass er kein Problem mehr mit der Familie des Erstbeschwerdeführers habe. Ab diesem Tag sei die Familie des Erstbeschwerdeführers ständig von Menschen auf Motorrädern, die zu seiner Werkstatt oder zu seinem Haus gekommen seien, belästigt worden, weil er sich mit dem Cousin gestritten und ihn verletzt habe. Er sei deshalb zu diesem Cousin gegangen, der gesagt habe, dass das Land in der Hand der Taliban sei, was er ihm schon einmal gesagt habe. Der Beschwerdeführer habe das Problem dem Mullah erklärt und man habe mit dem Cousin gesprochen. Dieser habe gemeint, eine Lösung sei, dass der Erstbeschwerdeführer seine ältere Tochter dem Sohn des Cousins versprechen würde.

Der Erstbeschwerdeführer habe über den Cousin recherchiert und sei darauf gekommen, dass dieser selbst den Taliban angehöre. Der Erstbeschwerdeführer sei mit seiner Familie von Helmand weggezogen und wieder nach Herat gegangen. Es habe nicht lange gedauert bis sie auch dort von Leuten belästigt worden seien. Es seien dieselben Leute aus Helmand gewesen, die immer wieder die gleiche Aussage getätigt hätten, dass der Erstbeschwerdeführer sich nicht vor dem genannten Cousin verstecken könne. Im Falle einer Rückkehr habe der Erstbeschwerdeführer Angst vor den Taliban, weil der genannte Cousin ein Talib sei. Auf die Frage nach seiner Funktion bei den Taliban führte aus, dass man nichts Besonderes machen müsse, es reiche, wenn man die Taliban immer nach Hause einlade und versorge, man gehöre dazu und habe Schutz.

Der Erstbeschwerdeführer bezeichnete sein Vorbringen auf Nachfrage als vollständig und tätigte keinerlei Angaben über die in der Erstbefragung behauptete Bedrohung wegen des angeblichen Waffenfundes.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab bei der Einvernahme am selben Tag zunächst an, dass sie nicht wolle, dass ihre Kinder einvernommen werden.

Die Zweitbeschwerdeführerin sei eine im Iran geborene Angehörige der tadschikischen Volksgruppe und Muslimin schiitischer Ausrichtung. Sie habe dort ihren Ehemann, den Erstbeschwerdeführer, geheiratet. Sie sei mit ihrer Familie 2010 nach Herat gekommen und dort bis 2014 geblieben. Dazwischen seien sie weniger als zwei Jahre in Helmand gewesen. Zum Alltagsleben in Afghanistan gab sie an, dass sie gut mit der Familie ihres Mannes gelebt habe. Sie sei Hausfrau gewesen, habe keinen Beruf ausgeübt und habe die Arbeit mit Ihrer Schwiegermutter geteilt. Sie seien zum Spazierengehen ausgegangen, etwa mit den Brüdern des Erstbeschwerdeführers. In Helmand habe sie so gelebt wie in Herat, habe dort aber eine Burka zum Ausgehen tragen müssen, während in Herat ein Tschador gereicht habe. Die Eltern und ein Bruder der Zweitbeschwerdeführer würden im Iran, ein weiterer Bruder seit acht Jahren in Österreich und ein Bruder in Deutschland leben.

Zu den Fluchtgründen brachte sie vor, dass es sich um Probleme des Erstbeschwerdeführers handle. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie eine Bedrohung durch ihren Cousin. Über den behaupteten auslösenden Vorfall brachte sie vor, dass es damit begonnen habe, dass ihre ältere Tochter weinend nach Hause gekommen sei und ein rotes Gesicht hatte. Der Cousin habe die Tochter geschlagen und gemeint, dass sie eine Burka tragen müsse. Diese sei damals erst fünf oder sechs Jahre alt gewesen. Die Zweitbeschwerdeführerin habe sich nicht darum gekümmert, bis ihr Mann gekommen sei und die Kleine so gesehen habe. Sie habe dem Erstbeschwerdeführer erzählt, was die Tochter ihr gesagt habe. Sie wisse nicht genau, was geschehen sei, nur dass ihr Mann den Cousin angesprochen habe und ein Streit entstanden sei. Der Cousin habe ihr gesagt, dass sie sich darum kümmern müsse, dass ihre Tochter so werde wie sich selbst. Sie habe ihm geantwortet, dass sie gezwungen sei, Burka zu tragen, sonst würde sie es auch nicht tun.

Auf die Frage nach einer persönlichen Involvierung brachte sie vor, dass der Cousin zu ihrer Familie gekommen sei und sie in der Küche einen Schrei gehört habe. Als sie herausgekommen sei, habe sie gesehen, dass der Cousin ihrem Mann eine Pistole an den Kopf gehalten habe und sie sei dazwischengetreten. Der Cousin habe sie zurückgestoßen und sie sei gestürzt. Im gleichen Moment habe ihr Mann ihm die Waffe zu entreißen versucht und ihn mit einem Messer am Bein verletzt. Es sei laut geworden und die Nachbarn seien dazugekommen und hätten den Cousin weggebracht. Die Zweitbeschwerdeführerin habe am gleichen Tag ihr Kind verloren.

Danach habe der Cousin „durchgedreht“ und habe „Schlägertypen“ auf sie und ihre Familie angesetzt. Er habe gesagt, sie könne ihre Tochter nicht zu einer Muslimin erziehen und sie solle diese zu ihm geben. Er habe gewollt, dass ihre ältere Tochter seinen Sohn heirate. Die Zweitbeschwerdeführerin habe aber gesagt, dass sie noch sehr klein sei.

Die Zweitbeschwerdeführerin habe daraufhin ihren Mann gedrängt, wieder nach Herat zurückzugehen. Aber auch dort seien „Schlägertypen“ gekommen, wobei sie nicht wisse, wie diese ihre Adresse gefunden hätten. Sie hätten mit der Familie keinen Kontakt mehr gehabt.

Auf die Frage, wer diese Leute gewesen seien, brachte sie vor, dass sie diese Leute nicht gekannt habe. Der Cousin habe gesagt, dass sie Taliban seien. Er habe nicht lockerlassen, entweder die Familie der Zweitbeschwerdeführerin sollte die ältere Tochter seinem Sohn gegeben oder er werde ihnen etwas antun. Der Cousin habe finanziell erfolgreich eine Firma als Glaser betrieben und die Zweitbeschwerdeführerin glaube, er sei am Opium-Anbau bei Taliban beteiligt gewesen.

Nach der Rückkehr von Helmand nach Herat habe sich die Zweitbeschwerdeführerin mit ihrer Familie nur einen Monat dort aufgehalten, dann seien sie aus Afghanistan ausgereist.

Die Kinder hätten die gleichen Fluchtgründe.

Die Zweitbeschwerdeführerin bezeichnete ihr Vorbringen auf Nachfrage als vollständig und tätigte keinerlei Angaben über die in der Erstbefragung behauptete Bedrohung wegen des angeblichen Fundes einer Bombe oder einer Waffe.

Der damals minderjährige Drittbeschwerdeführer gab bei der Einvernahme am 03.07.2018 im Beisein des Erstbeschwerdeführers als gesetzlicher Vertreter an, dass er mit seiner Familie nach der Rückkehr aus dem Iran nach Afghanistan zwei Jahre in Herat, eineinhalb Jahre in Helmand und dann wiederum sechs Monate in Herat gelebt habe und danach für zwei Jahre wieder in den Iran gegangen sei. Er habe im Iran sowie in Herat eine Privatschule besucht.

Über den Fluchtgrund brachte vor, dass das Problem der genannte Cousin der Zweitbeschwerdeführerin gewesen sei. Dieser habe vom Drittbeschwerdeführer und seinen Geschwistern verlangt, dass sie mit ihm in die Moschee gehen. Es sei dort Propaganda für die Taliban gemacht worden, dass man mit diesen zusammenarbeiten solle. Nach einem Streit mit dem Erstbeschwerdeführer sei das Ganze eskaliert und der Cousin habe die Familie nicht mehr in Ruhe gelassen, auch als diese nach Herat zurückgegangen sei. Auf Befragen nach einer persönlichen Involvierung brachte der Drittbeschwerdeführer vor, dass dieser Cousin ihn in der Werkstatt des Erstbeschwerdeführers in Pausen unsittlich berührt habe. Der Drittbeschwerdeführer habe nicht gewagt, dem Erstbeschwerdeführer oder seinem Vater etwas zu sagen, weil er Angst vor dem Cousin gehabt habe. Dies sei drei oder viermal vorgekommen. Es habe auch andere junge Männer gegeben, aber die seien dort aufgewachsen und hätten gewusst, wie sie mit dem Cousin umgehen. Anfangs habe der Drittbeschwerdeführer geglaubt, es handle sich um einen blöden Scherz, bis ihm ein Nachbar gesagt habe, dass der Cousin pädophil sei. In Afghanistan sei sein Leben in Gefahr und es könne niemand mit den realen Gesetzen leben, wenn man nicht daran gewöhnt sei. Bei einer Rückkehr würde der Drittbeschwerdeführer sich nirgends auskennen, außer in Herat und er hätte Angst, dass der genannte Cousin ihn finden würde. Er hätte damals die ganze Familie bedroht.

Der Drittbeschwerdeführer machte keinerlei Angaben über eine etwaige Bedrohung wegen eine Fundes einer Waffe oder von Sprengmittel in der Werkstatt des Erstbeschwerdeführers.

2. Mit den angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Die Behörde stellte die Staatsangehörigkeit, Religion und Volksgruppenzugehörigkeit, nicht jedoch die Identität der Beschwerdeführer fest. Die Verfolgungsbehauptungen der Beschwerdeführer wurden als nicht glaubhaft beurteilt. Die Behörde gründete ihre Beweiswürdigung primär auf den Umstand, dass die Beschwerdeführer ihre behauptete Bedrohungslage bei der Erstbefragung gänzlich anders dargestellt hätten als bei den Einvernahmen durch die Behörde, wobei sie auch im Zuge dieser Einvernahmen auf Nachfrage in keiner Weise die in der Erstbefragung noch behauptete Bedrohungssituation angesprochen hätten. Es sei den Beschwerdeführern möglich und zumutbar, sich bei einer Rückkehr in der sicher erreichbaren Stadt Mazar-e Sharif sowie in den sicheren Provinzen Bamyan oder Panjhsir niederzulassen. Weiters gründete die Behörde auf einzelne im Detail widersprüchliche Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin eine Feststellung, dass diese als Person nicht als glaubwürdig angesehen werden können.

Die behauptete Belästigung des Drittbeschwerdeführers durch den genannten Cousin wurde auf Grundlage von Plausibilitätserwägungen als unglaubhaft beurteilt.

3. In der mit Schriftsatz der Rechtsvertreter der Beschwerdeführer vom 02.01.2019 dagegen erhobenen Beschwerde wurde zunächst aktenwidrig vorgebracht, dass die Beschwerdeführer vor dem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu Fluchtgründen angegeben hätten, dass ihre Familie vom Cousin der Zweitbeschwerdeführerin wegen ihrer Lebensweise belästigt worden sei. Im Schriftsatz wurde in weiterer Folge vorgebracht, dass der Erstbeschwerdeführer asylrelevantes Verfolgung von Seiten der Taliban glaubhaft geschildert habe. Zum tatsächlichen Ablauf der Erstbefragung wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer dabei aufgefordert worden sei, sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen, sondern diese nur kurz auszuführen. Wegen der beschränkten Dauer der Ersteinvernahmen und der Nachwirkung der traumatisierenden Ereignisse hätten die Beschwerdeführer die Fluchtgründe nicht im Detail vorbringen können. Dies könne aber keinesfalls als Widerspruch zum weiteren Vorbringen gewertet werden. Im Schriftsatz wurden weiters Zitate aus Länderberichten zur Sicherheitslage wiedergegeben und vorgebracht, dass die Beschwerdeführer im Sinne ihrer Verfolgungsbehauptungen im Herkunftsstaat bedroht seien, ihnen dort keine innerstaatliche Fluchtalternative zukomme und sie für ihre Aufenthaltsdauer als sehr gut integriert anzusehen seien. Es wurde die Anberaumung einer mündlichen öffentlichen Verhandlung beantragt.

Gegen die genannten Bescheide wurde weiters mit Schriftsatz einer Rechtsberatungsorganisation vom 09.01.2019 Beschwerde eingebracht und darin die von den Beschwerdeführern im Zuge der Einvernahmen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl getätigten Verfolgungsbehauptungen wiederholt. Für die zuvor erfolgten abweichenden Angaben im Rahmen der Erstbefragung wurde als Erklärung angeboten, dass der Erstbeschwerdeführer nicht gewusst habe, dass er bei seiner Einvernahme wieder seine gesamte Geschichte von Anfang an hätte erzählen sollen, sondern er habe gedacht, dass er nun die Möglichkeit habe, bei den Schilderungen aus der Erstbefragung anzuknüpfen. Der Vorfall mit der Waffe im zu reparierenden Auto habe sich ereignet, als die Beschwerdeführer nach Helmand gezogen seien. Der Cousin der Zweitbeschwerdeführerin habe aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Taliban die Probleme bereinigen können und es seien die Beschwerdeführer fortan von den Taliban in Ruhe gelassen worden. Das Vorbringen der Beschwerdeführer sei daher als glaubhaft anzusehen. Zudem hätte die Behörde zum Schluss kommen müssen, dass die Beschwerdeführer aufgrund der prekären Sicherheitslage im gesamten Staatsgebiet jedenfalls in eine bedrohliche Lage geraten würden.

Die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative sei den Beschwerdeführern nicht zumutbar. Ohne fallbezogene Begründung wurde vorgebracht, dass die Rückkehrkehrentscheidung für dauerhaft unzulässig erklärt werden hätte müssen.

4. In den Beschwerdeverfahren des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin wurden Fristsetzungsanträge gestellt und entsprechende verfahrensleitende Anordnungen des Verwaltungsgerichtshofs vom 18.12.2020 und vom 21.12.2020 Über die Erlassung von Entscheidungen binnen drei Monaten erlassen, die am 23.12.2020 und am 07.01.2021 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt sind.

Die Zuständigkeit der nunmehr zuständigen Gerichtabteilung für die vorliegenden Rechtssachen wurde durch die Entscheidung des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.02.2021 über eine Unzuständigkeitsanzeige begründet, wobei die Zuständigkeit für das Verfahren über den Antrag der älteren Tochter des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin bei der davor zuständigen Gerichtsabteilung W175 verblieb.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 11.03.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, an der die Beschwerdeführer und ihr Rechtsvertreter teilnahmen und zu der das Bundesamt keinen Vertreter entsandt hat. Dabei wurden die Verfolgungsbehauptungen und die Lebensverhältnisse der Beschwerdeführer erörtert und diesen Gelegenheit eingeräumt, sich zu Feststellungen über die Lage im Herkunftsstaat zu äußern. Die Beschwerdeführer haben keine solche Stellungnahme abgegeben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige und Muslime schiitischer Ausrichtung. Ihre Muttersprache ist Dari.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet. Sie sind die leiblichen Eltern der minderjährigen Fünftbeschwerdeführerin und des minderjährigen Sechstbeschwerdeführers. Sie haben noch eine weitere minderjährige Tochter, in deren bei der Gerichtsabteilung W175 anhängigem Beschwerdeverfahren unter einem eine gleichlautende Entscheidung ergeht. Der Drittbeschwerdeführer ist der mittlerweile volljährige und der Viertbeschwerdeführer der noch minderjährige Bruder des Erstbeschwerdeführers, welchem durch Beschluss des zuständigen Bezirksgerichts vom 11.06.2018 die Obsorge für die damals beide minderjährigen Beschwerdeführer übertragen wurde.

Die Beschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohenden Erkrankungen. Die Zweitbeschwerdeführerin nimmt seit September 2020 wegen eines depressiven Zustandsbildes Psychotherapie in Anspruch.

Die Familie des Erstbeschwerdeführers stammt aus der Provinz Kandahar. Dieser hat seit dem zweiten Lebensjahr bis 2010 im Iran gelebt, wo er die Ehe mit der Zweitbeschwerdeführerin geschlossen hat. Er hat dort eine Erwachsenenschule besucht und er hat in Afghanistan als Auto-Spengler und Taxilenker gearbeitet. Die Zweitbeschwerdeführerin war Hausfrau, verfügt über keine Schulbildung und hat keinen Beruf erlernt. Die Fünftbeschwerdebeschwerdeführerin befand sich während des Aufenthalts in Afghanistan im frühen Kindesalter, der Sechstbeschwerdeführer wurde in Österreich geboren.

Der Drittbeschwerdeführer hat im Iran vier Jahre und in Afghanistan zwei Jahre lang Schulen besucht und auch mit dem Erstbeschwerdeführer als Auto-Spengler gearbeitet, der Viertbeschwerdeführer befand sich dort im frühen Kindesalter.

Die Beschwerdeführer haben sich nach der 2010 erfolgten Einreise aus dem Iran bis 2014 in Herat und Helmand aufgehalten, sind dann wieder in den Iran gereist und von dort 2016 über die Türkei und andere Staaten mit Schlepperunterstützung illegal nach Österreich gereist. Der Drittbeschwerdeführer und der Viertbeschwerdeführer wurden bei der versuchten gemeinsamen Ausreise an der iranisch-türkischen Grenze von ihren Eltern getrennt; sie stehen mit ihren im Iran lebenden Eltern in regelmäßigem telefonischem Kontakt.

Die Beschwerdeführer stellten am 15.02.2016 nach illegaler Einreiseeinen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Erstbeschwerdeführer wurde mit rechtskräftigem Urteil des zuständigen Bezirksgerichts vom 29.01.2020 wegen der Vergehen des Diebstahls und der Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten, deren Vollzug unter Festsetzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.

Die Zweitbeschwerdeführerin wurde gemäß dem Abschluss-Bericht der zuständigen Landespolizeidirektion am 21.09.2018 in einem Einkaufszentrum bei einem versuchten Diebstahl betreten; die zuständige Staatsanwaltschaft ist von der Verfolgung wegen des Vergehens nach § 127 StGB nach Ablauf der Probezeit gemäß § 203 Abs. 4 StGB endgültig zurückgetreten.

Die übrigen Beschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten bzw. noch strafunmündig.

1. 2. Zu den Verfolgungsbehauptungen der Beschwerdeführer:

Die vom Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin bei der Erstbefragung am 15.02.2016 jeweils behauptete Verfolgung der Familie durch regierungsfeindliche Kräfte nach dem Fund einer Waffe oder einer Bombe in der Werkstatt des Erstbeschwerdeführers war nicht glaubhaft.

Die vom Erstbeschwerdeführer, der Zweitbeschwerdeführerin und dem Drittbeschwerdeführer bei der Einvernahme am 03.07.2018 jeweils behauptete Verfolgung der Familie durch einen Cousin der Zweitbeschwerdeführerin war nicht glaubhaft.

Selbst im Falle der Annahme der Bedrohung oder Verfolgung durch regierungsfeindliche Kräfte oder durch einen Cousin der Zweitbeschwerdeführerin wäre der Familie eine innerstaatliche Fluchtalternative offen gestanden.

Die Beschwerdeführer hätten im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgung durch den Staat zu befürchten. Die Beschwerdeführer haben sich im Herkunftsstaat nicht politisch betätigt, waren nicht Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung und hatten keine Probleme mit den Behörden im Herkunftsstaat.

Die Zweitbeschwerdeführerin und die Fünftbeschwerdeführerin wären im Herkunftsstaat alleine aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

Die Zweitbeschwerdeführerin erledigt in Österreich die Hausarbeit und Einkäufe. Sie hat ein eigenes Konto und trifft (finanzielle) Entscheidungen. Sie hat Grundkenntnisse der deutschen Sprache und kann sich mit dem Hausarzt und dem Jugendamt verständigen, für die Psychotherapie wird eine Dolmetscherin herangezogen. Sie hat im Wintersemester 2019/2020 ein Radfahrtraining und zu Beginn des Wintersemesters 2020/2021 ein Schwimmtraining besucht, weil sei abnehmen möchte. Sie beschreibt ein selbstbestimmtes Leben in Österreich mit der Freiheit, einkaufen zu gehen und sich frei zu bewegen, ihren Kleidungsstil zu bestimmen, sowie der Möglichkeit, die Sprache und einen Beruf zu erlernen. Sie hat allerdings kein Sprachdiplom erworben und keine konkreten Schritte zur Vorbereitung einer Erwerbstätigkeit gesetzt.

Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht derart um eine auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist.

Die Ausübung ihrer hier in Österreich gelebten Lebensweise ist auch in den Großstädten Afghanistans möglich. Im Rahmen seiner Möglichkeiten wird ihr Mann sie auch in Afghanistan unterstützen.

Der Drittbeschwerdeführer ist mittlerweile volljährig und es ist nachhaltig unwahrscheinlich, dass er im Herkunftsstaat sexuellen Übergriffen oder Nachstellungen seitens eines Cousins der Zweitbeschwerdeführerin ausgesetzt sein sollte.

Dem Viertbeschwerdeführer, der Fünftbeschwerdeführerin und dem Sechstbeschwerdeführer würde alleine aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit physische und/oder psychische Gewalt mit asylrelevanter Intensität drohen.

1.3. Zur Lebenssituation in Österreich und zur Rückkehr in das Herkunftsland:

Der Erstbeschwerdeführer hat in Österreich Deutschkurse besucht aber kein Sprachdiplom erworben. Er bringt die Kinder in die Schule, geht spazieren und hilft im Haushalt, insbesondere bei der Gartenbetreuung. Er hat freiwillige Hilfsdienste in der Gemeinde geleistet. Dem Erstbeschwerdeführer wäre es möglich und zumutbar, sich nach einer Rückkehr in Herat oder auch in Mazar-e Sharif niederzulassen. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut. Er ist in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und verfügt über berufliche Erfahrungen als Auto-Spengler und Taxilenker. Er verfügt zwar derzeit über keine familiären Anknüpfungspunkte, angesichts seines guten Gesundheitszustandes, seiner Arbeitsfähigkeit und seiner Berufserfahrung könnte er sich dennoch neuerlich in Herat oder in Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern, wobei er seine Berufserfahrung als Taxilenker oder Auto-Spengler nutzen könnte. Der Erstbeschwerdeführer konnte auch nach der 2010 erfolgten Rückkehr seiner Familie nach Afghanistan durch seine beruflichen Tätigkeiten für sich und seine Familie sorgen. Damals war es ihm möglich, zunächst eine wirtschaftliche Basis und eine eigene Unterkunft für seine Familie zunächst in Herat und dann auch in Helmand zu sichern, wobei er unternehmerisch erfolgreich agierte. Ihm wäre daher neuerlich der Aufbau einer Existenzgrundlage in Afghanistan möglich. Der Erstbeschwerdeführer wäre in der Lage, eine einfache Unterkunft für sich und die Familie zu finden. Der Erstbeschwerdeführer hätte zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Im Ergebnis ist aufgrund der Arbeitsfähigkeit und der bisherigen Berufserfahrung von einer Selbst- und Familienerhaltungsfähigkeit des Erstbeschwerdeführers auszugehen.

Der Zweitbeschwerdeführerin wäre es alleine nicht möglich und zumutbar, sich Herat oder in Mazar-e Sharif niederzulassen. Sie verfügt über keine Berufsausbildung und ist noch nie selbst für ihren Unterhalt aufgekommen. Da jedoch der Erstbeschwerdeführer für ihren Unterhalt sorgen könnte und dies auch in der Vergangenheit seit der Eheschließung getan hat, wäre der Zweitbeschwerdeführerin eine Rückkehr im Familienverband sehr wohl möglich und zumutbar.

Der Drittbeschwerdeführer hat in Österreich zwei Jahre eine neue Mittelschule besucht und damit die allgemeine Schulpflicht beendet. Er besucht seither eine HTL und strebt eine Ausbildung als Mechatroniker an. Der Drittbeschwerdeführer hat in einem Demenztageszentrum freiwillige Unterstützung geleistet und gehört einem American Football Club an. Beim Drittbeschwerdeführer handelt es sich um einen gesunden jungen Mann mit Schulbildung, ihm wäre eine Teilnahme am Erwerbsleben zumutbar. Es wäre dem Drittbeschwerdeführer möglich, für seinen Lebensunterhalt in Afghanistan aufzukommen, zumal er auch schon vor seiner Ausreise mit dem Erstbeschwerdeführer als Auto-Spengler gearbeitet hat. Bei einem vorerst weiteren Verbleib im Familienverband nach der Rückkehr könnte der Drittbeschwerdeführer im Zusammenwirken mit seinem älteren Bruder (Erstbeschwerdeführer) ohne Schwierigkeiten zu seinem und zum Familieneinkommen beitragen.

Beim Viertbeschwerdeführer handelt es sich um einen unmündigen Minderjährigen, der im Familienverband mit seinem zur Obsorge berechtigten älteren Bruder, dem Erstbeschwerdeführer, lebt und weder über eigenes Vermögen noch über eine eigene Möglichkeit der Existenzsicherung verfügt. Da jedoch der Erstbeschwerdeführer bisher schon für das Familieneinkommen und damit auch für die Versorgung des Viertbeschwerdeführers aufgekommen ist, kann nicht festgestellt werden, dass der Viertbeschwerdeführer einem realen Risiko ausgesetzt wäre, in eine existenzbedrohende Lage zu geraten.

Dies gilt auch für die gemeinsamen Kinder des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin einschließlich der älteren Tochter.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Mit Stand 19.03.2021 scheinen in Afghanistan 56.044 Fälle und 2.462 Todesfälle auf. Die Feststellungen zu den derzeitigen Informationen betreffend COVID-19 sind amtsbekannt und der weltweiten Gesamtberichterstattung zu entnehmen. Die Feststellungen hinsichtlich der Anzahl der erkrankten und verstorbenen Personen Afghanistan stammen von der John Hopkins University & Medicine (https://coronavirus.jhu.edu/map.html). Die Beschwerdeführer sind körperlich gesund und gehören mit Blick auf ihr junges Alter und das Fehlen einschlägiger physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Auch Kleinkinder sind nicht von einem erhöhten Ansteckungsrisiko betroffen und verläuft eine Infektion bei Kindern meist symptomlos. Es besteht keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf beziehungsweise mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung beziehungsweise einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Mit einem seit acht Jahren in Österreich lebenden Bruder der Zweitbeschwerdeführerin und dessen Familie leben die Beschwerdeführer nicht in gemeinsamen Haushalt und es liegt kein Abhängigkeitsverhältnis vor.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich nicht selbsterhaltungsfähig und haben ihren Lebensunterhalt aus Leistungen des Grundversorgungssystems bestritten.

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat

1.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Stand 14.12.2020:

COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020)

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020, RFE/RL 2.6.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 1.6.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.9.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020, UNSC 27.5.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Die Taliban b

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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