Entscheidungsdatum
24.03.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W265 2211226-1/13E
W265 2211207-1/9E
W265 2211221-1/9E
W265 2211222-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , und 4.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.11.2018, Zlen. 1.) XXXX , 2.) XXXX , 3.) XXXX und 4.) XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerden werden hinsichtlich Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abgewiesen.
II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und den Beschwerdeführerinnen wird gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 werden den Beschwerdeführerinnen befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer eines Jahres erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Erstbeschwerdeführerin stellte für sich und ihre minderjährigen Töchter, die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen, nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 01.07.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Den Antrag der in Österreich geborenen Viertbeschwerdeführerin stellte sie nach deren Geburt.
2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Erstbeschwerdeführerin statt. Dabei gab sie unter anderem an, afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitische Muslimin zu sein. Befragt dazu, warum sie ihr Land verlassen habe, gab sie an, sie sei vor ca. fünf Jahren in den Iran gegangen, um dort ihren Mann zu heiraten. Sie habe dort keine Aufenthaltsberechtigung gehabt. Sie habe Angst gehabt, abgeschoben zu werden. In Afghanistan herrsche Krieg, dort könne man nicht überleben. Sie hätten auch eine Feindschaft gehabt, seitdem ihr Vater getötet worden sei.
3. Am 22.08.2017 wurde die Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie zu ihren persönlichen Umständen ergänzend im Wesentlichen an, dass sie in Kabul geboren und aufgewachsen sei und nie eine Schule besucht oder gearbeitet habe. Sie sei vor ca. zehn Jahren in den Iran gegangen und habe dort geheiratet. Sie habe zwei im Iran geborene Töchter, die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen. Ihr Vater und ein Bruder seien bereits verstorben, ihre Mutter, fünf Schwestern und ein Bruder würden noch in der Provinz Kabul leben. Im Rahmen der Einvernahme legte sie afghanische Dokumente vor.
Zu ihren Fluchtgründen führte die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst aus, ihr Vater sie durch Feinde umgebracht worden. Er sei Elektriker gewesen, in der Arbeit habe ihm ein Mann Wasser gegeben und ihn damit vergiftet. Was genau passiert sei, wisse sie nicht. Sie sei ein junges Mädchen gewesen und junge Mädchen seien damals von Daesh und den Taliban entführt worden. Drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters sei sie mit ihrem Großvater in den Iran gegangen und habe ihren Mann, einen Cousin väterlicherseits, geheiratet. In Afghanistan herrsche Krieg, sogar kleinen Kindern würden die Köpfe abgehackt und Frauen und Kindern werde dort alles angetan. Die Feinde hätten sie im Iran gefunden. Ihr Schwiegervater sei von Unbekannten mit einem Messer verfolgt und ihr Mann von einem Auto angefahren worden. Sie habe dort keine Dokumente gehabt und ihre Kinder hätten keine Schule besuchen können. Die Zweit- und Drittbeschwerdeführerin hätten keine eigenen Fluchtgründe, sie seien den gleichen Gefahren wie sie ausgesetzt.
4. Am XXXX kam die Viertbeschwerdeführerin in Österreich zur Welt. Sie stellte durch die Erstbeschwerdeführerin als ihre gesetzliche Vertreterin am 23.05.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren. Mit dem Antrag wurden die Geburtsurkunde und ein Meldezettel vorgelegt.
5. Mit Schreiben vom 17.10.2018 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Erstbeschwerdeführerin aktuelle Länderinformationen zur Situation in Afghanistan und räumte ihr die Möglichkeit einer Stellungnahme ein. Zugleich wurde sie aufgefordert, nähere Fragen zum Leben und zur Integration der Beschwerdeführerinnen in Österreich zu beantworten und entsprechende Nachweise vorzulegen.
6. Mit Eingabe vom 29.10.2018 erstatteten die Beschwerdeführerinnen durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen betreffend die Viertbeschwerdeführerin ausgeführt wurde, diese erhebe die Fluchtgründe ihrer Eltern zu ihren. Darüber hinaus drohe ihr in Afghanistan als Rückkehrerin aus dem Westen und wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen asylrelevante Verfolgung. Als junges afghanisches Mädchen, welches selbst noch nie in ihrem Herkunftsstaat gelebt habe, unterliege sie der Gefahr von Zwangsverheiratung. Diesbezüglich werde auf die Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien und weitere Länderberichte verwiesen. Mit der Stellungnahme wurden Fotos und Integrationsunterlagen vorgelegt.
7. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies die Anträge der Beschwerdeführerinnen mit Bescheiden vom 08.11.2018 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurden den Beschwerdeführerinnen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegenüber ihnen gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerinnen nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
8. Die Beschwerdeführerinnen erhoben gegen diese Bescheide mit Eingabe vom 06.12.2018 durch ihre bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. In dieser wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Beschwerdeführerinnen fürchteten in Afghanistan Verfolgung, da die Väter der Erstbeschwerdeführerin und ihres Ehemannes für die Regierung gearbeitet hätten. Der Vater der Erstbeschwerdeführerin sei aufgrund seiner Arbeit für die Regierung getötet worden. Die Beschwerdeführerinnen seien zudem „westlich“ eingestellt und würden nun als Frauen frei und selbstbestimmt leben und auch einen Beruf ergreifen wollen. Eine solche Lebensführung sei im Heimatstaat nicht möglich. Die Erstbeschwerdeführerin sei hinsichtlich ihrer westlichen Orientierung bzw. grundrechtsgeprägten Gesinnung nur äußerst oberflächlich befragt worden, obwohl dies aus ihrem Vorbringen indiziert gewesen wäre. Außerdem hätte sie auch zu der für ihre Kinder angestrebten Lebensweise genauer befragt werden müssen. Die Erstbeschwerdeführerin und ihr Ehemann würden die Gleichberechtigung von Mann und Frau schätzen und sämtliche relevanten Entscheidungen gemeinsam treffen. Sie möchten eine eigenständige Zukunft für ihre Kinder und seien absolut gegen eine Zwangsheirat. Die Behörde setze sich auch zu wenig mit dem Kindeswohl der Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen auseinander. Eine Rückkehr nach Afghanistan widerspreche eindeutig dem Kindeswohl. Den Beschwerdeführerinnen stehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.
10. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Schreiben vom 11.12.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, wo sie am 14.12.2018 einlangten.
11. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurden die gegenständlichen Rechtssachen der zuvor zuständigen Gerichtsabteilung W178 abgenommen und der Gerichtsabteilung W265 zugewiesen.
12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 03.03.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der die Erstbeschwerdeführerin ausführlich zu ihren Fluchtgründen und den Fluchtgründen der Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen, zu ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie zu ihrer Integration befragt wurde. Gemeinsam mit den Verfahren der Beschwerdeführerinnen wurde auch das Verfahren des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin und Vaters der Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen XXXX (Zl. W265 2211224-1) verhandelt.
Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.
Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien der Verfahren die Möglichkeit ein, dazu eine Stellungnahme abzugeben.
13. Mit Eingabe vom 08.03.2021 erstatteten die Beschwerdeführerinnen durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Lage der Frauen in Afghanistan nach wie vor äußerst prekär sei, wozu auf Länderberichte verwiesen wurde. Die Erstbeschwerdeführerin habe im Laufe des Verfahrens schlüssig und widerspruchsfrei dargelegt, dass sie einen westlich orientierten Lebensstil pflege und damit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen gehöre und bei einer Rückkehr nach Afghanistan asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätte. Sie habe die Freiheiten, die Frauen in Österreich zukämen, gerne angenommen. So entscheide sie selbst darüber, ob sie weitere Kinder haben möchte, und sie gehe in ihrer Freizeit regelmäßig allein laufen. Auch entscheide sie selbst, wie sie sich kleiden möchte. Es sei ihr wichtig, dass auch ihre Töchter, die Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen, später ein selbstbestimmtes Leben führten könnten. In dieser Lebensweise komme die Inanspruchnahme von Grundrechten zum Ausdruck. Diesbezüglich wurde auf Rechtsprechung und Länderberichte verwiesen. Der Erstbeschwerdeführerin und von ihr abgeleitet den anderen Beschwerdeführerinnen sei daher der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Zumindest sei den Beschwerdeführerinnen aber subsidiärer Schutz zu gewähren, da sie über keinerlei familiäres Netzwerk in Afghanistan verfügen würden. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin sei im Kindesalter in den Iran gezogen, die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen seien im Iran und die Viertbeschwerdeführerin in Österreich geboren und jeweils noch nie in Afghanistan gewesen. Durch die Covid-19-Pandemie verschärfe sich die Versorgungslage in den afghanischen Städten zusätzlich.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerinnen, zu ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und im Iran und zu ihrer Ausreise:
Die Erstbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Sie ist seit ca. zehn Jahren traditionell mit XXXX verheiratet. Gemeinsam haben sie drei minderjährige Töchter, die Zweitbeschwerdeführerin XXXX , geboren XXXX , die Drittbeschwerdeführerin XXXX , geboren XXXX , und die Viertbeschwerdeführerin XXXX , geboren XXXX .
Die Beschwerdeführerinnen sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Ihre Muttersprache ist Dari.
Die Erstbeschwerdeführerin wurde in der Stadt Kabul geboren und wuchs dort mit ihrer Familie auf. Ihr Vater verstarb, als sie ca. 16 Jahre alt war. Im Alter von ca. 19 Jahren übersiedelte sie in den Iran, wo sie ihren Ehemann, einen Cousin väterlicherseits, heiratete. Die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen wurden im Iran geboren, die Viertbeschwerdeführerin in Österreich.
Die Erstbeschwerdeführerin besuchte in Afghanistan zwei Jahre lang die Schule. Sie hat in Afghanistan und im Iran nie außerhalb des Hauses gearbeitet. Die Zweit- und Drittbeschwerdeführerin besuchen in Österreich die Volksschule.
Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin besuchte ein bis zwei Jahre die Schule und arbeitete im Iran als Schweißer auf Baustellen.
Die Herkunftsfamilie der Erstbeschwerdeführerin besteht noch aus ihrer Mutter, zwei Brüdern und fünf Schwestern. Neben ihrem Vater ist auch ein Bruder bereits verstorben. Ein Bruder lebt als Asylwerber in Österreich. Zum Rest der Familie, der zum Zeitpunkt des letzten Kontaktes in Kabul lebte, hat die Erstbeschwerdeführerin seit ca. einem Jahr keinen Kontakt mehr. Es kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden, wo sich die zuletzt in Afghanistan lebenden Familienangehörigen der Erstbeschwerdeführerin derzeit aufhalten.
Die Beschwerdeführerinnen verfügen über keine aufrechten familiären und sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan, insbesondere auch nicht Mazar-e Sharif.
Die Beschwerdeführerinnen verfügen über keine Ersparnisse und kein Vermögen. Eine finanzielle Unterstützung der Beschwerdeführerinnen durch die Familien der Erstbeschwerdeführerin oder ihres Ehemannes ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht zu erwarten.
Die Beschwerdeführerinnen sind gesund.
Die Beschwerdeführerinnen sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerinnen:
1.2.1. Den Beschwerdeführerinnen droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht konkret, individuell und aktuell die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt aufgrund der Arbeit des Vaters und Onkels der Erstbeschwerdeführerin für eine frühere Regierung.
1.2.2. Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist.
1.2.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass es den Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen unmöglich oder unzumutbar wäre, sich in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren, und dass ihnen auf Grund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan physische und/oder psychische Gewalt droht und sie deswegen einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wären.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB) und der EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO):
1.3.1. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).
1.3.1.1. Aktuelle Entwicklungen
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).
Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).
Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).
1.3.1.2. COVID-19
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).
1.3.1.3. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).
Taliban:
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel 5).
Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt (LIB, Kapitel 5).
Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Die UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (LIB, Kapitel 11.1).
Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LIB, Kapitel 11.1).
Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potentiellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LIB, Kapitel 11.1).
Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden. Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen. Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen (LIB, Kapitel 11.1).
Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LIB, Kapitel 11.1).
Haqqani-Netzwerk:
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban, Verbündeter von al-Qaida und verfügt über Kontakte zu IS. Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt. Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika und Khost aktiv. Sie verfügen jetzt über mehr Macht als in den Vorjahren und führen mehr Operationen durch. Das Haqqani-Netzwerk ist an den aktuellen Friedensverhandlungen beteiligt (LIB, Kapitel 5).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück. Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban. Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen. Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfer reduziert. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 5).
Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten. Am 04.04.2020 verhaftete die Nationale Sicherheitsdirektion Afghanistans (NDS) den IS-Führer in Afghanistan, und laut NDS wurde das Hauptführungs- und Koordinierungsgremium des islamischen Staates eliminiert, aber die Teilnetzwerke existieren noch immer in verschiedenen Bereichen. Die Gruppe ist immer noch aktiv und führt weiterhin Angriffe durch (LIB, Kapitel 5).
Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen:
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont. Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv. Gemäß UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in 12 Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder. Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (LIB, Kapitel 5).
1.3.1.4. Herkunftsprovinz Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550 Personen für den Zeitraum 2020-21. Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (LIB, Kapitel 5.1.).
Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die wirtschaftlich aktive Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen tätig ist. Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung. Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten. Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Ergebnisse einer Studie ergaben, dass Kabul unter den untersuchten Provinzen den geringsten Anteil an Arbeitsplätzen im Agrarsektor hat, dafür eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul am größten (LIB, Kapitel 22). Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
Schätzungen zufolge haben 32 % der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10 % der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. Nach verschiedenen Quellen gibt es in Kabul zwei öffentliche psychiatrische Kliniken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes, inklusive der Ring Road (Highway 1) welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad miteinander verbindet. In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand November 2020 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (LIB, Kapitel 5.1.). Nationale (Kam Air, Ariana Air) und internationale Fluggesellschaften (z.B. Air India, Air Arabia, Fly Dubai) bieten internationale Flüge von der Türkei, Indien, Aserbaidschan, Usbekistan, Pakistan, Saudi-Arabien, Kuwait, Iran, den Vereinigten Arabischen Emiraten und China nach Kabul an. Innerstaatlich gehen Flüge von und nach Kabul (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kandahar, Bost (Helmand, nahe Lashkargah), Zaranj, Kunduz, Farah, Herat, Mazar-e Sharif, Maimana, Bamian, Faizabad, Chighcheran und Tarinkot (LIB, Kapitel 5.35.).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle, dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe statt. Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt. Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt (LIB, Kapitel 5.1.). Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet. Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung. Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet. Es wird berichtet, dass der Islamische Staat in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen (LIB, Kapitel 5.1.).
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Im letzten Quartal des Jahres 2019 sowie in den ersten Monaten des Jahres 2020 wurden in der Hauptstadt weniger Anschläge verübt. Seit dem zweiten Quartal 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen. Selbstmordanschläge und IEDs finden statt und es wurde von gezielten Tötungen und Angriff auf militärische Einrichtungen bzw. Sicherheitskräfte sowohl in Kabul-Stadt wie auch in den Distrikten der Provinz berichtet. Es gibt Berichte über Straßenblockaden und Angriffe auf Highways durch bewaffnete Gruppierungen. Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind. Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen und kriminelle Banden sowie Luftschläge durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen (LIB, Kapitel 5.1.).
Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, 3.3).
1.3.1.5. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die NSIA schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (LIB, Kapitel 5.5.).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum. Die Ring Road verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul. Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab. Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (LIB, Kapitel 5.5.).
Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen. Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten. Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird. Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz (LIB, Kapitel 5.5.).
Im Zeitraum 01.01.-30.09.2020 dokumentierte UNAMA 553 zivile Opfer (198 Tote, 355 Verletzte) in der Provinz, was mehr als eine Verdopplung gegenüber derselben Periode im Vorjahr ist. Im ersten Halbjahr 2020 war hinsichtlich der Opferzahlen die Zivilbevölkerung in den Provinzen Balkh und Kabul am stärksten vom Konflikt in Afghanistan betroffen. Der UN-Generalsekretär zählte Balkh in seinen quartalsweise erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage in Afghanistan im März und Juni 2020 zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes und auch im September galt Balkh als eine der Provinzen mit den schwersten Talibanangriffen im Land. Es kam zu direkten Kämpfen und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren oder Sicherheitsposten. Die Regierungskräfte führten Räumungsoperationen durch. Auch in Mazar-e Sharif kam es wiederholt zu IED-Anschlägen. Zudem wurde von der Entführung und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (LIB, Kapitel 5.5.).
Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen. Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften (LIB, Kapitel 5.5). Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 3.3).
1.3.2. Sichere Einreise
Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 5.35.). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 8 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Betreffend den Flughafen sind keine sicherheitsrelevanten Vorfälle bekannt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5). National Airlines (Kam Air, Ariana Air) bieten internationale Flüge von Russland, Indien und Iran nach Mazar-eh Sharif an. Innerstaatlich gehen Flüge von und nach Mazar-e Sharif (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kabul und Maimana (LIB, Kapitel 5.35.).
Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar. Der Flughafen Herat befindet sich etwa 10 km westlich von Herat-Stadt. Derzeit werden auf dem Flughafen jährlich etwa 350.000 Passagiere abgefertigt, und die Verwaltung des Flughafens sowie die Instandhaltung des Flugplatzes werden von den NATO-Streitkräften unter italienischem Kommando durchgeführt. Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Air) fliegen Herat international aus Iran an. Innerstaatlich gehen Flüge von und nach Herat (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen nach Kabul, Maimana und Chighcheran (LIB, Kapitel 5.35.). Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
1.3.3. Wirtschafts- und Versorgungslage
1.3.3.1. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze (LIB, Kapitel 22).
Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).
Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 22).
Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst. Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84 % der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (LIB, Kapitel 22).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 22).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. Die Mehrheit der Afghanen lebt generell in sehr schlechten Wohnverhältnissen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Tagelöhners in Afghanistan variiert zwischen 100 AFN und 400 AFN pro Tag (LIB, Kapitel 22).
Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).
1.3.3.2. Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif und die Provinz Balkh sind historisch betrachtet das wirtschaftliche und politische Zentrum der Nordregion Afghanistans. Mazar-e Sharif profitierte dabei von seiner geografischen Lage, einer vergleichsweise effektiven Verwaltung und einer relativ guten Sicherheitslage. Mazar-e Sharif gilt als Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten. Balkh ist landwirtschaftlich eine der produktivsten Regionen Afghanistans wobei Landwirtschaft und Viehzucht die Distrikte der Provinz dominieren. Die Arbeitsmarktsituation ist auch In Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber und ohne Kontakte ist es schwer einen Arbeitsplatz zu finden. In den Distrikten ist die Anzahl der Arbeitslosen hoch. Die meisten Arbeitssuchenden begeben sich nach Mazar-e Sharif, um Arbeit zu finden. In Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Verfügung.
Auch eine Person, die in Mazar-e Sharif keine Familie hat, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden. Des Weiteren gibt es in Mazar-e Sharif eine Anzahl von Hotels sowie Gast- oder Teehäusern, welche unter anderem von Tagelöhnern zur Übernachtung benutzt werden (LIB, Kapitel 22). Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind auch aktuell geöffnet. Gegenwärtig gibt es in Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren (LIB, Kapitel 3).
Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76 %), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken. Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patienten in dieses Krankenhaus überwiesen. Es verfügt über 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet (LIB, Kapitel 23).
1.3.3.4. Bank- und Finanzwesen
Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen, entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach Folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), zwei Passfotos und 1.000 bis 5.000 AFN als Mindestkapital für das Bankkonto. Bis heute sind mehr als ein Dutzend Banken im Land aktiv: unter anderem die Afghanistan International Bank, Azizi Bank, Arian Bank, oder The First Microfinance Bank, Ghazanfar Bank, Maiwand Bank, Bakhtar Bank. (LIB)
1.3.3.5. Hawala-System
Über Jahrhunderte hat sich eine Form des Geldaustausches entwickelt, welche Hawala genannt wird. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen. (LIB)
So ist es möglich, auch größere Geldsummen sicher und schnell zu überweisen. Um etwa eine Summe von Peshawar, Dubai oder London nach Kabul zu überweisen, benötigt man sechs bis zwölf Stunden. Sind Sender und Empfänger bei ihren Hawaladaren anwesend, kann die Transaktion binnen Minuten abgewickelt werden. Kosten dafür belaufen sich auf ca. 1-2%, hängen aber sehr stark vom Verhandlungsgeschick, den Währungen, der Transaktionssumme, der Vertrauensposition zwischen Kunde und Hawaladar und nicht zuletzt von der Sicherheitssituation in Kabul ab. Die meisten Transaktionen gehen in Afghanistan von der Hauptstadt Kabul aus, weil es dort auch am meisten Hawaladare gibt. Hawaladare bieten aber nicht nur Überweisungen an, sondern eine ganze Auswahl an finanziellen und nicht-finanziellen Leistungen in lokalen, regionalen und internationalen Märkten. Beispiele für das finanzielle Angebot sind Geldwechsel, Spendentransfer, Mikro-Kredite, Tradefinance oder die Möglichkeit, Geld anzusparen. Als nichtmonetäre Leistungen können Hawaladare Fax- oder Telefondienste oder eine Internetverbindung anbieten. (LIB)
1.3.4. Medizinische Versorgung
Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87 % der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v. a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden (LIB, Kapitel 23).
Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (LIB, Kapitel 23).
Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördl