TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/25 W261 2211641-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.03.2021
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Entscheidungsdatum

25.03.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W261 2211641-1/20Z

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 13.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II.     Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV.      In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 06.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 08.11.2017 fand seine Erstbefragung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, dass er Afghanistan im Alter von zirka 4 Jahren gemeinsam mit seinen Eltern in den Iran verlassen habe. Seine Eltern hätten in Afghanistan Feinde gehabt, welche zwei seiner Onkel und auch eine seiner Schwestern getötet hätten. Er wisse darüber aber kaum etwas, da er zum damaligen Zeitpunkt noch sehr klein gewesen sei. Im Iran hätten seine Familie und er keine Aufenthaltserlaubnis erhalten, obwohl sie schon sehr lange dort gelebt hätten. Der Beschwerdeführer habe keine Schule besuchen dürfen, und wenn er von iranischen Polizisten aufgegriffen worden sei, habe er Geld bezahlen müssen oder sei geschlagen worden. Er sei sehr oft von der iranischen Polizei angehalten worden und jedes Mal habe die Gefahr bestanden, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Seit einem Jahr habe er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie und wisse nicht, ob diese im Iran noch leben würden. Es herrsche in Afghanistan Krieg.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 12.04.2018 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Im Ort XXXX (auch XXXX ) im Distrikt XXXX in der Provinz Baghlan sei er geboren. Im Alter von drei bis vier Jahren sei er mit seiner Familie in den Iran übersiedelt, da es einen Streit um die Grundstücke seines Vaters gegeben habe. Bis 2015 habe er mit seiner Familie im Iran ( XXXX ) gelebt, wo sie sich illegal aufgehalten hätten. Er habe dort keine Schule besucht, nur abends sei er arbeiten gegangen. Mit seiner Familie im Iran habe er seit einiger Zeit keinen Kontakt mehr, in Afghanistan habe er niemanden mehr. In Österreich habe er eine Tante mütterlicherseits und einen Onkel väterlicherseits, zu welchen er aber nicht oft Kontakt habe. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen und eine fachärztliche Bestätigung über seine Schlafstörungen vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, er sei noch klein gewesen, als sein Vater in Afghanistan in einen Grundstücksstreit verwickelt gewesen sei. Die Streitgegner, welche Beziehungen zu der afghanischen Polizei und zu den Taliban hätten, hätten die Grundstücke seines Vaters kaufen wollen, sein Vater habe dies aber nicht gewollt. Daraufhin hätten diese zwei Onkel mütterlicherseits und seine Schwester getötet. Sein Vater sei angeschossen worden. Da sein Vater Angst gehabt habe, sei dieser mit seiner Familie in den Iran übersiedelt. Dort hätten sie in XXXX gelebt. Sein Vater habe ihm gesagt, falls er nach Afghanistan zurückkehre, werde er dort getötet, denn die Feinde in Afghanistan fänden einen überall. Dies gelte auch für Kabul. Die Afghanen seien so und würden Rache nehmen.

3. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 13.11.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der vom Beschwerdeführer angegebene Fluchtgrund, dass er mit seiner Familie sein Heimatland verlassen habe, weil sein Vater in einer Grundstücksstreitigkeit, wobei zwei seiner Onkel und eine Schwester umgekommen seien, involviert gewesen sei, nicht glaubhaft sei.

Es sei nicht glaubhaft, dass er in Afghanistan konkreten, seine Person betreffenden Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen wäre, oder solche in Zukunft zu befürchten seien. Die belangte Behörde gehe davon aus, dass es sich bei diesem Vorbringen um ein bloßes Konstrukt handle, und er nicht die wahren Beweggründe für seine Asylantragsstellung dargelegt habe. Beeinträchtigungen, welchen der Beschwerdeführer im Iran ausgesetzt gewesen sei, könnten nicht berücksichtigt werden, da sich diese nicht in seinem Heimatland Afghanistan zugetragen hätten. Die belangte Behörde verkenne nicht, dass seine Herkunftsprovinz Baghlan als „unsichere“ Provinz zu qualifizieren sei, jedoch sei es ihm zumutbar, sich bei einer Rückkehr in die Städte Herat, Mazar-e-Sharif oder Kabul niederzulassen. Er sei ein arbeitsfähiger, junger Mann, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben – wie auch bereits im Iran – vorausgesetzt werden könne. Er verfüge über eine zweijährige Schulausbildung, eine mehrjährige Berufserfahrung als Arbeiter in der Textilbranche und könne lesen und schreiben. Er habe Familie im Iran, die ihn ausreichend unterstützen könnte. Er halte sich erst sehr kurz, seit fast zwei Jahren, in Österreich auf. Er könne gemeinsam mit seinem ebenfalls volljährigen Bruder, der sich in Österreich aufhalte, ausreisen. Zu seinen anderen Familienangehörigen in Österreich bestehe kein Abhängigkeitsverhältnis.

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass er seine Aussagen inhaltlich aufrecht halte. Die Feststellungen seien unrichtig, das Verfahren mangelhaft und sein Vorbringen nicht richtig beurteilt worden. Die Mangelhaftigkeit des Verfahrens gründe sich darauf, dass die Behörde es verabsäumt habe, sich mit der konkreten Situation des Beschwerdeführers und der aktuellen Situation in Afghanistan auseinanderzusetzen. Dadurch sei eine rechtliche Auseinandersetzung nicht möglich gewesen. Auf die Fluchtgründe des Beschwerdeführers sei nicht substantiell eingegangen worden, wodurch ein massiver Begründungsmangel bestehe. Das Vorbringen des Beschwerdeführers entspreche der Wahrheit und sei glaubwürdig. Ihm drohe in seiner Heimat Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, und es wäre daher Asyl zu gewähren gewesen. Allenfalls wäre dem Beschwerdeführer aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage in seiner Heimat, sowie der fehlenden Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative und der daraus entstehenden Gefahr einer existenzbedrohenden Lage im Falle einer Rückkehr subsidiärer Schutz zu gewähren, oder aufgrund der Schutzwürdigkeit seines Privat- und Familienlebens eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären gewesen.

5. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 19.12.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 21.12.2018 in der Gerichtsabteilung W209 einlangte (vgl. OZ 1).

6. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.05.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W209 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 02.06.2020 einlangte (vgl. OZ 2).

7. Mit Eingabe vom 20.10.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen vor. Zugleich brachte er vor, dass die Coronavirus-Epidemie in Afghanistan völlig außer Kontrolle sei, den offiziellen Zahlen, die auch schon schlimm genug seien, sei nicht zu trauen, und der Beschwerdeführer würde im Falle einer Abschiebung in eine existentielle Notlage geraten. Eine Verbesserung der allgemeinen Situation in Afghanistan sei nicht gegeben. Es herrsche weiterhin eine katastrophale Sicherheits- und Wirtschaftslage. Nach den aktualisierten UNHCR Richtlinien, sei eine Rückkehr nach Kabul gegenwärtig nur mehr im Ausnahmefall zulässig. Auch die Situation in Herat habe sich verschlechtert. Insgesamt könne eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht als gegeben erachtet werden. Des Weiteren sei der Beschwerdeführer arbeitsfähig und arbeitswillig und bereits selbsterhaltungsfähig. In Afghanistan habe er überhaupt keine Lebensperspektive. (vgl. OZ 5)

8. Mit Eingabe vom 30.10.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine weitere Integrationsbestätigung vor (vgl. OZ 7).

9. Die für 10.11.2020 anberaumte mündliche Verhandlung am Bundesverwaltungsgericht musste abberaumt werden, da der Beschwerdeführer aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage war, zu erscheinen (vgl. ärztliche Bestätigung vom 02.11.2020, OZ 9).

10. Mit Eingabe vom 01.02.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung weitere Integrationsunterlagen vor. Zugleich teilte der Beschwerdeführer mit, dass er aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten sei. Dazu legte er eine Bescheinigung des Austritts vom 28.01.2021 vor (vgl. OZ 13).

11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 24.02.2021 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen religiösen Überzeugungen, seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

12. Mit Eingabe vom 26.02.2021 gab der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme ab. Er führte darin aus, dass Blasphemie von der Regierung und auch von Nicht-Regierungsakteuren streng bestraft werde. Es könne auch nicht verlangt werden, dass der Beschwerdeführer die erwartete Religionsausübung vortäuschen solle, vor allem, weil die Vortäuschung nicht vor Entdeckung seiner persönlichen Weltsicht schütze. (vgl. OZ 18)

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist ca. 21 Jahre alt. Für Identifikationszwecke wird das Geburtsdatum mit XXXX festgestellt. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und wuchs als sunnitischer Muslim auf. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch ein wenig Deutsch und Englisch. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Baghlan geboren. Sein Vater heißt XXXX (ca. 51 Jahre). Er und einer seiner Brüder arbeiten im Iran als Gärtner, in Afghanistan arbeitete sein Vater auf seinen Grundstücken. Seine Mutter XXXX (ca. 49 Jahre). Er hat vier Schwestern, XXXX (ca. 16 Jahre), XXXX (ca. 14 Jahre), XXXX (ca. 11 Jahre), XXXX (ca. 7 Jahre) und zwei Brüder, XXXX (ca. 24 Jahre) und XXXX (ca. 23 Jahre).

Sein Bruder XXXX lebt in Deutschland, der Rest der Familie im Iran, er hat regelmäßigen Kontakt zu Ihnen. Eine Tante mütterlicherseits lebt mit ihren fünf Kindern in Österreich, in XXXX und ein Onkel mütterlicherseits lebt in XXXX .

Im Alter von zirka vier Jahren übersiedelte der Beschwerdeführer mit seiner Familie in die Stadt XXXX im Iran. Er besuchte nie eine Schule. Im Iran arbeitete er zirka eineinhalb Jahre in einer Fabrik, er stellte dort Gürtelschnallen her.

Der Beschwerdeführer verließ den Iran gemeinsam mit seinem Bruder XXXX im Jahr 2015 und stellte am 06.05.2016 als Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtling einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer leidet an Schlafstörungen und befindet sich in psychotherapeutischer Behandlung (vgl. Niederschrift vom 24.02.2021, S. 3 und Beilage ./1).

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan im Kindesalter. Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie waren in Afghanistan in eine Blutfehde oder in Grundstücksstreitigkeiten involviert und wurden weder bedroht noch angegriffen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität.

1.2.2. Der Beschwerdeführer wuchs als sunnitischer Muslim auf, ist derzeit jedoch wenig religiös interessiert und lebt in Österreich nicht nach islamischen Verhaltensregeln. Er ist am 28.01.2021 aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Er glaubt an Gott, steht aber dem Islam kritisch gegenüber, weil er als Kind schlechte Erfahrungen machte und leiden musste. Er erzählte jedoch niemandem von seiner Abkehr vom Islam und lebt diese auch nicht offen aus. Der Beschwerdeführer hat keine konfessionslose Überzeugung verinnerlicht, welche er auch in Afghanistan ausleben würde. Er tritt nicht gegen den Islam auf und geht keiner neuen religiösen Überzeugung nach. Es ist niemandem in Afghanistan bekannt, dass er in Österreich angab, kein Muslim mehr zu sein.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer aufgrund seines aktuellen Desinteresses am Islam oder wegen der Nichtbefolgung islamischer Vorschriften weder physische noch psychische Gewalt.

1.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Mai 2016 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 06.05.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich mehrere Deutschkurse. Seit 12.08.2020 ist er ehrenamtlich bei XXXX tätig. Von 17.08.2020 bis 17.12.2020 nahm er am Basisbildungskurs im Sozialwerk XXXX im Rahmen des Bildungsprojektes XXXX teil.

Der Beschwerdeführer war in Österreich bisher nicht erwerbstätig, er lebt von der Grundversorgung. Er verfügt über eine Einstellungszusage einer Teppichwäscherei in Wien, als Hilfsarbeiter in Vollzeit.

Er nahm regelmäßig bei der wöchentlich stattfindenden Online-Veranstaltung XXXX die von dem Netzwerk XXXX initiiert wurde, teil. Die für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ausgerichteten Vorstellungen der Volksoper Wien besuchte er regelmäßig, als er noch im XXXX untergebracht war. Im Frühjahr 2021 ist über den Verein XXXX ein Vortrag über Afghanistan geplant, den der Beschwerdeführer halten wird. In seiner Freizeit trainiert er im Fitness-Center.

Von seinen Vertrauenspersonen wird er als freundlich, zuverlässig, empathisch, höflich, respektvoll, offen und hilfsbereit beschrieben.

Der Beschwerdeführer ist gemeinsam mit seinem älteren Bruder XXXX nach Österreich eingereist, der sich derzeit in Deutschland aufhält. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinem Bruder.

Eine Tante mütterlicherseits des Beschwerdeführers lebt mit ihren fünf Kindern in Österreich und verfügt über den Status einer Asylberechtigten. Diese Tante hat er erst in Österreich kennengelernt. Er besucht diese regelmäßig und hat telefonischen Kontakt. Mit dem in Österreich lebenden Onkel mütterlicherseits hat er wenig Kontakt.

Der Beschwerdeführer hat eine Freundin in Österreich, mit der er seit 1 ½ Jahren eine Beziehung führt.

Mit einem Mitarbeiter des Vereins XXXX , ist er wöchentlich über „Zoom“ oder „Skype“ in Kontakt, um mit diesem Deutsch zu lernen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsdistrikt in der Provinz Baghlan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Dem Beschwerdeführer ist auch eine Neuansiedelung in einer anderen Region Afghanistans, etwa in den Städten Kabul, Herat-Stadt oder Mazar-e Sharif, aufgrund seiner individuellen Umstände in Verbindung mit der dort allgemein angespannten Beschäftigungs-, Wohn- und Versorgungsituation derzeit nicht zumutbar.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan als Kind im Alter von zirka vier Jahren verlassen und nie alleine und auf sich gestellt in Afghanistan gelebt. Er hat den Großteil seines Lebens außerhalb seines Herkunftsstaates verbracht. Er verfügt in Afghanistan über keine ihm bekannten Angehörigen oder sonstigen Kontakte und somit über kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung er sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Er hat nie dauerhaft in einer afghanischen Großstadt gelebt und ist mit den dortigen örtlichen Gegebenheiten und Strukturen nicht vertraut.

Der Beschwerdeführer ist ein junger Mann, der sich aufgrund von Schlafstörungen in psychotherapeutischer Behandlung befindet. Er verfügt über keine Schuldbildung, keine Berufsausbildung und sammelte als Minderjähriger wenig qualifizierte Berufserfahrung in einer Fabrik als Gürtelschnallenhersteller. Er wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan und Ansiedlung in einer der genannten Städte zur Sicherung seines Lebensunterhaltes jedenfalls anfänglich auf Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Gerade diese stehen aber in den Großstädten derzeit nur in sehr eingeschränktem Ausmaß zur Verfügung. Die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt wird durch die große Zahl von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan, die sich vor allem in den Großstädten ansiedeln, weiter verschärft. Auch die Ernährungssituation hat sich zuletzt deutlich verschlechtert.

Es wäre dem geringqualifizierten Beschwerdeführer, der Afghanistan im Kindesalter verließ und den Großteils seines Lebens im Ausland verbrachte, über keine Berufsausbildung verfügt, in Afghanistan keine Angehörigen und sonst auch niemanden kennt, daher in der aktuellen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich, eine Arbeit zu finden. Er wäre daher, um für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können, in besonderer Weise auf familiäre oder sonstige Unterstützung vor Ort bzw. in Afghanistan angewiesen, die ihm aber, wie ausgeführt, nicht zur Verfügung steht.

Die beim Beschwerdeführer vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen und allgemeinen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan bei einer Neuansiedlung in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der Beschwerdeführer vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.5.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 19.03.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 19.03.2021 (WHO)

1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).

1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).

1.5.1.2. COVID-19

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80 % der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5 % der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z. B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf, einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren (WHO).

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze (LIB, Kapitel 22).

Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 22).

Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst. Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40 % steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84 % der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98 % im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17 % stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (LIB, Kapitel 22).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 22).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Tagelöhners in Afghanistan variiert zwischen 100 AFN und 400 AFN pro Tag (LIB, Kapitel 22).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).

1.5.3. Medizinische Versorgung

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87 % der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden (LIB, Kapitel 23).

Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (LIB, Kapitel 23).

Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab - mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. WHO und USAID zählten zwischen Jänner und August 2020 30 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen (LIB, Kapitel 23).

Das Jebrael-Gesundheitszentrum im Nordwesten der Stadt Herat bietet für rund 60.000 Menschen im dicht besiedelten Gebiet mit durchschnittlich 300 Besuchern pro Tag grundlegende Gesundheitsdienste an. Laut dem Provinzdirektor für Gesundheit in Herat verfügte die Stadt im April 2017 über 65 private Gesundheitskliniken, unter anderem das staatliche Herat Regional Hospital. In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken. Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patienten in dieses Krankenhaus überwiesen. Für das durch einen Brand zerstörte Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses (LIB, Kapitel 23).

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.06.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte, wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Auch sind die Zahlen der mit COVID-19-Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen. In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10 % der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist, wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt. Durch die COVID-19-Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30 %) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35 %) haben (LIB, Kapitel 3).

Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert. Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig. Die WHO geht davon aus, dass in ganz Afghanistan im öffentlichen, wie auch privaten Sektor insgesamt 320 Spitäler existieren, an welche sich Personen mit psychischen Problemen wenden können. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. In folgenden Krankenhäusern kann man außerdem Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen erhalten: Mazar-e -Sharif Regional Hospital: Darwazi Balkh; in Herat das Regional Hospital und in Kabul das Karte Sae Mental Hospital. Wie bereits erwähnt gibt es ein privates psychiatrisches Krankenhaus in Kabul, aber keine spezialisierten privaten Krankenhäuser in Herat oder Mazar-e Sharif. Dort gibt es lediglich Neuropsychiater in einigen privaten Krankenhäusern (wie dem Luqman Hakim Private Hospital) die sich um diese Art von Patienten tagsüber kümmern. In Mazare-e Sharif existiert z.B. ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB, Kapitel 23.1.).

1.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 18).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 18.2.).

1.5.5. Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1 % der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel 17).

1.5.5.2. Apostasie, Blasphemie, Konversion

Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie oder der Strafverfolgung bei Blasphemie. Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, sind Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB, Kapitel 15.5).

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen. Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal (LIB, Kapitel 17.4.).

Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist. Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (LIB, Kapitel 17.4.).

Die afghanische Regierung scheint kein Interesse daran zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen – weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben. Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen. Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann der Organisation Open Doors zufolge dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (LIB, Kapitel 17.4.).

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, welche die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber (LIB, Kapitel 12). Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (LIB, Kapitel 12).

1.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg. Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. Es gibt internationale Flughäfen in Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif, bedeutende Flughäfen, für den Inlandsverkehr außerdem in Ghazni, Nangharhar, Khost, Kunduz und Helmand sowie eine Vielzahl an regionalen und lokalen Flugplätzen (LIB, Kapitel 20). Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3). Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig ’gelbe Seiten’ oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. In Kabul, aber auch in Mazar-e Sharif müssen unter Umständen gewisse Melde- und Ausweisvorgaben beim Mieten einer Wohnung oder eines Hauses erfüllt werden. In Gebieten ohne hohes Sicherheitsrisiko ist es oftmals möglich, ohne einen Identitätsnachweis oder eine Registrierung bei der Polizei eine Wohnung zu mieten. Dies hängt allerdings auch vom Vertrauen des Vermieters in den potentiellen Mieter ab (LIB, Kapitel 20.1.).

1.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).

1.5.8.1. Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt (LIB, Kapitel 5).

1.5.9. Relevante Provinzen und Städte

1.5.9.1. Herkunftsprovinz Baghlan

Baghlan, das sich im Nordosten Afghanistans befindet, grenzt an die Provinzen Bamyan, Samangan, Kunduz, Takhar, Panjshir, Parwan und in einem sehr kleinen Abschnitt an Balkh. Die Hauptstadt der Provinz ist Pul-i-Khumri. Die NSIA schätzt die Bevölkerung in Baghlan im Zeitraum 2020-21 auf 1,014.634 Personen. Eine knappe Mehrheit der Einwohner von Baghlan sind Tadschiken, gefolgt von Paschtunen und Hazara als zweit- bzw. drittgrößte ethnische Gruppen. Außerdem leben ethnische Usbeken und Tataren in Baghlan (LIB, Kapitel 5.4.).

Baghlan liegt an der nördlichen Strecke der Ring Road, auch als Highway 1 bekannt. Im September 2020 wurde berichtet, dass die Taliban an Kontrollpunkten in Baghlan Zölle auf den Warentransport zwischen Kabul und Kunduz einhoben und im Juli 2020 unterbrachen Kämpfe am Stadtrand von Pul-i-Khumri den Verkehr von und nach Balkh. Die Sicherheit in Baghlan ist auch bedeutsam für die Energieversorgung Kabuls, da Stromleitungen aus Tadschikistan und Usbekistan durch die Provinz verlaufen. Kämpfe in Baghlan führten wiederholt zu Stromausfällen (LIB, Kapitel 5.4.).

Baghlan gehört zu den unruhigsten Provinzen in Afghanistan, es finden immer wieder heftige Kämpfe statt, meist zwischen Taliban und Regierungstruppen. Weiters wird berichtet, dass der Islamische Staat (IS) in der Provinz eine kleinere Zelle unterhält. Auf Regierungsseite befindet sich Baghlan im Verantwortungsbereich des 217. Afghan National Army (ANA) „Pamir“ Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welches von deutschen Streitkräften geleitet wird (LIB, Kapitel 5.4.).

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 349 zivile Opfer (123 Tote und 226 Verletzte) in der Provinz Baghlan. Es kam in Baghlan zu direkten Kämpfen zwisc

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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