TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/25 W110 2179261-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.03.2021
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Entscheidungsdatum

25.03.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W110 2179261-1/22Z

W110 2179261-2/20Z

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Einzelrichter über die Beschwerden des XXXX geboren am XXXX StA. Afghanistan, gegen den vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 20.10.2017 zur Geschäftszahl XXXX ausgefertigten Bescheid betreffend einen Antrag auf internationalen Schutz sowie gegen den vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 30.8.2019 zur Geschäftszahl XXXX XXXX ausgefertigten Bescheid betreffend Verlust des Aufenthaltsrechts nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zu Recht erkannt:

A.1) Antrag auf internationalen Schutz:

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß §§ 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 24.3.2022 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

A.2) Verlust des Aufenthaltsrechtes:

Die Beschwerde wird als gegenstandslos erklärt und das Verfahren gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.

B) Revision:

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der im damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte nach illegaler Einreise am 31.7.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung am Tag der Antragstellung gab der Beschwerdeführer an, als Sohn eines afghanischen Staatsangehörigen und einer iranischen Mutter im Iran geboren worden und aufgewachsen zu sein, wo sein Onkel mütterlicherseits fünf Jahre zuvor versucht habe, die Mutter des Beschwerdeführers zu ermorden, wofür er auch zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Nach seiner nunmehrigen Freilassung hätten seine Eltern beschlossen, dass er, der Beschwerdeführer, den Iran aus Sicherheitsgründen verlassen solle. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe der Beschwerdeführer niemanden mehr.

Im Zuge seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 3.10.2017 präzisierte der Beschwerdeführer (in Anwesenheit eines Vertreters des örtlich zuständigen Jugendwohlfahrtsträgers als gesetzlicher Vertreter) seine Angaben über die Probleme mit dem Onkel mütterlicherseits im Iran.

Mit Schriftsatz des gesetzlichen Vertreters des Beschwerdeführers vom 16.10.2017 wurde unter Berufung auf zahlreiche Länderinformationen zu Afghanistan u.a. eine asylrelevante Gefährdung des Beschwerdeführers aufgrund seiner Minderjährigkeit und des Fehlens jeglicher sozialer Anknüpfungspunkte in Afghanistan geltend gemacht.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I 100 (im Folgenden: AsylG 2005), als auch hinsichtlich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm nicht einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, sondern erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte die Zulässigkeit seiner Abschiebung fest (Spruchpunkt III.) sowie sprach aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).

3. Gegen diesen Bescheid wendete sich die rechtzeitig erhobene und zulässige Beschwerde des gesetzlichen Vertreters des Beschwerdeführers, in der Verfahrensmängel und die Rechtswidrigkeit des Bescheidinhalts gerügt wurden. Insbesondere habe sich die belangte Behörde mit der Stellungnahme vom 16.10.2017 überhaupt nicht auseinandergesetzt. Neuerlich wurde auf die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund einer Heimkehr in einen Herkunftsstaat, den der Beschwerdeführer noch nie zuvor betreten habe, hingewiesen.

4. Am 11.12.2017 langte die Beschwerde samt Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.

5. Am XXXX wurde die belangte Behörde von der Anklageerhebung gegen den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 2a SMG verständigt.

6. Mit dem nunmehr ebenfalls angefochtenen Bescheid vom 30.8.2019 sprach die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 sein Aufenthaltsrecht ab dem XXXX verloren habe. Begründend verwies die belangte Behörde auf die erhobene Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen vorsätzlich begangener strafbarer Handlungen, nämlich des Verstoßes gegen § 27 Abs. 2a SMG.

7. Mit Verfahrensordnungen vom 30.8.2019 wurde dem Beschwerdeführer von Amts wegen ein Rechtsberater gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG zur Seite gestellt und seinem gesetzlichen Vertreter mitgeteilt, dass das Aufenthaltsrecht im Falle eines Freispruchs im Strafverfahren wiederaufleben würde.

8. Gegen den Bescheid vom 30.8.2019 richtete sich die vorliegende zweite Beschwerde, in der u.a. Verfahrensmängel sowie die rechtliche Unrichtigkeit des Bescheidinhalts gerügt sowie beantragt wurde, einen Gesetzprüfungsantrag wegen § 2 Abs. 4 AsylG und § 13 Abs. 2 Z 2 – 4 AsylG 2005 zu stellen.

9. Mit Schriftsatz vom 8.10.2020 teilte der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers u.a. mit, dass der Beschwerdeführer mit 6.12.2019 aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten sei, sich nicht mehr als Muslim fühle und sein Leben nicht mehr nach den Grundsätzen des Islam führen wolle. Weiters wurden Länderberichte zur Situation von Apostaten in Afghanistan sowie zur allgemeinen Sicherheitslage zitiert sowie integrationsbescheinigende Unterlagen vorgelegt und Beweisanträge gestellt.

10. Am 2.2.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer mit einem Vertreter teilnahm und mittels Dolmetscher eingehend zu allen entscheidungsrelevanten Sachverhaltsaspekten befragt wurde. Auch zwei Zeuginnen wurden einvernommen.

Mit Schriftsatz vom 12.2.2021 wiederholte der Beschwerdeführer sein in der Verhandlung erstattetes Vorbringen wegen einer Gefährdung aufgrund seiner Apostasie. Ferner wurden Länderberichte über die allgemeine Lage in Afghanistan referiert.

11. Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt, in die beigeschafften Gerichtsurteile, in die vorgelegten Unterlagen des Beschwerdeführers sowie durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der Beschwerdeverhandlung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die – gemäß § 39 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG miteinander verbundenen – Beschwerden erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zur Situation im Herkunftsstaat:

1.1.1. Allgemeines

Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage. Die staatlichen Strukturen sind noch nicht voll arbeitsfähig. Tradierte Werte stehen häufig einer umfassenden Modernisierung der afghanischen Gesellschaft entgegen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 16.7.2020, S. 4).

Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen, das den Abzug der US-Truppen binnen 14 Monaten vorsieht. Auch die übrigen NATO-Truppen sollen abgezogen werden. Im Gegenzug verpflichteten sich die Taliban, terroristischen Gruppierungen, wie etwa al-Qaida, keine Zuflucht zu gewähren und binnen zehn Tagen nach Vertragsunterzeichnung Friedensgespräche mit einer afghanischen Regierungsdelegation aufzunehmen. Die Taliban zögerten den Einstieg in die Verhandlungen aufgrund der politischen Krise rundum die Präsidentschaftswahlen hinaus, warfen der Regierung vor, ihren Teil der von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre. Schließlich starteten im September 2020 die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar, ohne dass die Gewalt nachgelassen hätte. Da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, machen die Gespräche keine Fortschritte (LIB 16.12.2020, S. 18f.).

1.1.2. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil: Die afghanische Regierung behielt die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die afghanische Armee aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen (um Provinzhauptstädte herum stationierte) Koalitionstruppen – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation".

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020 – 30.9.2020 wurden 5.939 zivile Opfer verzeichnet. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Jedoch nahmen die Taliban-Attacken im Juni 2020 deutlich zu. Die Zahl ziviler Opfer stieg im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden.

Die UNAMA registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht. Es gab 2019 eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (LIB 16.12.2020, S. 22ff.).

Ein anderes Problem ist die Straßen-Kriminalität in den großen Städten Afghanistans: Im vergangenen Jahr wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet (LIB 16.12.2020, S. 36).

1.1.2.1. Situation in Kabul (Stadt/Provinz)

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans mit rund 4,5 Mio. Einwohnern. Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Jede ethnische, sprachliche bzw. religiöse Gruppe hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, wodurch eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden ist, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls.

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes, inklusive der Ring Road, welche die fünf größten Städte Afghanistans miteinander verbindet. Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher, weil dort Aufständische Teile der Straße kontrollieren, wobei sich Kontrollen der Aufständischen gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten. Der Highway Kabul-Jalalabad ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt“ gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind. 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, steht unter der Kontrolle der Taliban, wobei die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen haben. In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand November 2020 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (LIB 16.12.2020, S. 33ff.).

Die afghanische Regierung behielt die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen: So erfolgten Angriffe auf schiitische Feiernde und auf einen Sikhtempel in März 2020 sowie auf Bildungseinrichtungen, wie die Universität, oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020, für die allesamt der Islamische Staat die Verantwortung übernahm. Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich, was bei Angriffen in Kabul des Öfteren vorkommt (LIB 16.12.2020, S. 36).

Im Jahr 2019 wurden 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul dokumentiert, was einem Rückgang von 16% gegenüber 2018 entspricht. Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und gezielten Tötungen. Im letzten Quartal des Jahres 2019 sowie in den ersten Monaten des Jahres 2020 wurden in der Hauptstadt weniger Anschläge verübt. Seit dem zweiten Quartal 2020 hat die Gewalt wieder zugenommen. Neben Angriffen auf militärische Einrichtungen bzw. Sicherheitskräfte finden sowohl in Kabul-Stadt wie auch in den Distrikten der Provinz Straßenblockaden und Angriffe auf Highways durch bewaffnete Gruppierungen statt (LIB 16.12.2020, S. 37).

1.1.2.2. Situation in Herat

Herat gehört zu den „bessergestellten“ und „sichereren Provinzen“ Afghanistans und weist historisch im Vergleich zu anderen Teilen des Landes wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf (LIB 16.12.2020, S. 302).

Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet sich voneinander: Während einige Distrikte als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, kam es in Herat-Stadt in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte. Darüber hinaus fanden im Juli und September 2020 sowie Oktober 2019 Angriffe statt, die sich gegen Schiiten richteten. Je weiter man sich von der Stadt Herat, die im Januar 2019 als „sehr sicher“ galt, und von ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban. Pushtkoh und Zerko befanden sich im Februar 2020 vollständig in ihrer Hand, während die Kontrolle der Regierung in Obe auf das Distriktzentrum beschränkt ist. In Shindand befindet sich angeblich das „Taliban-Hauptquartier“ von Herat. Die Taliban kontrollierten Ende November 2020 jedoch keinen Distrikt von Herat vollständig. Mehrere Distrikte wie Adraskan, Ghoryan, Gulran, Kushk, Kushk-i-Kuhna, Obe und Shindand sind umstritten, während die Distrikte um die Stadt Herat unter der Kontrolle der Regierung stehen (LIB 16.12.2020, S. 99).

Im Jahr 2019 wurden 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat gezählt. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper, gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen. Im Jahr 2020 wurden mehrere Fälle von zivilen Opfern aufgrund von Luftangriffen gemeldet. Es kam in mehreren Distrikten der Provinz Herat zu Kämpfen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban sowie zu Angriffen der Taliban auf Regierungseinrichtungen (LIB 16.12.2020, S. 100f.).

1.1.2.3. Situation in Mazar-e Sharif

Balkh, deren Hauptstadt Mazar-e Sharif ist, zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen. Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Kontrolle der Taliban stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten.

Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oft Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem (LIB 16.12.2020, S. 59).

Im Jahr 2019 wurden 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh gezählt. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und gezielten Tötungen. Im Zeitraum 1.1.-30.9.2020 wurden 553 zivile Opfer (198 Tote, 355 Verletzte) in der Provinz dokumentiert, was mehr als eine Verdopplung gegenüber derselben Periode im Vorjahr ist. Im ersten Halbjahr 2020 war hinsichtlich der Opferzahlen die Zivilbevölkerung in den Provinzen Balkh und Kabul am stärksten vom Konflikt in Afghanistan betroffen. Der UN-Generalsekretär zählte Balkh in seinen quartalsweise erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage in Afghanistan im März und Juni 2020 zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes, und auch im September galt Balkh als eine der Provinzen mit den schwersten Taliban-Angriffen im Land. Es kam zu direkten Kämpfen und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren oder Sicherheitsposten (LIB 16.12.2020, S. 60f.).

1.1.3. Versorgungslage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif

Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen, tätig ist. Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung. Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten. Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Tagelöhners in Afghanistan variiert zwischen 100 AFN und 400 AFN pro Tag (LIB 16.12.2020, S. 301f.)

Das rasante Wachstum der Stadt verstärkte Probleme wie unangemessene Unterkünfte, unzureichende sanitäre Einrichtungen, Landraub und fehlende Eigentumsurkunden, Armut, Verkehr, Umweltverschmutzung und Kriminalität. Der erhöhte Wasserverbrauch in Kabul angesichts des Wachstums der informellen Siedlungen ist eine potenzielle Quelle für Spannungen. Die Kaufkraft verschlechterte sich in Kabul, wobei von einem Rückgang der Kaufkraft von Gelegenheitsarbeitern um 31% ausgegangen wird (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 30.9.2020, S. 20f.).

Was die Nahrungsmittelversorgung betrifft, bewertet das FEWS NET die Versorgungslage in Herat und in Mazar-e Sharif mit Phase 2 (Phase 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“), wonach die Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage sind, sich wesentliche, nicht-nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden.

Die COVID-19-Pandemie und der damit einhergehende Lockdown hatten katastrophale Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der afghanischen Bürger: Aufgrund des Lockdowns verloren rund sechs Mio. Menschen Arbeit und Einkommen (siehe dazu auch weiter unten unter 1.1.7.5). Die Inflation der Preise bei Grundnahrungsmitteln wie Öl und Kartoffeln verschärfte die wirtschaftliche Notlage eines erheblichen Teils der afghanischen Bevölkerung (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Masar-e Sharif vom 16.10.2020).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat (wie in den anderen Städten Afghanistans auch) für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar: Viele Menschen der städtischen Population leben in Slums oder inadäquaten Unterkünften, doch besteht in Herat grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70 %) und zu Abwasseranlagen (30 %). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO Guidance 2019, S. 133).

1.1.4. Ethnische Minderheiten und Religion

Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Nichtsdestotrotz besteht soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 16.7.2020, S. 8).

Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert; sie bekleiden inzwischen auch prominente Stellen im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB 16.12.2020, S. 258f.). Die schiitische Konfession der meisten Hazara hat zur Folge, dass Hazara regelmäßig Opfer von Anschlägen des Islamischen Staates werden. Auch 2020 wurden bereits mehrere Anschläge gegen Hazara bzw. Schiiten verübt.

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformerische Muslime behindert (LIB 16.12.2020, S. 248).

Neben der strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen. Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird. Nicht-muslimische religiöse Minderheiten werden durch das geltende Recht diskriminiert. So gilt die hanafitische Rechtsprechung (eine der Rechtsschulen des sunnitischen Islams) für alle afghanischen Bürger unabhängig von ihrer Religion. Sofern alle Parteien schiitische Muslime sind, kann schiitisches Recht angewandt werden, in Familiensachen wird auf die jafarische Scharia zurückgegriffen. Nicht-Muslime sind per Verfassung von den höchsten Ämtern in Afghanistan, einschließlich des Präsidenten- und Vizepräsidentenamtes, ausgeschlossen. Bei höheren Ämtern (Minister, Parlamentarier, Richter) muss im Amtseid die Loyalität zum Islam bestätigt werden (Bericht des deutschen Außenamtes vom 16.7.2020, S. 9).

1.1.5. Menschenrechtslage

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen (u. a. von Frauen wegen „moralischer Straftaten“) und sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Weitere Probleme sind Gewalt gegenüber Journalisten, Verleumdungsklagen, durchdringende Korruption und fehlende Verantwortlichkeit und Untersuchung bei Fällen von Gewalt gegen Frauen. Diskriminierung von Behinderten, ethnischen Minderheiten sowie aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung besteht weiterhin mit geringem Zuschreiben von Verantwortlichkeit (LIB 16.12.2020, S. 235).

Ob eine Person bedroht ist, kann nur unter Berücksichtigung regionaler und lokaler Gegebenheiten und unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls, wie Ethnie, Konfession, Geschlecht, Familienstand und Herkunft, beurteilt werden (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 16.7.2020, S. 6).

Personen, die aus Afghanistan fliehen, können einem Verfolgungsrisiko aus Gründen ausgesetzt sein, die mit einem fortwährenden Konflikt in Afghanistan oder mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die nicht in direkter Verbindung zum Konflikt stehen, zusammenhängen oder auf Grund einer Kombination aus beiden Gründen. Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab (Bericht des deutschen Außenamtes vom 16.7.2020, S. 18).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister. Das Personenstands- und Urkundenwesen ist kaum entwickelt. Die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Wegen Verwendung von Wohnungen zur Vorbereitung terroristischer oder krimineller Taten in der Vergangenheit müssen insbesondere in Kabul und in Mazar-e Sharif unter Umständen (z.B. in Stadtzentren) gewisse Melde- und Ausweisvorgaben beim Mieten einer Wohnung oder eines Hauses erfüllt werden. Gemäß gesetzlichen Vorgaben haben Mieter und Vermieter beim Mietvertragsabschluss ihre Identität mit einem Ausweis nachzuweisen, was jedoch nicht immer eingehalten wird. In Gebieten ohne hohes Sicherheitsrisiko ist es oftmals möglich, ohne Identitätsnachweis oder Registrierung bei der Polizei eine Wohnung zu mieten. Dies hängt allerdings auch vom Vertrauen des Vermieters in den potentiellen Mieter ab (LIB 16.12.2020, S. 296). Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 16.7.2020, S. 18).

1.1.6. Rückkehr

1.1.6.1 Rückkehrmöglichkeiten

In Afghanistan gibt es insgesamt vier internationale Flughäfen (in Kabul, Herat, Mazar e-Sharif und Kandahar); alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnet die afghanische Luftfahrtindustrie einen Anstieg in der Zahl ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung (LIB 13.11.2019, S. 15 und 209).

1.1.6.2 Rückkehrsituation

Von 1.1.2020 bis 12.9.2020 sind 527.546 undokumentierter Afghanen aus Iran (523.196) und Pakistan (4.350) nach Afghanistan zurückgekehrt. Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (LIB vom 16.12.2020, S. 321).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen: Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit, sich darauf einzustellen, ist Hilfe von Hilfsorganisationen nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind.

1.1.5.3 Soziale Verhältnisse für Rückkehrer

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte.

Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein: Über sie können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird. UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB vom 16.12.2020, S. 322).

Rückkehrer aus Europa und anderen Regionen der Welt werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Gleichzeitig hängt ihnen insbesondere innerhalb ihrer Familien oftmals der Makel des Scheiterns an. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (Bericht des deutschen Außenamtes vom 16.7.2020, S. 25). Es gibt Fälle zwangsrückgeführter Afghanen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt wurden, „verwestlicht“ und damit unislamisch zu sein, und die verdächtigt wurden, ein Spion zu sein. Auch wird geglaubt, Rückkehrer aus Europa wären reich und würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB 16.12.2020, S. 323). Dass afghanische Rückkehrer aufgrund einer wahrgenommenen „Verwestlichung“ mit Misstrauen konfrontiert sind, betrifft nicht alle Rückkehrer, da es so viele Afghanen gibt, die einmal Flüchtlinge gewesen sind. Es kommt aber mit gewisser Regelmäßigkeit vor und betrifft insbesondere schiitische Hazara, die bereits von vielen nicht als „echte Muslime“ angesehen werden (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 15.6.2020, S. 17).

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig. Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (LIB 16.12.2020, S. 323f.).

1.1.6.4 Gesundheitsversorgung

Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet kaum bis gar nicht statt. Insbesondere im Zuge der Covid-19-Pandemie zeigten sich Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das bei Vorsorge (Schutzausstattung), Diagnose (Tests) sowie medizinischer Versorgung von Erkrankten akute Defizite aufwies (Bericht des deutschen Außenamtes vom 16.12.2020, S. 23).

Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Die Voraussetzung zur kostenfreien Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis bzw. Tazkira. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinz-Level ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet, und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinz-Level oder höher vorgenommen werden; auf Distriktsebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden. Zahlreiche Afghanen begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB 16.12.2020, S. 310f.).

Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in manchen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Menschen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und unter anderem bei folgenden Organisationen behandelt werden: bei International Psychosocial Organisation (IPSO) Kabul, Medica Afghanistan und PARSA Afghanistan. In folgenden Krankenhäusern kann man außerdem Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen erhalten: Mazar-e -Sharif Regional Hospital: Darwazi Balkh; in Herat das Regional Hospital und in Kabul das Karte Sae mental hospital. Es gibt ein privates psychiatrisches Krankenhaus in Kabul, aber keine spezialisierten privaten Krankenhäuser in Herat oder Mazar-e Sharif. Dort gibt es lediglich Neuropsychiater in einigen privaten Krankenhäusern (wie dem Luqman Hakim private hospital) die sich um diese Art von Patienten tagsüber kümmern. In Mazare-e Sharif existiert z.B. ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB 16.12.2020, S. 318 f.).

Viele Menschen in Afghanistan haben konfliktbedingt keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Die Behandlung von Traumata gilt als einer der wesentlichsten Mängel im öffentlichen Gesundheitswesen Afghanistans. Medizinische Einrichtungen werden zunehmend zum Ziel militärischer Angriffe (ACCORD Themendossier zur Sicherheits- und sozioökonomischen Lage in Herat und Masar-e Sharif vom 16.10.2020).

1.1.6.5 COVID-19-Pandemie in Afghanistan

Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat.

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020). (LIB 16.12.2020, S. 12).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat, wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe, wie Öl, deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark.

Verfügbare Indikatoren zeigen Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen weiter verschärft. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB 16.12.2020, S. 13f.).

1.1.7. Konversion zum Christentum sowie Apostasie

Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen. Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Laut islamischer Rechtsprechung soll jeder Konvertit drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken.

Konvertiten vom Islam zum Christentum werden von der Gesellschaft nicht gut behandelt, weswegen sie sich meist nicht öffentlich bekennen. Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens, da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (LIB 16.12.2020, S. 253f.).

Exkurs: UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und EASO-Country Guidance vom Juni 2019 zu internen Schutzalternativen in afghanischen Städten:

UNHCR stellt fest, dass gerade Zivilisten, die in städtischen Gebieten ihren tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer dieser Gewalt zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe, sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.

UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist (UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018).

Jener Gruppe von Rückkehrern nach Afghanistan, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, fehlen möglicherweise wesentliche zur Deckung grundlegender existenzieller Bedürfnisse erforderliche Ortskenntnisse, die durch ein bestehendes Unterstützungsnetzwerk vermittelt werden könnten. Zu berücksichtigen ist somit die Existenz eines Unterstützungsnetzwerks, die Ortskenntnis bzw. Verbindungen zu Afghanistan sowie der soziale und wirtschaftliche Hintergrund, insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans (EASO Guidance 2019, S. 135 – 139).

1.2 Zur Person des Beschwerdeführers:

1.2.1 Der volljährige Beschwerdeführer trägt den im Spruch genannten Namen, ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und wurde am XXXX im Iran geboren. Er ist ledig und hat keine Kinder. Im Iran, wo er auch fünf Jahre lang zur Schule ging, verbrachte der Beschwerdeführer sein gesamtes Leben bis zu seiner Ausreise nach Europa. Sein Vater, ein afghanischer Staatsangehöriger, und seine Mutter, eine iranische Staatsangehörige, leben – ebenso wie ein jüngerer Bruder und zwei Schwestern – nach wie vor im Iran. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie in Kontakt. Eine Schwester des Beschwerdeführers, welcher der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, lebt in Österreich.

Im Übrigen verfügt der Beschwerdeführer über keine familiären und sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan.

1.2.2 Der – gesunde – Beschwerdeführer hat die Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau B1 absolviert, an einem Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds teilgenommen, im Sommersemester 2018 eine Polytechnische Schule besucht und die 9. Schulstufe abgeschlossen. Er hat des Weiteren an einem Kurs der Universität sowie einem schulanalogen Bildungsangebot des Jugendcollege StartWien teilgenommen. Der Beschwerdeführer konnte in Österreich freundschaftliche Kontakte knüpfen, engagiert sich in Vereinen und ist Mitglied bei einem Fußballverein. Seit rund drei Jahren befindet sich der Beschwerdeführer in einer Beziehung mit einer österreichischen Frau, mit der er zwar nicht zusammenwohnt, aber in deren Haushalt er öfters übernachtet. Sie sehen einander fast täglich.

1.2.3 Mit 16.12.2019 ist der Beschwerdeführer aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten, hat sich jedoch während seines Aufenthaltes in Österreich (noch) nicht aus innerer Überzeugung vom islamischen Glauben endgültig gelöst. Er tritt nicht spezifisch gegen den Islam oder religionsfeindlich auf. Ihm würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgung bzw. Eingriffe in die körperliche Integrität aus Gründen der Apostasie von staatlicher Seite oder von anderen Personen oder Gruppen, insbesondere durch islamische Gruppierungen oder fundamentalistische Einzelpersonen, drohen. Der Beschwerdeführer ist aktuell in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt.

1.2.4 Eine Herkunftsregion des Beschwerdeführers kann nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer kann nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in bestimmte Landesteile, wie insbesondere die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif verwiesen werden. Dem Beschwerdeführer wäre es im Fall einer Niederlassung in diesen Städten nicht möglich, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, so wie es auch seine Landsleute führen können. Im Fall einer dortigen Ansiedlung liefe er Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung, nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

1.2.5 Mit Urteil des LG für Strafsachen Wien vom XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 2a zweiter Fall SMG iVm § 5 Z 4 Jugendgerichtsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt, wobei ausgesprochen wurde, dass die Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wird. Es wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer am 25.07.2019 auf einer öffentlichen Verkehrsfläche vorschriftswidrig XXXX einer anderen Person öffentlich gegen Entgelt überlassen hat. Begründend wurde ausgeführt, dass eine diversionelle Erledigung nicht in Betracht gekommen sei, weil beim Angeklagten aufgrund des professionellen Vorgehens ein schweres Verschulden vorliege und bereits ein Verfahren wegen des Vorwurfes nach § 27 Abs. 2a SMG im Jahr 2018 diversionell erledigt worden sei. Der Angeklagte habe die Straftaten nicht vorwiegend deshalb begangen, um sich für seinen persönlichen Gebrauch Suchtmittel oder Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen, sondern er habe sich mit dem Gewinn etwas zu Essen kaufen wollen.

Mit Urteil des LG für Strafsachen Wien vom XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB und wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Monaten bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt. Festgestellt wurde u.a., dass der Beschwerdeführer und zwei Mittäter am 28.07.2019 gemeinsam auf eine andere Person einschlugen, die dadurch eine Gehirnerschütterung, eine Prellung des Kopfes, eine Rissquetschwunde im Bereich der Oberlippe und einen Bruch des ersten Mittelhandknochens links erlitt. Als mildernd wertete das Gericht das Geständnis des Beschwerdeführers sowie den teilweisen Versuch; als erschwerend erachtete das Gericht das Zusammentreffen eines Verbrechens mit mehreren Vergehen.

2. Diese Feststellungen gründen auf folgender Beweiswürdigung:

2.1 Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten. Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation basiert auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen und gewährleistet einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Afghanistan. Ein entsprechender Beweiswert dieser Informationen ergibt sich für das Bundesverwaltungsgericht schon daraus, dass aufgrund von § 5 Abs. 2 BFA-Einrichtungsgesetz vorgesehen ist, dass die gesammelten Tatsachen länderspezifisch zusammenzufassen, nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten (als allgemeine Analyse) und in allgemeiner Form zu dokumentieren sind. Die Dokumentation ist weiters in Bezug auf Fakten, die nicht oder nicht mehr den Tatsachen entsprechen, zu berichtigen. Eine allenfalls auf diese Tatsachen aufbauende Analyse ist schließlich richtig zu stellen. Sofern dem LIB Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass die Informationen über die Lage im Herkunftsstaat regelmäßig aktualisiert werden und jene Informationen, die nicht durch neue Berichte ersetzt werden, mangels einer maßgeblichen Änderung der Sachlage nach wie vor relevant für die Lagebeurteilung im Herkunftsstaat sind. Für das Bundesverwaltungsgericht bestand kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Ihre Richtigkeit wurde auch von den Verfahrensparteien nicht bestritten. Für das Bundesverwaltungsgericht bestand kein Grund, an der Richtigkeit der Länderberichte, die sowohl von staatlichen Stellen, wie dem deutschen Außenamt, als auch von renommierten Nichtregierungsorganisationen stammen, zu zweifeln.

Soweit sich der Beschwerdeführer in seiner Stellungnahme vom 12.2.2021 zur Situation von Apostaten in Afghanistan auf die ACCORD-Anfragebeantwortung vom 1.6.2017 sowie auf den Bericht von Landinfo vom September 2013 bezog, so findet ihr Inhalt – auch wenn diese Berichte älteren Datums sind – in den Länderfeststellungen Deckung.

2.2 Zur Person des Beschwerdeführers:

2.2.1 Die Feststellungen zur Nationalität und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seinem Aufenthalt im Iran sowie zu seinen familiären und verwandtschaftlichen Verhältnissen beruhen auf den im Verfahrensverlauf gleichbleibenden und stimmigen sowie insoweit unbedenklichen Angaben des Beschwerdeführers. Dies gilt gleichermaßen für die Feststellung, dass der Beschwerdeführer gesund ist und über keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan verfügt (S. 5 der Verhandlungsniederschrift).

2.2.2 Sein Vorbringen über seine Integration in Österreich konnte der Beschwerdeführer auch mit integrationsbescheinigenden Unterlagen untermauern. Die Feststellungen über seine Beziehung zu einer Österreicherin gründet nicht nur auf seinen Angaben, sondern auch auf der glaubwürdigen Aussage der in der Verhandlung als Zeugin einvernommenen Freundin (S. 14f. der Verhandlungsniederschrift).

Die Feststellungen über seine strafgerichtlichen Verurteilungen beruhen auf einem amtswegig eingeholten Strafregisterauszug sowie den beigeschafften Urteilen.

2.2.3 Seinen Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft hat der Beschwerdeführer mit der vorgelegten Bestätigung des Magistrats der Stadt Wien nachgewiesen. Die Feststellungen, dass sich der Beschwerdeführer (noch) nicht aus innerer Überzeugung endgültig vom islamischen Glauben gelöst hat und ihm weder wegen Apostasie noch aus anderen Gründen Verfolgung in Afghanistan droht, beruht auf folgenden Erwägungen:

2.2.3.1 Die Asylbehörden bzw. das Bundesverwaltungsgericht haben nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs in der Beweiswürdigung den realen Hintergrund der vom Asylwerber vorgetragenen Verfolgungsgründe in ihre Überlegungen einzubeziehen und die Glaubwürdigkeit seiner Behauptungen auch im Vergleich zur einschlägigen Berichtslage zu messen (etwa VwGH 11.04.2018, Ra 2018/20/0040, Rn. 16 mwN). Den Länderfeststellungen zufolge wird Apostasie nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf dem die Todesstrafe steht; im Alltag kann schon der Verdacht eines Wechsels der Religion bzw. der Abfall vom Islam Drohungen und Angriffe nach sich ziehen. Apostaten sind – so die Länderfeststellungen – Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt (siehe oben 1.1.7.). Wenn auch die Behauptung des Beschwerdeführers, dass Apostaten in Afghanistan als solche von Verfolgung bedroht sind, in den Länderfeststellungen Deckung findet, bedeutet dies nicht, dass die (vorgebrachte) individuelle Verfolgung des Beschwerdeführers wegen Glaubensabfalls den Feststellungen zugrunde zu legen ist, setzt dies doch voraus, dass der Beschwerdeführer seine Religionszugehörigkeit aus ideellen Gründen abgelegt und seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal versteht (siehe dazu z.B. VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0308 mwN).

Ein derart tiefgreifender Glaubensabfall mit einem damit verbundenen Wertewandel konnte beim Beschwerdeführer aus folgenden Gründen nicht festgestellt werden:

Zunächst ist zu bemerken, dass der Beschwerdeführer noch in seiner Einvernahme vom 3.10.2017 angegeben hat, Muslim zu sein (S. 3 des Einvernahmeprotokolls), und seinen Abfall vom islamischen Glauben (sowie den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft per 6.12.2019) erst mit Schriftsatz vom 8.10.2020 bekannt gegeben hat.

In der Beschwerdeverhandlung am 2.2.2021 konnte der Beschwerdeführer das Bundesverwaltungsgericht davon überzeugen, dass er – abseits des Austritts aus der islamischen Glaubensgemeinschaft – den islamischen Glauben in Österreich nicht praktiziert und sich emotional von ihm distanziert hat (siehe S. 9 der Verhandlungsniederschrift sowie die Zeugenbefragung auf S. 13f. der Verhandlungsniederschrift), nicht aber davon, dass er den Islam aus innerer Überzeugung ablehnt. Der Beschwerdeführer vermittelte insgesamt das Bild eines im Islam aufgewachsenen und sozialisierten Menschen, der schon seit langem der Religion bzw. den Religionen an sich desinteressiert gegenübersteht (S. 9 der Verhandlungsniederschrift: „Was muss ein guter Muslim alles tun? – BF: Das weiß ich nicht genau, ich habe auch nicht viele Informationen über Muslime und Christen.“). Seine Ausführungen in der Verhandlung – iVm dem Verlauf seines Aufenthalts und seiner Integration in Österreich – hinterließen den Eindruck, dass der Beschwerdeführer gewiss den in Österreich kennen gelernten Lebensstil mit Glaubens- und Meinungsfreiheit gegenüber den als Kind im Iran gemachten Erfahrungen präferiert, wobei dies auch von einem Verlust des Interesses am Glauben begleitet ist (zur Frage der Verinnerlichung der westlichen Lebensweise und Werte siehe unten 2.2.3.2). Die in der Beschwerdeverhandlung zutage getretenen geringen Kenntnisse des Beschwerdeführers über den Islam lassen jedoch nicht erkennen, dass der Beschwerdeführer im Iran ein streng gläubiges Leben geführt hat, von dem er nunmehr bewusst abgegangen wäre.

Auch die vom Beschwerdeführer auf entsprechende Nachfrage genannten Gründe für seinen Glaubensabfall vermögen nicht davon zu überzeugen, dass er sich vom Islam aus innerer Überzeugung endgültig abgewendet hätte: Zum einen machte der Beschwerdeführer seine Kritik nicht am islamischen Glauben selbst fest, sondern an offenbar fundamentalistischen Strömungen, die er ablehnt (S. 8 der Verhandlungsniederschrift: „Ich habe auf Facebook Filme geschaut, von Muslimen, die im Namen des Islams andere Menschen getötet haben.“; S. 12 der Verhandlungsniederschrift: „Ich habe ihr gesagt, dass ich … kein Muslim bleiben kann und andere Menschen unmenschlich behandeln.“), sowie an gesellschaftlichen Gepflogenheiten, denen er kritisch gegenüber steht (S. 12 der Verhandlungsniederschrift). Zum anderen erschien bei der Frage nach den Gründen für den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft auch die wiederholte Bezugnahme des Beschwerdeführers auf andere Personen bzw. Freunde auffällig (S. 8 der Verhandlungsniederschrift: „Ich habe darüber auch mit einem Freund gesprochen, und sie sagten auch, dass sie vom Islam austreten werden. … und dann habe ich darüber mit einer Dame … gesprochen und sie hat mir erzählt, was für ein hartes Leben die Frauen im Iran haben. Die Frauen haben dort keine Rechte und sie werden von den Mullahs unter Druck gesetzt. Dann habe ich beschlossen, von dieser Religion auszutreten.“). Ähnliche Ausführungen des Beschwerdeführers im Laufe der Beschwerdeverhandlung vermitteln insgesamt den Eindruck, dass sein soziales Umfeld eine wichtige Rolle für die Bestimmung des Verhältnisses des Beschwerdeführers zum Islam einnimmt (vgl. S. 10 der Verhandlungsniederschrift und sowie die Zeugenbefragung auf S. 13 der Verhandlungsniederschrift). Vor diesem Hintergrund – und unter Bedachtnahme auf das jugendliche Alter des Beschwerdeführers – bestehen erhebliche Zweifel daran, dass die ablehnende Haltung des Beschwerdeführers als endgültig und gefestigt anzusehen ist.

Den Ausführungen des Beschwerdeführers konnte entnommen werden, dass sich seine Ablehnung gegen den Islam vor allem auf das Einhalten islamischer Verhaltensregeln konzentriert, ließen aber insgesamt keine innerliche Beschäftigung des Beschwerdeführers mit der Religion oder eine in die Tiefe gehende diskursive Auseinandersetzung mit religiösen Themen erkennen. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer provokant seinen Glaubensabfall öffentlich zur Schau stellen und z.B. demonstrativ das Fasten ignorieren würde, oder dass er speziell gegen den Islam oder religionsfeindlich auftreten würde. Anders als etwa im Verfahren zu W110 2166675-1 hinterließen die Aussagen des Beschwerdeführers nicht den Eindruck, dass sie Ergebnis eines länger andauernden und abg

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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