TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/26 W248 2179308-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.03.2021
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Entscheidungsdatum

26.03.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W248 2179308-1/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Graz, vom 14.11.2017, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.11.2020 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

III. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides aufgehoben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

IV. XXXX wird der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1        Verfahrensgang:

1. XXXX , geb. XXXX , (im Folgenden: Beschwerdeführer), ein afghanischer Staatsbürger, stellte am 19.03.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, XXXX , am 20.03.2016, gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen und am XXXX in der afghanischen Provinz Faryab geboren zu sein. Er sei afghanischer Staatsbürger und gehöre der Volksgruppe der Usbeken und der Religionsgemeinschaft der Sunniten an. Der Beschwerdeführer führte weiters aus, ledig zu sein und keine Kinder zu haben. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei zuletzt Schüler gewesen und habe etwa sieben Jahre lang eine Grundschule in Afghanistan besucht. Er stamme aus dem Dorf XXXX , welches in der Provinz Faryab liege. Der Beschwerdeführer gab weiters an, dass sein Bruder bereits verstorben sei sowie, dass er keine weiteren Geschwister habe. Vor etwa zwei Monaten habe er den Entschluss gefasst, Afghanistan zu verlassen. Die Reise nach Europa sei von seinem Vater organisiert worden und habe etwa zwei Monate gedauert.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass die Taliban ihn und seine Familie unter Druck gesetzt hätten. Er hätte mit den Taliban zusammenarbeiten und sich ihnen anschließen sollen. Sein Vater habe dem Beschwerdeführer daher geraten, Afghanistan zu verlassen, weil er ansonsten getötet werden würde.

3. Am 13.04.2016 wurde die Vollmacht für die XXXX , ausgestellt vom XXXX , vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft XXXX , als gesetzliche Vertretung des minderjährigen Beschwerdeführers, übermittelt.

4. Am 15.09.2017 beantragte der Beschwerdeführer die Akteneinsicht mit Ausfolgung einer Kopie der Niederschrift der Erstbefragung, welche am 06.10.2017, nach der Einvernahme, gewährt wurde.

5. Am 06.10.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einem Dolmetscher für die Sprache Dari statt.

Der Beschwerdeführer korrigierte diverse Angaben aus der Erstbefragung und führte aus, dass es einige Fehler im Protokoll gebe. Seine Eltern hätten denselben Nachnamen wie der Beschwerdeführer und seien nicht über 70, sondern etwa 45 Jahre alt. Sein Bruder XXXX sei nicht verstorben, und der Beschwerdeführer sei nicht sieben, sondern nur fünf Jahre in die Schule gegangen. Weiters korrigierte er, dass er aus dem Dorf XXXX stamme, welches im Distrikt XXXX , in der afghanischen Provinz Fayrab, liege.

Der Beschwerdeführer führte weiters aus, bis zu seiner Ausreise in seinem Heimatdorf gelebt zu haben. Seine Reise nach Österreich habe etwa drei Jahre gedauert. Er habe sich etwa ein oder zwei Wochen in Pakistan, anschließend etwa ein Jahr im Iran und sechs Monate in der Türkei aufgehalten. Die finanzielle Situation seiner Familie sei gut gewesen, da die Familie ein Haus und Grundstücke habe. Der Beschwerdeführer habe keine Berufserfahrung und sei nur Schüler gewesen. Seine Eltern würden sich noch im Herkunftsdorf befinden, und er habe etwa einmal pro Woche telefonischen Kontakt. Zu seinem einzigen Bruder, der im Iran lebe, bestehe allerdings kein Kontakt.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Heimatdorf unter der Kontrolle der Taliban und der Daesh (IS) stehe. Insgesamt sei der Beschwerdeführer drei Mal von den Taliban angesprochen worden. Sie seien in die Schule gekommen und hätten versucht, die Schüler zu rekrutieren. Der letzte Rekrutierungsversuch habe etwa 20 Tage vor seiner Ausreise stattgefunden. Diesbezüglich sei der Beschwerdeführer von zwei bewaffneten Personen angesprochen worden, die ihn zur Zusammenarbeit gegen Bezahlung aufgefordert hätten. Er sollte mit den Taliban und den Daesh zusammenarbeiten und Informationen über die Polizei beschaffen. Etwa 15 Tage vor seiner Ausreise sollte der Beschwerdeführer einen Brief im Nachbardorf XXXX zustellen. Der Beschwerdeführer sei auch persönlich von den Taliban oder den Daesh bedroht worden. Er sei weiters aufgefordert worden, in ihr Lager, welches sich auf dem Berg XXXX befunden habe, zu kommen. Da sich die Lage insgesamt verschlimmert habe, hätten die Eltern des Beschwerdeführers beschlossen, dass beide Söhne Afghanistan verlassen sollten. Der Beschwerdeführer habe Afghanistan gemeinsam mit seinem Cousin väterlicherseits verlassen. Sein älterer Bruder sei etwa 10 bis 20 Tage nach dem Beschwerdeführer ausgereist. Den Cousin habe der Beschwerdeführer im Iran verloren. Seine Eltern würden sich noch im Heimatdorf befinden, sie seien Lehrer und könnten nicht flüchten. Im Iran habe der Beschwerdeführer bei seinem dortigen Arbeitgeber gelebt und sich durch sein Gehalt selbst versorgt.

Der Beschwerdeführer legte diverse Integrationsunterlagen vor.

6. Am 19.07.2017 übermittelte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme und verwies auf seine Furcht vor Verfolgung und vor Zwangsrekrutierung durch die Taliban bzw. durch den IS. Es sei bereits eine persönliche Anwerbung auf der Straße bzw. in der Schule erfolgt, und der Beschwerdeführer habe auch bereits einen konkreten Auftrag erhalten. Der Aufforderung, einen Brief in das benachbarte Dorf zu bringen, sei der Beschwerdeführer allerdings nicht nachgekommen. Durch die Weigerung zur Zusammenarbeit werde dem Beschwerdeführer eine pro-westliche politische Gesinnung unterstellt. Als junger Mann im wehrfähigen Alter sei er besonders gefährdet. Der afghanische Staat könne den Beschwerdeführer nicht vor den Taliban bzw. dem IS schützen. Er habe, bis auf seine Eltern in der Herkunftsprovinz, lediglich einen Onkel in Kabul, zu welchem jedoch kein Kontakt bestehe. Der Beschwerdeführer verwies weiters auf die allgemein schlechte Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere in der Provinz Faryab und in Kabul. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm jedenfalls nicht zur Verfügung, zumal er über keinerlei familiäre Anknüpfungspunkte in Kabul verfüge.

7. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung des Bescheides gab das BFA die entscheidungsrelevanten Angaben des Beschwerdeführers wieder und traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Es wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen nicht glaubhaft habe darlegen können. Es sei nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer nicht gemeinsam mit seinem Bruder das Land verlassen habe. Seine Angaben betreffend seinen Bruder widersprächen jenen in der Erstbefragung, zumal er ursprünglich angegeben habe, dass sein Bruder verstorben sei. Eine fehlerhafte Protokollierung sei nicht anzunehmen, da die Niederschrift rückübersetzt worden sei und der Beschwerdeführer keine Korrekturen verlangt habe. Gemäß seinen Angaben stehe sein Heimatdorf unter der Kontrolle der Taliban, sodass dem Fluchtvorbringen insbesondere, dass er Informationen über die Polizei weiterleiten sollte, kein Glaube geschenkt werde. Der Beschwerdeführer habe sich auch in zeitliche Widersprüche hinsichtlich der Zustellung des Briefes verstrickt. So habe er ausgeführt, dass er den Brief etwa 15 Tage vor der Ausreise erhalten habe. Zuvor habe er allerdings angegeben, er sei etwa 20 Tage vor seiner Ausreise angesprochen worden. Letztlich habe der Beschwerdeführer widersprüchlich ausgeführt, dass der letzte Besuch der Taliban etwa eine Woche vor der Ausreise stattgefunden habe. Dass der Beschwerdeführer, trotz der Nichterfüllung des Auftrages der Taliban, weiterhin zur Schule gegangen sei, erscheine wenig lebensnah und unglaubwürdig. Weiters habe er explizit angeführt, dass er insgesamt drei Mal angesprochen worden sei. Widersprüchlich dazu habe der Beschwerdeführer an anderer Stelle mitgeteilt, dass die Taliban seit mehreren Jahren regelmäßig in die Schule kommen würden, um die Schüler zu rekrutieren. Kurz vor Ende der Einvernahme habe der Beschwerdeführer zusätzlich vorgebracht, dass er von den Taliban aufgefordert worden wäre, auf den Berg XXXX , zu ihrem Lager, zu kommen. Ein weiterer erheblicher Widerspruch ergebe sich betreffend die Reisedauer nach Europa, zumal er in der Erstbefragung als Dauer zwei Monaten und in der Einvernahme vor dem BFA drei Jahren angeführt habe. Die Behörde gehe davon aus, dass der Beschwerdeführer eine fiktive Geschichte entwickelt habe. Der Beschwerdeführer könne daher nach Afghanistan zurückkehren.

Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass die Heimatprovinz Faryab volatil sei, sodass eine Rückkehr in sein Herkunftsdorf, auch aufgrund der nicht sicheren Anreisemöglichkeit, nicht möglich sei. Dem Beschwerdeführer stehe jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul zur Verfügung.

Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 15.11.2017 zugestellt.

8. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 14.11.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.

9. Mit Schreiben vom 05.12.2017, eingelangt am 06.12.2017, erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides des BFA.

Der Beschwerdeführer brachte vor, dass er seine Angst vor Verfolgung substantiiert und nachvollziehbar vorgebracht habe. Sein Fluchtvorbringen stütze sich auf die Furcht vor Zwangsrekrutierung und Verfolgung durch die Taliban bzw. den IS sowie auf Verfolgungshandlungen aufgrund seiner Verweigerung der Zusammenarbeit. Der Beschwerdeführer habe eine wohlbegründete Furcht vorgebracht, zumal er bereits persönlich von den Taliban in seinem Dorf, auf offener Straße und in der Schule angesprochen und zur Zusammenarbeit und zur Spionage bei der Polizei aufgefordert worden sei. Weiters habe es bereits einen konkreten Auftrag gegeben, wonach der Beschwerdeführer einen Brief in das Nachbardorf zustellen sollte. Dieser Aufforderung sei er allerdings nicht nachgekommen. Durch seine Weigerung und seine anschließende Flucht habe der Beschwerdeführer eindeutig seine talibangegnerische politische Gesinnung zum Ausdruck gebracht. Er habe nicht gemeinsam mit seinem Bruder ausreisen können, da für eine gemeinsame Ausreise zu wenig Geld vorhanden gewesen sei. Die Eltern hätten sich entschieden, den jüngeren Sohn zuerst aus dem Land zu schicken, zumal der ältere Bruder mehr zur Geldbeschaffung habe beitragen können. Hinsichtlich der Widersprüche aus der Erstbefragung werde festgehalten, dass es sich um einen Farsi-sprechenden Dolmetscher gehandelt habe und der Beschwerdeführer diesen nicht gut verstanden habe. Zudem sei keine Rückübersetzung der Erstbefragung erfolgt. Die Behörde habe die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers nicht ausreichend berücksichtigt, zumal er bei seiner Flucht erst zwölf Jahre alt gewesen sei. Die Feststellung der Behörde, dass es im Heimatdorf aufgrund der Talibanpräsenz keine Polizeistation gebe, beruhe auf einem nicht ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren und sei daher haltlos und unschlüssig, zumal es einen Polizeiposten im Dorf gebe. Hinsichtlich der angeblichen Widersprüche, betreffend die Briefe, handle es sich rein sprachlich um keinen Widerspruch. Die Taliban hätten für den Beschwerdeführer die Zustellung von Briefen vorgesehen, und der erste Auftrag sei bereits konkret erteilt worden. Die Taliban würden aufgrund ihrer Präsenz bereits seit Jahren eine Gefahr darstellen. Die konkrete Bedrohung des Beschwerdeführers habe sich erst durch die persönlichen Anwerbungsversuche zur Zusammenarbeit ereignet. Seine Eltern seien beide Lehrer und könnten nur deshalb weiterhin im Herkunftsdorf leben, weil sie sich den strengen Regeln der Taliban unterwerfen würden. Lehrer würden per se eine Risikogruppe darstellen, sodass auch Familienangehörige gefährdet wären. Dem Beschwerdeführer stehe jedenfalls keine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul zur Verfügung, da er dort über keinerlei familiäre Anknüpfungspunkte verfüge, niemals in Kabul gewesen sei, über keine Berufsausbildung oder verwertbare Berufserfahrung verfüge und minderjährig sei. Der Beschwerdeführer verwies auf diverse Länderberichte über die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere in Kabul.

10. Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice (AMS) vom 12.12.2017 wurde dem Beschwerdeführer eine Beschäftigungsbewilligung für die Lehre als Koch erteilt.

11. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 13.12.2017 mit Schreiben vom 11.12.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

12. Am 03.05.2019 wurde eine Vollmacht des Beschwerdeführers für die XXXX vorgelegt.

13. Am 10.01.2020 wurde der Lehrvertrag des Beschwerdeführers mit der XXXX vom 15.12.2017 nachgereicht.

14. Mit XXXX vom 06.10.2020 teilte die Berufsausbildungsassistentin des Beschwerdeführers mit, dass der Beschwerdeführer seine Ausbildung Mitte Dezember abschließen werde und vom Ausbildungsbetreib als Mitarbeiter aufgenommen werde.

15. Am 04.11.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertretung und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde und die Möglichkeit hatte, diese umfassend darzulegen.

Der Beschwerdeführer führte aus, zu seinen Eltern seit etwa einem Jahr keinen Kontakt mehr zu haben. Er haben ebenfalls weder zu seinem im Iran lebenden Bruder, noch zu seinen Onkeln Kontakt.

Eingehend befragt zu seinem Fluchtvorbringen führte der Beschwerdeführer aus, dass sich der erste Kontakt mit den Taliban etwa 15 bis 20 Tage vor seiner Ausreise ereignet habe. Insgesamt sei er zwei Mal auf der Straße und einmal in der Schule von den Taliban angesprochen worden. Der Beschwerdeführer sollte für die Taliban spionieren und Briefe zustellen. Beim zweiten Kontakt habe er von den Taliban einen Brief und eine Adresse erhalten und sei aufgefordert worden, den Brief zuzustellen und die Antwort zurückzubringen. Der Beschwerdeführer habe den Brief seiner Familie gezeigt und diesen anschließend ungeöffnet weggeworfen. Die dritte Begegnung mit den Taliban habe in der Moschee stattgefunden. Die Taliban hätten versucht, mit dem Beschwerdeführer zu reden, er habe sich allerdings geweigert, mit ihnen zu sprechen. Seine Familie habe ihm geraten, das Land zu verlassen, da er aufgrund seiner Verweigerung der Zusammenarbeit von den Taliban getötet werden würde. Der Beschwerdeführer sei beim ersten Kontakt mit den Taliban insofern bedroht worden, als sie ihm die Waffen gezeigt und ihn gleichzeitig gefragt hätten, ob er mit ihnen zusammenarbeiten würde oder nicht. Die Familie habe sich nicht an die Polizei gewendet, da es keinen Polizeiposten im Dorf gebe. Der Beschwerdeführer hätte in einem anderen Distrikt in Dawulat Abad für die Taliban spionieren sollen. In seinem Herkunftsdorf, welches von den Taliban kontrolliert worden sei, habe es täglich nächtliche Kämpfe zwischen den Polizisten und den Taliban oder den Daesh gegeben. Der Beschwerdeführer führte ausdrücklich aus, zur Zusammenarbeit mit den Taliban und mit den Daesh aufgefordert worden zu sein. Im Fall einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer süchtig werden oder er müsste für die Taliban arbeiten. Innerhalb von zwei Monaten würde er ums Leben kommen.

Hinsichtlich seiner Reise nach Europa führte der Beschwerdeführer aus, ein Jahr im Iran, sieben Monate in der Türkei und zwei Monate in Mazedonien verbracht zu haben. Im Iran habe er seinen Bruder getroffen, der ihn allerdings weggeschickt und ihm jegliche Hilfe verweigert habe.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung konnte festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bereits sehr gut Deutsch spricht, zumal er in der Verhandlung die meisten Fragen auf Deutsch beantworten konnte. Zu seinem Leben in Österreich gab er an, dass seine Arbeitgeber wie „Eltern“ für ihn seien. Der Beschwerdeführer kenne die gesamte Familie. Er übernachte gelegentlich bei ihnen und werde an den Wochenenden zum Essen eingeladen. In der Arbeit seien sie sehr zufrieden mit ihm. Der Beschwerdeführer habe sich ehrenamtlich bei der Feuerwehr engagiert und helfe stets in seiner Nachbarschaft bei diversen Tätigkeiten aus.

Der Zeugin XXXX führte aus, die Arbeitgeberin des Beschwerdeführers zu sein und ihn etwa ein Monat vor seinem Lehrbeginn im Jahr 2017 kennengelernt zu haben. Er habe in ihrem Betrieb „geschnuppert“, und aufgrund seines großen Arbeitswillens und seiner Freude an der Arbeit habe sie beschlossen, den Beschwerdeführer zur Lehre aufzunehmen. Sie habe nur die besten Erfahrungen ihm gemacht. Die Zeugin führte weiters aus, den Beschwerdeführer jedenfalls weiterhin beschäftigen zu wollen, da er sehr wichtig für sie sei. Sie hätten gegenseitig, insbesondere durch den familiären Anschluss, bereits großes Vertrauen aufgebaut. Über sein großes Ziel, dereinst ein eigenes Restaurant zu eröffnen, sei die Zeugin informiert und unterstütze seine Ambitionen, auch wenn eine Verwirklichung nicht in naher Zukunft erwartet werden könne. Die Zeugin und ihre Familie verbringe regelmäßig ihre Freizeit mit dem Beschwerdeführer. Sie würden gemeinsam etwas unternehmen und der Beschwerdeführer sei zu sämtlichen Feierlichkeiten eingeladen. Die Zeugin führte weiters aus, auch eine emotionale Stütze für den Beschwerdeführer zu sein, zumal er stets zu ihr kommen könne, sollte er Probleme haben oder etwas brauchen.

Der Beschwerdeführer legte weitere Integrationsunterlagen sowie Schulungsunterlagen hinsichtlich seiner Lehre vor.

16. Am 05.11.2020 wurde das Protokoll der mündlichen Verhandlung betreffend die aktuellen Covid-19 Zahlen berichtigt. Aufgrund eines Kopierfehlers wurden veraltete Zahlen in das Protokoll eingefügt, obwohl die aktuellen Fallzahlen in der mündlichen Verhandlung mit dem Beschwerdeführer und seiner Vertretung besprochen wurden.

17. Mit Stellungnahme vom 11.11.2020 übermittelte der Beschwerdeführer eine verbindliche Einstellungzusage seines Lehrbetriebes vom 11.11.2020. Zu seinen Integrationsbemühungen führte er aus, Deutsch auf Niveau B1 zu sprechen, viele österreichische Freunde zu haben und sehr liberal und offen eingestellt zu sein. Der Beschwerdeführer verwies insbesondere auf ein Schreiben der XXXX vom 13.02.2019.

18. Am 11.12.2020 übermittelte der Beschwerdeführer sein XXXX Abschlussprüfungszeugnis im Lehrberuf Koch vom 30.11.2020 und teilte mit, dass er seit 01.12.2020 Vollzeit in seinem Lehrbetrieb, im XXXX , angestellt sei.

19. Am 22.12.2020 wurde dem Beschwerdeführer das aktuelle Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom 16.12.2020 zum Parteiengehör übermittelt und eine Frist zur Stellungnahme von zwei Wochen gewährt.

20. Auf Antrag der XXXX ( XXXX ) am 04.01.2021 wurde die Frist zur Einbringung einer Stellungnahme bis zum 12.01.2021 erstreckt.

21. Am 12.01.2021 legte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme samt Vollmacht für die XXXX ( XXXX ) vor. Der Beschwerdeführer verwies auf die volatile Sicherheitslage seiner Herkunftsprovinz Faryab sowie auf die allgemein schlechte Wirtschafts- und Versorgungslage aufgrund der Covid-19 Pandemie. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei dem Beschwerdeführer nicht zumutbar, da er seit über einem Jahr keinerlei Kontakt zu seinen in Afghanistan lebenden Verwandten habe. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass sich junge, gesunde Männern in Mazar-e Sharif und Herat mit Gelegenheitsjobs eine Existenzgrundlage sichern könnten, selbst wenn sie kein soziales Netzwerk in Afghanistan hätten, sei aufgrund der Covid-19 Pandemie nicht mehr aktuell.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2        Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in

?        den Bezug habenden Verwaltungsakt,

?        das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem,

?        das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020,

?        die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018,

?        die EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis (Juni 2019 und Dezember 2020),

?        das ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020,

?        die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020,

?        die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020,

?        die ACCORD- Anfragebeantwortung „Zwangsrekrutierungsmaßnahmen der Taliban“ vom 13.08.2018 sowie

?        die aktuellen COVID-19 Zahlen zu Afghanistan,

werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1      Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Usbeken an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX , welches im Distrikt XXXX , in der afghanischen Provinz Faryab liegt, wo er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan lebte. Seine Eltern befinden sich noch im Herkunftsdorf. Der ältere Bruder des Beschwerdeführers lebt im Iran. In Afghanistan leben weitere Verwandte des Beschwerdeführers. Es kann nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer in Kontakt zu seinen Eltern steht.

Die finanzielle Situation der Familie ist gut, da ein Wohnhaus und Grundstücke im Eigentum der Kernfamilie des Beschwerdeführers stehen.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine zumindest fünfjährige Schulbildung. Im Iran und in der Türkei arbeitete der Beschwerdeführer als Hilfsarbeiter. In Österreich absolvierte der Beschwerdeführer eine Lehre als Koch.

Der Beschwerdeführer ist volljährig, gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig.

Der Beschwerdeführer ist unbescholten.

2.2      Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer wurde weder von den Taliban noch von den Daesh (IS) persönlich angesprochen und zur Zusammenarbeit aufgefordert.

Der Beschwerdeführer wurde nicht von den Taliban und/oder den Daesh beauftragt, Informationen über die Polizei zu beschaffen bzw. für sie zu spionieren oder einen Brief ins Nachbardorf zuzustellen.

Der Beschwerdeführer wurde nicht von Taliban und/oder den Daesh persönlich bedroht oder verfolgt.

Ob die Taliban oder andere radikale Gruppierungen in der Schule des Beschwerdeführers versuchten, die Schüler zu rekrutieren, kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer wurde nicht aufgrund der Tätigkeit seiner Eltern als Lehrer bedroht oder verfolgt.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen konkreter Verfolgungs- oder Lebensgefahr iSd GFK verlassen.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan gemeinsam mit seinem Cousin und reiste schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 19.03.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Wie lang die Reise nach Österreich gedauert hat, kann nicht festgestellt werden.

2.3      Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich seit über fünf Jahren durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 19.03.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer hat nahe Bezugspersonen in Österreich. Zu seinen Arbeitgebern, welche er als seine „Eltern“ bezeichnet, hat er eine vertrauensvolle Beziehung und sie verbringen regelmäßig ihre Freizeit miteinander. Zwischen der „Patenmutter“ XXXX und dem Beschwerdeführer besteht eine vertrauensvolle, quasifamiliäre Beziehung, die deutlich über die übliche Beziehung zwischen einer Arbeitgeberin und ihrem Arbeitnehmer hinausgeht.

Der Beschwerdeführer ist sehr gut in Österreich integriert und verfügt über Deutschkenntnisse auf B1-Niveau. Er besuchte in Österreich diverse Deutsch- und Integrationskurse und engagierte sich ehrenamtlich.

Der Beschwerdeführer ist selbsterhaltungsfähig. Er absolvierte vom 14.12.2017 bis 30.11.2020 im Familienbetrieb seiner „Pateneltern“, der XXXX , eine Lehre als Koch. Seit 01.12.2020 ist der Beschwerdeführer in seinem ehemaligen Lehrbetrieb als Vollzeitarbeitskraft beschäftigt.

Er verfügt weiters über Freunde in Österreich.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich ein schützenswertes Privatleben iSd. Art 8 EMRK.

2.4      Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan weder aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Volksgruppenzugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von anderen Personen oder Gruppen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer aufgrund der Tätigkeit seiner Eltern als Lehrer weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in die körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban, der Daesh oder durch andere Personen.

Der Beschwerdeführer wäre auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung des Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, insbesondere durch Zwangsrekrutierung, durch einen konkreten Akteur ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts im Iran und in einem westlichen Land oder wegen einer (allenfalls unterstellten) pro-westlichen Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Es liegt keine „westliche“ Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden wäre.

Der Beschwerdeführer kann daher nach Afghanistan zurückkehren.

Seine Herkunftsprovinz Faryab ist eine der unsicheren Provinzen des Landes, wo die Taliban häufig Angriffe gegen Zivilisten, Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte durchführen. Der Herkunftsdistrikt des Beschwerdeführers, steht nach Einschätzung des Long War Journal im Oktober 2020 unter Talibankontrolle. Die Provinz Faryab zählte zu den Provinzen mit der höchsten Anzahl an zivilen Opfern. Die allgemeine Sicherheitslage ist volatil, und die sichere Erreichbarkeit der Herkunftsprovinz kann nicht gewährleistet werden. Es kann daher nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit droht, sodass ihm eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz nicht möglich ist.

Dem Beschwerdeführer stehen zumindest die Städte Kabul und Mazar-e Sharif als innerstaatliche Fluchtalternativen zur Verfügung. Die Stadt Herat steht nicht als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

Der Beschwerdeführer verfügt über ein nutzbares familiäres und soziales Netzwerk in Afghanistan und kann mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit finanzieller Unterstützung seiner Familie rechnen. Ein Onkel des Beschwerdeführers lebt in Kabul. Er könnte daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei seinem Onkel zumindest vorübergehend unterkommen, sodass die grundlegendsten Bedürfnisse des Beschwerdeführers mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit befriedigt werden könnten, bis er eine Arbeit gefunden hat, die seiner Qualifikation entspricht, und er sich selbst versorgen kann. Der Beschwerdeführer verfügt über eine fünfjährige Schulbildung und trotz seines jungen Alters über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Koch und über eine mehrjährige Arbeitserfahrung. Er ist gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig. Durch die vergleichsweise gute finanzielle Situation seiner Familie ist der Beschwerdeführer nicht sofort auf eine Arbeit angewiesen, sodass seine grundlegendsten Bedürfnisse mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit befriedigt werden können.

Die Stadt Kabul ist unter Regierungskontrolle, dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe statt. Im letzten Quartal des Jahres 2019 sowie in den ersten Monaten des Jahres 2020 wurden in der Hauptstadt weniger Anschläge verübt. Seit dem zweiten Quartal 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen. Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen, sodass die Anreise sicher erfolgen kann.

Die Sicherheitslage sowohl in Herat als auch in Mazar-e Sharif kann nicht gänzlich isoliert von den anderen Distrikten der Provinzen Herat und Balkh betrachtet werden. Die Sicherheitslage hat sich sowohl in der Provinz Herat als auch insbesondere in der Provinz Balkh in den letzten Jahren stetig verschlechtert. Auch in Herat-Stadt und in Mazar-e Sharif wurde eine Verschlechterung der Sicherheitslage in den letzten Jahren dokumentiert. Trotz des Anstiegs der Kriminalität und der sicherheitsrelevanten Vorfälle gelten diese Städte noch als vergleichsweise sicher. Beide Städte verfügen über internationale Flughäfen. Die Anreise nach Mazar-e Sharif kann weitgehend gefahrfrei erfolgen. Bezüglich Herat kann aufgrund divergierender Berichte nicht festgestellt werden, ob die Anreise vom Flughafen in die Stadt ausreichend sicher erfolgen kann.

Die Wohnraum-, Arbeitsmarkt- und Versorgungslage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif waren bereits vor der Covid-19 Pandemie angespannt. Die sozioökonomischen Auswirkungen von Covid-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit. Die Preisanstiege für Lebensmittel scheinen seit April 2020 zwar nachgelassen zu haben, wobei die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) zwischen März und November 2020 deutlich (um 18-31%) gestiegen sind. Laut Prognose des FEWS befindet sich die Versorgungslage in Mazar-e Sharif im Zeitraum Februar 2021 bis Mai 2021 in der zweitniedrigsten Stufe 2 „stressed“ (Stufe 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“) des Klassifizierungssystems für Nahrungsmittelversorgung und wurde von Stufe 3 „Krise“ zurückgestuft.

Laut Prognose des FEWS befindet sich Herat im Zeitraum Februar 2021 bis Mai 2021 in der Stufe 3 des Klassifizierungssystems für Nahrungsmittelversorgung. In Stufe 3, auch „Crisis“ genannt, weisen Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung auf oder sind nur geringfügig in der Lage, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken – und dies nur indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien. Die Nahrungsmittelversorgung hat sich verschlechtert und wurde von Stufe 2 „stressed“ wieder auf Stufe 3 hinaufgestuft.

Am Arbeitsmarkt war es zwar schwierig, da eine große Anzahl an Menschen aus verschiedensten Regionen insbesondere nach Mazar-e Sharif kommen, die größtenteils ebenfalls auf Arbeitssuche sind, aber insbesondere im Bereich der Gelegenheitsarbeiten ohne besondere Vorkenntnisse möglich, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und auf diese Weise ein Einkommen auf dem dort üblichen Niveau zu erzielen. Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. In der Stadt Herat sind die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung Tagelöhner, welche Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt in besonderem Ausmaß ausgesetzt sind. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne verfügbare Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig.

Der Beschwerdeführer verfügt zwar über keine Ortskenntnisse in Kabul oder Mazar-e Sharif, er ist allerdings außergewöhnlich anpassungsfähig, da er sich trotz seines jungen Alters nach der Ausreise aus Afghanistan, im Iran, in der Türkei und letztlich in Österreich, ohne entsprechende Sprachkenntnisse behaupten konnte. Er verfügt durch seinen langjährigen Aufenthalt in Österreich über mehr Lebenserfahrung sowie eine abgeschlossene Berufsausbildung und Arbeitserfahrung als Koch. Diese Fertigkeiten werden ihm insbesondere in der aktuell angespannten Situation behilflich sein, um ein geregeltes Einkommen zu sichern.

Nach Ansicht des Gerichtes wäre der Beschwerdeführer, aufgrund seiner individuellen Verhältnisse, trotz der aktuell angespannten Wirtschaftslage im Stande, sich grundsätzlich und auch in der derzeitigen Situation selbstständig eine Existenz in Afghanistan aufzubauen. Wie von UNHCR gefordert, wäre der notwendige Zugang zu Nahrungsmitteln, einer Arbeit, einer Unterkunft und zu medizinsicher Versorgung, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten, durch die finanzielle Unterstützung seiner Familie, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit für den Beschwerdeführer gewährleistet. Das erkennende Gericht geht davon aus, dass er in den genannten Städten ein Leben ohne unbillige Härte führen können wird und nicht in eine ausweglose Situation geraten würde.

Ausgehend von aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und der Berichte des EASO aus Juni 2019 und Dezember 2020 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, ist dem Beschwerdeführer aufgrund seiner individuellen Verhältnisse eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere eine Ansiedlung in Kabul oder Mazar-e Sharif zumutbar.

2.5      Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB) mit den dort zitierten Quellen

-        die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018,

-        die EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis (Juni 2019 und Dezember 2020),

-        das ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020,

-        die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020,

-        die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020,

-        die ACCORD- Anfragebeantwortung „Zwangsrekrutierungsmaßnahmen der Taliban“ vom 13.08.2018 sowie

-        die aktuellen COVID-19 Zahlen zu Afghanistan

2.5.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).

2.5.1.1 Aktuelle Entwicklungen:

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).

2.5.1.2 COVID-19:

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf, einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren.

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 11.03.2021 55.917 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 2.451 Tote. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

2.5.2   Allgemeine Wirtschaftslage:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze.

Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Auswirkungen von Covid-19 und der damit einhergehende Lockdown hatten katastrophale Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der afghanischen Bürger. Aufgrund des Lockdowns verloren viele Menschen Arbeit und Einkommen. Die Inflation der Preise bei Grundnahrungsmitteln wie Öl und Kartoffeln verschärfte die wirtschaftliche Notlage eines erheblichen Teils der afghanischen Bevölkerung. Nach Angaben des Biruni-Instituts haben sechs Millionen Menschen aufgrund der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren (ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020)

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 22).

Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst. Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind (LIB, Kapitel 3 und 22).

Gemäß dem INFORM-COVID-19-Risk-Index der Europäischen Kommission ist Afghanistan das Land mit dem fünfthöchsten Risiko von 190 untersuchten Ländern (nach der Zentralafrikanischen Republik, Somalia, Südsudan und Tschad). Dieser Index bewertet Länder anhand dessen, wie sehr sie von humanitären Krisen und Katastrophen betroffen sind und welche Kapazitäten sie haben, um diese zu bewältigen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 06.07.2020).

Die Weltbank geht in einem jüngst veröffentlichten Bericht davon aus, dass die Armutsrate im Jahr 2020 auf über 72 % steigen wird. Grund seien die wegen der Corona-Krise gesunkenen Einkommen bei gleichzeitig steigenden Lebensmittelpreisen. Die Aussichten für die afghanische Wirtschaft seien düster. Präsident Ghani geht davon aus, dass geschätzte 90% der Bevölkerung unterhalb der Armutsrate von 2 US-Dollar pro Tag leben (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 20.07.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 22).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Tagelöhners in Afghanistan variiert zwischen 100 AFN und 400 AFN pro Tag (LIB, Kapitel 22).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.). Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).

2.5.3   Medizinische Versorgung:

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden (LIB, Kapitel 23).

Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (LIB, Kapitel 23).

Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab - mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. WHO und USAID zählten zwischen Jänner und August 2020 30 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen (LIB, Kapitel 23).

Das Jebrael-Gesundheitszentrum im Nordwesten der Stadt Herat bietet für rund 60.000 Menschen im dicht besiedelten Gebiet mit durchschnittlich 300 Besuchern pro Tag grundlegende Gesundheitsdienste an. Laut dem Provinzdirektor für Gesundheit in Herat verfügte die Stadt im April

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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